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Carus, Carl Gustav: Psyche. Zur Entwicklungsgeschichte der Seele. Pforzheim, 1846.

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ken jenes Untergehen in das plastisch verharrende Schöne
weniger angemessen ist, sondern er gibt auch nähere An¬
deutung darüber, warum gewisse theils mehr auf Reaction,
theils mehr auf Production gerichtete Eigenthümlichkeiten
mit einer höhern Erkenntniß durchaus nicht stimmen. Jeder
fühlt unmittelbar, warum die Gestalt eines farnesischen
Herkules ganz unmöglich zu vereinen ist mit einer Seele,
welche im Geiste die höhere philosophische Erkenntniß errun¬
gen hat, und bedeutungsvoll genug ist in dieser Beziehung
schon die Mythe vom Herakles selbst, als welcher mit all
seiner derben Gewalt doch der Sklave eines schwachen Man¬
nes blieb und nur aufgetragene Arbeiten ausführen konnte.
Eben so ist es mit der leiblichen Productivität. Es ist
außerordentlich was namentlich die Seherkunst der Dichter
hierüber schon mit Bestimmtheit ausgesagt hat, ohne irgend
nähere wissenschaftliche Construction. Eine der schärfsten
Stellen hierüber ist die bekannte in Shakespeare's Julius
Cäsar, wo Cäsar vom Cassius sagt:

"Laßt wohlbeleibte Männer um mich sein,
Mit glatten Köpfen und die Nachts gut schlafen,
Der Cassius dort hat einen hohlen Blick,
Er denkt zu viel: die Leute sind gefährlich."

Denn wer sollte auf den ersten Blick glauben, daß
stärkere oder schwächere Ablagerung von Fett und Zellge¬
webe mit niedrigerer oder höherer Erkenntniß in Beziehung
stehen könnte, und doch ist es so! ja, was sonst ist denn
die Ursache, daß die weibliche Seele verhältnißmäßig we¬
niger für höhere Erkenntniß sich eignet als die männliche,
als daß der weibliche Organismus mehr der unbewußten
leiblichen Productivität bestimmt ist als der männliche.

Noch entschiedener und noch deutlicher als auf die Ge¬
staltungs-Vorgänge des unbewußten Lebens wirkt die Er¬
kenntniß auf die in Gefühle und Bewegungen ausgehenden
Lebenserscheinungen des Unbewußten. Eine höhere Erkennt¬
niß veredelt und erhöht, eine niedere Erkenntniß avilirt
und treibt ins Gemeine Alles was dem bildenden Leben

ken jenes Untergehen in das plaſtiſch verharrende Schöne
weniger angemeſſen iſt, ſondern er gibt auch nähere An¬
deutung darüber, warum gewiſſe theils mehr auf Reaction,
theils mehr auf Production gerichtete Eigenthümlichkeiten
mit einer höhern Erkenntniß durchaus nicht ſtimmen. Jeder
fühlt unmittelbar, warum die Geſtalt eines farneſiſchen
Herkules ganz unmöglich zu vereinen iſt mit einer Seele,
welche im Geiſte die höhere philoſophiſche Erkenntniß errun¬
gen hat, und bedeutungsvoll genug iſt in dieſer Beziehung
ſchon die Mythe vom Herakles ſelbſt, als welcher mit all
ſeiner derben Gewalt doch der Sklave eines ſchwachen Man¬
nes blieb und nur aufgetragene Arbeiten ausführen konnte.
Eben ſo iſt es mit der leiblichen Productivität. Es iſt
außerordentlich was namentlich die Seherkunſt der Dichter
hierüber ſchon mit Beſtimmtheit ausgeſagt hat, ohne irgend
nähere wiſſenſchaftliche Conſtruction. Eine der ſchärfſten
Stellen hierüber iſt die bekannte in Shakespeare's Julius
Cäſar, wo Cäſar vom Caſſius ſagt:

„Laßt wohlbeleibte Männer um mich ſein,
Mit glatten Köpfen und die Nachts gut ſchlafen,
Der Caſſius dort hat einen hohlen Blick,
Er denkt zu viel: die Leute ſind gefährlich.“

Denn wer ſollte auf den erſten Blick glauben, daß
ſtärkere oder ſchwächere Ablagerung von Fett und Zellge¬
webe mit niedrigerer oder höherer Erkenntniß in Beziehung
ſtehen könnte, und doch iſt es ſo! ja, was ſonſt iſt denn
die Urſache, daß die weibliche Seele verhältnißmäßig we¬
niger für höhere Erkenntniß ſich eignet als die männliche,
als daß der weibliche Organismus mehr der unbewußten
leiblichen Productivität beſtimmt iſt als der männliche.

Noch entſchiedener und noch deutlicher als auf die Ge¬
ſtaltungs-Vorgänge des unbewußten Lebens wirkt die Er¬
kenntniß auf die in Gefühle und Bewegungen ausgehenden
Lebenserſcheinungen des Unbewußten. Eine höhere Erkennt¬
niß veredelt und erhöht, eine niedere Erkenntniß avilirt
und treibt ins Gemeine Alles was dem bildenden Leben

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[352/0368] ken jenes Untergehen in das plaſtiſch verharrende Schöne weniger angemeſſen iſt, ſondern er gibt auch nähere An¬ deutung darüber, warum gewiſſe theils mehr auf Reaction, theils mehr auf Production gerichtete Eigenthümlichkeiten mit einer höhern Erkenntniß durchaus nicht ſtimmen. Jeder fühlt unmittelbar, warum die Geſtalt eines farneſiſchen Herkules ganz unmöglich zu vereinen iſt mit einer Seele, welche im Geiſte die höhere philoſophiſche Erkenntniß errun¬ gen hat, und bedeutungsvoll genug iſt in dieſer Beziehung ſchon die Mythe vom Herakles ſelbſt, als welcher mit all ſeiner derben Gewalt doch der Sklave eines ſchwachen Man¬ nes blieb und nur aufgetragene Arbeiten ausführen konnte. Eben ſo iſt es mit der leiblichen Productivität. Es iſt außerordentlich was namentlich die Seherkunſt der Dichter hierüber ſchon mit Beſtimmtheit ausgeſagt hat, ohne irgend nähere wiſſenſchaftliche Conſtruction. Eine der ſchärfſten Stellen hierüber iſt die bekannte in Shakespeare's Julius Cäſar, wo Cäſar vom Caſſius ſagt: „Laßt wohlbeleibte Männer um mich ſein, Mit glatten Köpfen und die Nachts gut ſchlafen, Der Caſſius dort hat einen hohlen Blick, Er denkt zu viel: die Leute ſind gefährlich.“ Denn wer ſollte auf den erſten Blick glauben, daß ſtärkere oder ſchwächere Ablagerung von Fett und Zellge¬ webe mit niedrigerer oder höherer Erkenntniß in Beziehung ſtehen könnte, und doch iſt es ſo! ja, was ſonſt iſt denn die Urſache, daß die weibliche Seele verhältnißmäßig we¬ niger für höhere Erkenntniß ſich eignet als die männliche, als daß der weibliche Organismus mehr der unbewußten leiblichen Productivität beſtimmt iſt als der männliche. Noch entſchiedener und noch deutlicher als auf die Ge¬ ſtaltungs-Vorgänge des unbewußten Lebens wirkt die Er¬ kenntniß auf die in Gefühle und Bewegungen ausgehenden Lebenserſcheinungen des Unbewußten. Eine höhere Erkennt¬ niß veredelt und erhöht, eine niedere Erkenntniß avilirt und treibt ins Gemeine Alles was dem bildenden Leben

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Zitationshilfe: Carus, Carl Gustav: Psyche. Zur Entwicklungsgeschichte der Seele. Pforzheim, 1846, S. 352. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/carus_psyche_1846/368>, abgerufen am 22.11.2024.