irgend eine Erkenntniß der Erscheinungen und ihres We¬ sens eigenthümlich sein müßte. Sprechen wir daher von Verstand und Vernunft als Besondern und Einzelnen, wie sie zuhöchst die Erkenntniß bedingen, so müssen wir immer bedenken, daß hier nur das Vorwaltende in gewissen Richtungen des Seelenlebens ins Auge gefaßt werde, daß aber nie von einem specifisch Verschiedenen und ganz Ab¬ gesonderten die Rede sein könne. Ja, es kann hier sogleich beigesetzt werden, daß, geschweige daß nicht die Phantasie von der Erkenntniß getrennt werden kann, auch die höhern positiven Gefühle der Freude und Liebe sich nicht von ihr trennen lassen. Plato sagt sehr schön, daß alle Philosophie (in dem Worte schon begriffen übrigens die Griechen die Liebe mit ein, als Liebe der Weisheit) mit dem Bewundern anfangen müsse, und spricht damit aus, daß jenes freudige Erstaunen der Seele über den eingeborenen liebevollen Zug unsers Wesens gegen das möglichst tiefe Vernehmen an¬ derer Ideen, zur wesentlichen Quelle für alle höhere Er¬ kenntniß werde.
Geht man nun genauer im Einzelnen nach, wie die Erkenntniß allmählig im Geiste sich entwickelt, so muß man eine wichtige Thatsache vor Allem schärfer ins Auge fassen, nämlich wie alle Erkenntniß voraussetzt, daß ein gewisser Numerus, ein geistiges Aequivalent für Erscheinung sowohl als Idee gefunden sei, wodurch zwischen diesen beiden für's erste so disparaten Objecten eine Vermittelung und ein Verständniß sich ergeben könnte. Dieser Numerus, dieses Aequivalent ist -- die Sprache. Erscheinung und Idee liegen, obwohl eins das andere bedingt, scheinbar so un¬ geheuer auseinander, daß wir unmöglich im Stande sein würden, beide im Geiste zusammen zu fassen und damit zu gebahren, wenn nicht das Wort dazwischen träte, das Wort, welches gebildet wird aus dem Klange, d. h. dem tief innerlichen Erzittern eines Dinges, in welcher inner¬ lichsten geheimsten Bewegung eben die Art des Wesens die¬
irgend eine Erkenntniß der Erſcheinungen und ihres We¬ ſens eigenthümlich ſein müßte. Sprechen wir daher von Verſtand und Vernunft als Beſondern und Einzelnen, wie ſie zuhöchſt die Erkenntniß bedingen, ſo müſſen wir immer bedenken, daß hier nur das Vorwaltende in gewiſſen Richtungen des Seelenlebens ins Auge gefaßt werde, daß aber nie von einem ſpecifiſch Verſchiedenen und ganz Ab¬ geſonderten die Rede ſein könne. Ja, es kann hier ſogleich beigeſetzt werden, daß, geſchweige daß nicht die Phantaſie von der Erkenntniß getrennt werden kann, auch die höhern poſitiven Gefühle der Freude und Liebe ſich nicht von ihr trennen laſſen. Plato ſagt ſehr ſchön, daß alle Philoſophie (in dem Worte ſchon begriffen übrigens die Griechen die Liebe mit ein, als Liebe der Weisheit) mit dem Bewundern anfangen müſſe, und ſpricht damit aus, daß jenes freudige Erſtaunen der Seele über den eingeborenen liebevollen Zug unſers Weſens gegen das möglichſt tiefe Vernehmen an¬ derer Ideen, zur weſentlichen Quelle für alle höhere Er¬ kenntniß werde.
Geht man nun genauer im Einzelnen nach, wie die Erkenntniß allmählig im Geiſte ſich entwickelt, ſo muß man eine wichtige Thatſache vor Allem ſchärfer ins Auge faſſen, nämlich wie alle Erkenntniß vorausſetzt, daß ein gewiſſer Numerus, ein geiſtiges Aequivalent für Erſcheinung ſowohl als Idee gefunden ſei, wodurch zwiſchen dieſen beiden für's erſte ſo diſparaten Objecten eine Vermittelung und ein Verſtändniß ſich ergeben könnte. Dieſer Numerus, dieſes Aequivalent iſt — die Sprache. Erſcheinung und Idee liegen, obwohl eins das andere bedingt, ſcheinbar ſo un¬ geheuer auseinander, daß wir unmöglich im Stande ſein würden, beide im Geiſte zuſammen zu faſſen und damit zu gebahren, wenn nicht das Wort dazwiſchen träte, das Wort, welches gebildet wird aus dem Klange, d. h. dem tief innerlichen Erzittern eines Dinges, in welcher inner¬ lichſten geheimſten Bewegung eben die Art des Weſens die¬
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><divn="3"><p><pbfacs="#f0348"n="332"/>
irgend eine Erkenntniß der Erſcheinungen und ihres We¬<lb/>ſens eigenthümlich ſein müßte. Sprechen wir daher von<lb/>
Verſtand und Vernunft als Beſondern und Einzelnen, wie<lb/>ſie zuhöchſt die Erkenntniß bedingen, ſo müſſen wir immer<lb/>
bedenken, daß hier nur das <hirendition="#g">Vorwaltende</hi> in gewiſſen<lb/>
Richtungen des Seelenlebens ins Auge gefaßt werde, daß<lb/>
aber nie von einem ſpecifiſch Verſchiedenen und ganz Ab¬<lb/>
geſonderten die Rede ſein könne. Ja, es kann hier ſogleich<lb/>
beigeſetzt werden, daß, geſchweige daß nicht die Phantaſie<lb/>
von der Erkenntniß getrennt werden kann, auch die höhern<lb/>
poſitiven Gefühle der Freude und Liebe ſich nicht von ihr<lb/>
trennen laſſen. Plato ſagt ſehr ſchön, daß alle Philoſophie<lb/>
(in dem Worte ſchon begriffen übrigens die Griechen die<lb/><hirendition="#g">Liebe</hi> mit ein, als Liebe der Weisheit) mit dem Bewundern<lb/>
anfangen müſſe, und ſpricht damit aus, daß jenes freudige<lb/>
Erſtaunen der Seele über den eingeborenen liebevollen Zug<lb/>
unſers Weſens gegen das möglichſt tiefe Vernehmen an¬<lb/>
derer Ideen, zur weſentlichen Quelle für alle höhere Er¬<lb/>
kenntniß werde.</p><lb/><p>Geht man nun genauer im Einzelnen nach, wie die<lb/>
Erkenntniß allmählig im Geiſte ſich entwickelt, ſo muß man<lb/>
eine wichtige Thatſache vor Allem ſchärfer ins Auge faſſen,<lb/>
nämlich wie alle Erkenntniß vorausſetzt, daß ein gewiſſer<lb/>
Numerus, ein geiſtiges Aequivalent für Erſcheinung ſowohl<lb/>
als Idee gefunden ſei, wodurch zwiſchen dieſen beiden für's<lb/>
erſte ſo diſparaten Objecten eine Vermittelung und ein<lb/>
Verſtändniß ſich ergeben könnte. Dieſer Numerus, dieſes<lb/>
Aequivalent iſt — die <hirendition="#g">Sprache</hi>. Erſcheinung und Idee<lb/>
liegen, obwohl eins das andere bedingt, ſcheinbar ſo un¬<lb/>
geheuer auseinander, daß wir unmöglich im Stande ſein<lb/>
würden, beide im Geiſte zuſammen zu faſſen und damit<lb/>
zu gebahren, wenn nicht das <hirendition="#g">Wort</hi> dazwiſchen träte, das<lb/>
Wort, welches gebildet wird aus dem Klange, d. h. dem<lb/>
tief innerlichen Erzittern eines Dinges, in welcher inner¬<lb/>
lichſten geheimſten Bewegung eben die Art des Weſens die¬<lb/></p></div></div></div></body></text></TEI>
[332/0348]
irgend eine Erkenntniß der Erſcheinungen und ihres We¬
ſens eigenthümlich ſein müßte. Sprechen wir daher von
Verſtand und Vernunft als Beſondern und Einzelnen, wie
ſie zuhöchſt die Erkenntniß bedingen, ſo müſſen wir immer
bedenken, daß hier nur das Vorwaltende in gewiſſen
Richtungen des Seelenlebens ins Auge gefaßt werde, daß
aber nie von einem ſpecifiſch Verſchiedenen und ganz Ab¬
geſonderten die Rede ſein könne. Ja, es kann hier ſogleich
beigeſetzt werden, daß, geſchweige daß nicht die Phantaſie
von der Erkenntniß getrennt werden kann, auch die höhern
poſitiven Gefühle der Freude und Liebe ſich nicht von ihr
trennen laſſen. Plato ſagt ſehr ſchön, daß alle Philoſophie
(in dem Worte ſchon begriffen übrigens die Griechen die
Liebe mit ein, als Liebe der Weisheit) mit dem Bewundern
anfangen müſſe, und ſpricht damit aus, daß jenes freudige
Erſtaunen der Seele über den eingeborenen liebevollen Zug
unſers Weſens gegen das möglichſt tiefe Vernehmen an¬
derer Ideen, zur weſentlichen Quelle für alle höhere Er¬
kenntniß werde.
Geht man nun genauer im Einzelnen nach, wie die
Erkenntniß allmählig im Geiſte ſich entwickelt, ſo muß man
eine wichtige Thatſache vor Allem ſchärfer ins Auge faſſen,
nämlich wie alle Erkenntniß vorausſetzt, daß ein gewiſſer
Numerus, ein geiſtiges Aequivalent für Erſcheinung ſowohl
als Idee gefunden ſei, wodurch zwiſchen dieſen beiden für's
erſte ſo diſparaten Objecten eine Vermittelung und ein
Verſtändniß ſich ergeben könnte. Dieſer Numerus, dieſes
Aequivalent iſt — die Sprache. Erſcheinung und Idee
liegen, obwohl eins das andere bedingt, ſcheinbar ſo un¬
geheuer auseinander, daß wir unmöglich im Stande ſein
würden, beide im Geiſte zuſammen zu faſſen und damit
zu gebahren, wenn nicht das Wort dazwiſchen träte, das
Wort, welches gebildet wird aus dem Klange, d. h. dem
tief innerlichen Erzittern eines Dinges, in welcher inner¬
lichſten geheimſten Bewegung eben die Art des Weſens die¬
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Sie haben einen Fehler gefunden?
Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform
DTAQ melden.
Kommentar zur DTA-Ausgabe
Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend
gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien
von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem
DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.
Carus, Carl Gustav: Psyche. Zur Entwicklungsgeschichte der Seele. Pforzheim, 1846, S. 332. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/carus_psyche_1846/348>, abgerufen am 22.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.