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Carus, Carl Gustav: Psyche. Zur Entwicklungsgeschichte der Seele. Pforzheim, 1846.

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fremd sind; eben so bestimmt überzeugt bin ich indeß, daß
selbstischen, bloß verstandesmäßig entwickelten Seelen der¬
gleichen schwerlich begegnet und eben deßhalb von ihnen
für Täuschung und Aberglauben betrachtet werden muß.
Jedenfalls ist indeß auch hier genau vor Augen zu be¬
halten, daß alle Erscheinungen solcher Ueberwirkungen nur
erklärlich werden, indem man den Gedanken festhält, es
sei die Menschheit in sich ein höherer ideeller Organismus,
ein Organismus, in welchem alle die besondern Indivi¬
dualitäten als Glieder eingeschlossen sind. Erst wenn das
eine Individuum zum andern in einem ähnlichen Verhält¬
nisse gedacht ist, wie im lebenden Körper ein Organ zum
andern, werden die letzterwähnten Ausstrahlungen eben so
wie die oben erwähnten Ansteckungen und Heilwirkungen
begreiflich.

Das letzte der hier zu betrachtenden Verhältnisse wird
nun sein, viertens, das Einwirken des Unbewußten
der einen Seele auf das Bewußte der andern
.
Eigentlich gehört dahin der ganze mächtige Eindruck, welchen
die durch unbewußtes Leben allein sich entwickelnde Gestal¬
tung des Organismus auf den bewußten Geist eines Andern
machen kann und vielfältigst wirklich macht. Alles, was
wir Körperform, Züge des Antlitzes, Blick des Auges
nennen, es ist ja nur die äußere Symbolik, wodurch das
Tiefinnerliche einer in diesen Gestaltungen unbewußt walten¬
den Idee sich ausspricht, und wie groß, wie in vieler Hin¬
sicht oft für ein ganzes Leben bestimmend, kann die Ein¬
wirkung sein, welche diese äußere ohne ihr Zuthun und
ohne ihr Wissen herangebildete Erscheinung einer Seele auf
die bewußte Region einer andern ausübt! Hierüber ist es
nicht nöthig, weitere Erläuterungen und Beispiele aufzu¬
führen. Es ist indeß nicht bloß die feste, bleibende Ge¬
staltung, es ist noch mehr vielleicht die stille, tiefe Er¬
zitterung unbewußter Gefühle, welche in dem Aeußern sich
spiegelt, welche im Ton der Stimme unbewußt anklingt,

fremd ſind; eben ſo beſtimmt überzeugt bin ich indeß, daß
ſelbſtiſchen, bloß verſtandesmäßig entwickelten Seelen der¬
gleichen ſchwerlich begegnet und eben deßhalb von ihnen
für Täuſchung und Aberglauben betrachtet werden muß.
Jedenfalls iſt indeß auch hier genau vor Augen zu be¬
halten, daß alle Erſcheinungen ſolcher Ueberwirkungen nur
erklärlich werden, indem man den Gedanken feſthält, es
ſei die Menſchheit in ſich ein höherer ideeller Organismus,
ein Organismus, in welchem alle die beſondern Indivi¬
dualitäten als Glieder eingeſchloſſen ſind. Erſt wenn das
eine Individuum zum andern in einem ähnlichen Verhält¬
niſſe gedacht iſt, wie im lebenden Körper ein Organ zum
andern, werden die letzterwähnten Ausſtrahlungen eben ſo
wie die oben erwähnten Anſteckungen und Heilwirkungen
begreiflich.

Das letzte der hier zu betrachtenden Verhältniſſe wird
nun ſein, viertens, das Einwirken des Unbewußten
der einen Seele auf das Bewußte der andern
.
Eigentlich gehört dahin der ganze mächtige Eindruck, welchen
die durch unbewußtes Leben allein ſich entwickelnde Geſtal¬
tung des Organismus auf den bewußten Geiſt eines Andern
machen kann und vielfältigſt wirklich macht. Alles, was
wir Körperform, Züge des Antlitzes, Blick des Auges
nennen, es iſt ja nur die äußere Symbolik, wodurch das
Tiefinnerliche einer in dieſen Geſtaltungen unbewußt walten¬
den Idee ſich ausſpricht, und wie groß, wie in vieler Hin¬
ſicht oft für ein ganzes Leben beſtimmend, kann die Ein¬
wirkung ſein, welche dieſe äußere ohne ihr Zuthun und
ohne ihr Wiſſen herangebildete Erſcheinung einer Seele auf
die bewußte Region einer andern ausübt! Hierüber iſt es
nicht nöthig, weitere Erläuterungen und Beiſpiele aufzu¬
führen. Es iſt indeß nicht bloß die feſte, bleibende Ge¬
ſtaltung, es iſt noch mehr vielleicht die ſtille, tiefe Er¬
zitterung unbewußter Gefühle, welche in dem Aeußern ſich
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[389/0405] fremd ſind; eben ſo beſtimmt überzeugt bin ich indeß, daß ſelbſtiſchen, bloß verſtandesmäßig entwickelten Seelen der¬ gleichen ſchwerlich begegnet und eben deßhalb von ihnen für Täuſchung und Aberglauben betrachtet werden muß. Jedenfalls iſt indeß auch hier genau vor Augen zu be¬ halten, daß alle Erſcheinungen ſolcher Ueberwirkungen nur erklärlich werden, indem man den Gedanken feſthält, es ſei die Menſchheit in ſich ein höherer ideeller Organismus, ein Organismus, in welchem alle die beſondern Indivi¬ dualitäten als Glieder eingeſchloſſen ſind. Erſt wenn das eine Individuum zum andern in einem ähnlichen Verhält¬ niſſe gedacht iſt, wie im lebenden Körper ein Organ zum andern, werden die letzterwähnten Ausſtrahlungen eben ſo wie die oben erwähnten Anſteckungen und Heilwirkungen begreiflich. Das letzte der hier zu betrachtenden Verhältniſſe wird nun ſein, viertens, das Einwirken des Unbewußten der einen Seele auf das Bewußte der andern. Eigentlich gehört dahin der ganze mächtige Eindruck, welchen die durch unbewußtes Leben allein ſich entwickelnde Geſtal¬ tung des Organismus auf den bewußten Geiſt eines Andern machen kann und vielfältigſt wirklich macht. Alles, was wir Körperform, Züge des Antlitzes, Blick des Auges nennen, es iſt ja nur die äußere Symbolik, wodurch das Tiefinnerliche einer in dieſen Geſtaltungen unbewußt walten¬ den Idee ſich ausſpricht, und wie groß, wie in vieler Hin¬ ſicht oft für ein ganzes Leben beſtimmend, kann die Ein¬ wirkung ſein, welche dieſe äußere ohne ihr Zuthun und ohne ihr Wiſſen herangebildete Erſcheinung einer Seele auf die bewußte Region einer andern ausübt! Hierüber iſt es nicht nöthig, weitere Erläuterungen und Beiſpiele aufzu¬ führen. Es iſt indeß nicht bloß die feſte, bleibende Ge¬ ſtaltung, es iſt noch mehr vielleicht die ſtille, tiefe Er¬ zitterung unbewußter Gefühle, welche in dem Aeußern ſich ſpiegelt, welche im Ton der Stimme unbewußt anklingt,

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Zitationshilfe: Carus, Carl Gustav: Psyche. Zur Entwicklungsgeschichte der Seele. Pforzheim, 1846, S. 389. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/carus_psyche_1846/405>, abgerufen am 22.11.2024.