das Bewußte, die Erkenntniß allemal wesentlich mitsinken muß, und Irrthum, ja bis zur vollen Geisteskrank¬ heit, mehr und mehr eindringen kann, während eine höhere Leidenschaft die Seele in vieler Beziehung reift und fördert, und oftmals der wichtigste Hebel wird, um die geistige Entwickelung irgend einer Individualität zu fördern. Je geringer, je unwürdiger also das Ziel ist, welchem der in einer dieser Suchten Befangene nachstrebt, desto herab¬ würdigender und zerstörender wird sie auf das Seelenleben wirken. So ist daher die Trunksucht, die Spielsucht weit zerstörender als etwa die Ehrsucht, als bei welcher die Thatkraft doch immer auf eigenthümliche Weise ange¬ spannt zu werden pflegt, während in der erstern Richtung Gefühl, Wille und Erkenntniß nach und nach rettungslos untergehen, und das, was früher etwa noch bloß Neigung zum Genusse genannt werden kann, späterhin in einem wahren Bann untergehen muß.
Ist nun in so fern dieses Verhältniß deutlich geworden, so bedarf es doch auch noch in Bezug auf das, was wir im höhern Sinne Leidenschaft genannt haben, einer besondern Erörterung. Erwägen wir nämlich auch diese Zustände genauer, so müssen wir bald wahrnehmen, daß auch hier das Ziel nicht ganz allein die Gesundheit der Liebe bedingen kann. Das schlagendste Beispiel dieser Art wird sogleich die höchste Form der Liebe, die Liebe zu Gott gewähren. In dem geheiligten Gemüth, welches durch und durch nur in der Liebe gegen das höchste göttliche Mysterium erglüht, welches deßhalb die Qualen des Da¬ seins und der Unzulänglichkeit aller ihrer menschlichen Be¬ strebungen, neben der Seeligkeit jener Empfindung, mit anhaltendem Schmerz erfüllen, wird nämlich allerdings die ganze Schönheit jenes Pathos mit wahrer Vollendung her¬ vortreten aber zu welcher Karrikatur, zu welcher Verirrung, zu welcher völligen Geisteskrankheit kann nicht auch diese Liebe führen und hat nicht schon oft wirk¬
das Bewußte, die Erkenntniß allemal weſentlich mitſinken muß, und Irrthum, ja bis zur vollen Geiſteskrank¬ heit, mehr und mehr eindringen kann, während eine höhere Leidenſchaft die Seele in vieler Beziehung reift und fördert, und oftmals der wichtigſte Hebel wird, um die geiſtige Entwickelung irgend einer Individualität zu fördern. Je geringer, je unwürdiger alſo das Ziel iſt, welchem der in einer dieſer Suchten Befangene nachſtrebt, deſto herab¬ würdigender und zerſtörender wird ſie auf das Seelenleben wirken. So iſt daher die Trunkſucht, die Spielſucht weit zerſtörender als etwa die Ehrſucht, als bei welcher die Thatkraft doch immer auf eigenthümliche Weiſe ange¬ ſpannt zu werden pflegt, während in der erſtern Richtung Gefühl, Wille und Erkenntniß nach und nach rettungslos untergehen, und das, was früher etwa noch bloß Neigung zum Genuſſe genannt werden kann, ſpäterhin in einem wahren Bann untergehen muß.
Iſt nun in ſo fern dieſes Verhältniß deutlich geworden, ſo bedarf es doch auch noch in Bezug auf das, was wir im höhern Sinne Leidenſchaft genannt haben, einer beſondern Erörterung. Erwägen wir nämlich auch dieſe Zuſtände genauer, ſo müſſen wir bald wahrnehmen, daß auch hier das Ziel nicht ganz allein die Geſundheit der Liebe bedingen kann. Das ſchlagendſte Beiſpiel dieſer Art wird ſogleich die höchſte Form der Liebe, die Liebe zu Gott gewähren. In dem geheiligten Gemüth, welches durch und durch nur in der Liebe gegen das höchſte göttliche Myſterium erglüht, welches deßhalb die Qualen des Da¬ ſeins und der Unzulänglichkeit aller ihrer menſchlichen Be¬ ſtrebungen, neben der Seeligkeit jener Empfindung, mit anhaltendem Schmerz erfüllen, wird nämlich allerdings die ganze Schönheit jenes Pathos mit wahrer Vollendung her¬ vortreten aber zu welcher Karrikatur, zu welcher Verirrung, zu welcher völligen Geiſteskrankheit kann nicht auch dieſe Liebe führen und hat nicht ſchon oft wirk¬
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><divn="3"><divn="4"><p><pbfacs="#f0319"n="303"/>
das Bewußte, die Erkenntniß allemal weſentlich mitſinken<lb/>
muß, und Irrthum, <hirendition="#g">ja bis zur vollen Geiſteskrank¬<lb/>
heit</hi>, mehr und mehr eindringen kann, während eine höhere<lb/>
Leidenſchaft die Seele in vieler Beziehung reift und fördert,<lb/>
und oftmals der wichtigſte Hebel wird, um die geiſtige<lb/>
Entwickelung irgend einer Individualität zu fördern. Je<lb/>
geringer, je unwürdiger alſo das Ziel iſt, welchem der in<lb/>
einer dieſer <hirendition="#g">Suchten</hi> Befangene nachſtrebt, deſto herab¬<lb/>
würdigender und zerſtörender wird ſie auf das Seelenleben<lb/>
wirken. So iſt daher die <hirendition="#g">Trunkſucht</hi>, die <hirendition="#g">Spielſucht</hi><lb/>
weit zerſtörender als etwa die <hirendition="#g">Ehrſucht</hi>, als bei welcher<lb/>
die Thatkraft doch immer auf eigenthümliche Weiſe ange¬<lb/>ſpannt zu werden pflegt, während in der erſtern Richtung<lb/>
Gefühl, Wille und Erkenntniß nach und nach rettungslos<lb/>
untergehen, und das, was früher etwa noch bloß <hirendition="#g">Neigung</hi><lb/>
zum Genuſſe genannt werden kann, ſpäterhin in einem<lb/>
wahren <hirendition="#g">Bann</hi> untergehen muß.</p><lb/><p>Iſt nun in ſo fern dieſes Verhältniß deutlich geworden,<lb/>ſo bedarf es doch auch noch in Bezug auf das, was wir<lb/>
im <hirendition="#g">höhern Sinne</hi> Leidenſchaft genannt haben, einer<lb/>
beſondern Erörterung. Erwägen wir nämlich auch dieſe<lb/>
Zuſtände genauer, ſo müſſen wir bald wahrnehmen, daß<lb/>
auch hier das Ziel <hirendition="#g">nicht ganz allein</hi> die Geſundheit<lb/>
der Liebe bedingen kann. Das ſchlagendſte Beiſpiel dieſer<lb/>
Art wird ſogleich die höchſte Form der Liebe, die Liebe zu<lb/>
Gott gewähren. In dem geheiligten Gemüth, welches durch<lb/>
und durch nur in der Liebe gegen das höchſte göttliche<lb/>
Myſterium erglüht, welches deßhalb die Qualen des Da¬<lb/>ſeins und der Unzulänglichkeit aller ihrer menſchlichen Be¬<lb/>ſtrebungen, neben der Seeligkeit jener Empfindung, mit<lb/>
anhaltendem Schmerz erfüllen, wird nämlich allerdings die<lb/>
ganze Schönheit jenes Pathos mit wahrer Vollendung her¬<lb/>
vortreten aber zu welcher Karrikatur, zu welcher Verirrung,<lb/><hirendition="#g">zu welcher völligen Geiſteskrankheit</hi> kann nicht<lb/>
auch <hirendition="#g">dieſe</hi> Liebe führen und hat nicht ſchon oft wirk¬<lb/></p></div></div></div></div></body></text></TEI>
[303/0319]
das Bewußte, die Erkenntniß allemal weſentlich mitſinken
muß, und Irrthum, ja bis zur vollen Geiſteskrank¬
heit, mehr und mehr eindringen kann, während eine höhere
Leidenſchaft die Seele in vieler Beziehung reift und fördert,
und oftmals der wichtigſte Hebel wird, um die geiſtige
Entwickelung irgend einer Individualität zu fördern. Je
geringer, je unwürdiger alſo das Ziel iſt, welchem der in
einer dieſer Suchten Befangene nachſtrebt, deſto herab¬
würdigender und zerſtörender wird ſie auf das Seelenleben
wirken. So iſt daher die Trunkſucht, die Spielſucht
weit zerſtörender als etwa die Ehrſucht, als bei welcher
die Thatkraft doch immer auf eigenthümliche Weiſe ange¬
ſpannt zu werden pflegt, während in der erſtern Richtung
Gefühl, Wille und Erkenntniß nach und nach rettungslos
untergehen, und das, was früher etwa noch bloß Neigung
zum Genuſſe genannt werden kann, ſpäterhin in einem
wahren Bann untergehen muß.
Iſt nun in ſo fern dieſes Verhältniß deutlich geworden,
ſo bedarf es doch auch noch in Bezug auf das, was wir
im höhern Sinne Leidenſchaft genannt haben, einer
beſondern Erörterung. Erwägen wir nämlich auch dieſe
Zuſtände genauer, ſo müſſen wir bald wahrnehmen, daß
auch hier das Ziel nicht ganz allein die Geſundheit
der Liebe bedingen kann. Das ſchlagendſte Beiſpiel dieſer
Art wird ſogleich die höchſte Form der Liebe, die Liebe zu
Gott gewähren. In dem geheiligten Gemüth, welches durch
und durch nur in der Liebe gegen das höchſte göttliche
Myſterium erglüht, welches deßhalb die Qualen des Da¬
ſeins und der Unzulänglichkeit aller ihrer menſchlichen Be¬
ſtrebungen, neben der Seeligkeit jener Empfindung, mit
anhaltendem Schmerz erfüllen, wird nämlich allerdings die
ganze Schönheit jenes Pathos mit wahrer Vollendung her¬
vortreten aber zu welcher Karrikatur, zu welcher Verirrung,
zu welcher völligen Geiſteskrankheit kann nicht
auch dieſe Liebe führen und hat nicht ſchon oft wirk¬
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Sie haben einen Fehler gefunden?
Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform
DTAQ melden.
Kommentar zur DTA-Ausgabe
Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend
gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien
von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem
DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.
Carus, Carl Gustav: Psyche. Zur Entwicklungsgeschichte der Seele. Pforzheim, 1846, S. 303. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/carus_psyche_1846/319>, abgerufen am 22.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.