hat auf geistige Entwicklung der Seele. Man darf sagen: daß, wie in sich die Seele das Wunder des geistigen Bewußt¬ seins, nur sich entwickelt unter Bedingung der Heranbildung einer gewissen natürlichen Organisation, so auch nun der Geist selbst den Reichthum, gesunder Gedanken und Erkennt¬ nisse nur dann recht zu entfalten vermag, wenn er treu und rein die Geschichte der Natur um ihn her in dem Wesen ihrer innern Folge in sich aufnimmt. Dieses reine Verhältniß zur Natur ist daher auch von jeher als ein Heiliges in der Menschheit von den Besten verehrt worden, und ganz eigen wirkt in dieser Beziehung eine Stelle im Euripides, welche auf eine Weise, wie sie nur einem alten Griechen kommen konnte, naiv und groß dieses My¬ sterium ausspricht. Es ist die Stelle des Hippolyt an Artemis:
"Hier diesen frischgeflochtnen Kranz, o Herrscherin! Zum Schmuck aus unentweihten Fluren bring' ich Dir, Wo nicht der Hirt zu weiden seine Heerde wagt, Noch Eisen eindrang jemals, nein die Biene nur An unentweihter Frühlingsau' vorüberschwärmt, Und wo die Unschuld Gärten pflegt mit Quellenthau, Daß, wer nichts Angelerntes, sondern von Natur Den reinen Sinn für alle Weisheit inne hat, Daraus darf pflücken; Sündern aber ist's versagt."
Nur von hier aus ist es daher zu verstehen, warum die Sprache auch von der Gedankenwelt den Ausdruck "natürlich" so hoch stellt und als das Siegel eines voll¬ kommen Angemessenen erkennt. Es ist allerdings für die nähere sorgfältige Erwägung etwas außerordentlich Merk¬ würdiges, daß dieselbe innere organische Folge, dieselbe tiefe Nothwendigkeit der Natur, welche es bestimmt, daß in der und der Richtung die Strömungen der Meere und die Bewegungen der Gestirne gehen, und daß der Fort¬ gang der Entwicklung eines Mooses wie der einer Palme nur gerade so und nicht anders sich verhalten kann, daß diese auch da herrschen müssen, wo eine wahrhaft schöne Reihe von Gedanken sich entfalten und im Geiste sich be¬
hat auf geiſtige Entwicklung der Seele. Man darf ſagen: daß, wie in ſich die Seele das Wunder des geiſtigen Bewußt¬ ſeins, nur ſich entwickelt unter Bedingung der Heranbildung einer gewiſſen natürlichen Organiſation, ſo auch nun der Geiſt ſelbſt den Reichthum, geſunder Gedanken und Erkennt¬ niſſe nur dann recht zu entfalten vermag, wenn er treu und rein die Geſchichte der Natur um ihn her in dem Weſen ihrer innern Folge in ſich aufnimmt. Dieſes reine Verhältniß zur Natur iſt daher auch von jeher als ein Heiliges in der Menſchheit von den Beſten verehrt worden, und ganz eigen wirkt in dieſer Beziehung eine Stelle im Euripides, welche auf eine Weiſe, wie ſie nur einem alten Griechen kommen konnte, naiv und groß dieſes My¬ ſterium ausſpricht. Es iſt die Stelle des Hippolyt an Artemis:
„Hier dieſen friſchgeflochtnen Kranz, o Herrſcherin! Zum Schmuck aus unentweihten Fluren bring' ich Dir, Wo nicht der Hirt zu weiden ſeine Heerde wagt, Noch Eiſen eindrang jemals, nein die Biene nur An unentweihter Frühlingsau' vorüberſchwärmt, Und wo die Unſchuld Gärten pflegt mit Quellenthau, Daß, wer nichts Angelerntes, ſondern von Natur Den reinen Sinn für alle Weisheit inne hat, Daraus darf pflücken; Sündern aber iſt's verſagt.“
Nur von hier aus iſt es daher zu verſtehen, warum die Sprache auch von der Gedankenwelt den Ausdruck „natürlich“ ſo hoch ſtellt und als das Siegel eines voll¬ kommen Angemeſſenen erkennt. Es iſt allerdings für die nähere ſorgfältige Erwägung etwas außerordentlich Merk¬ würdiges, daß dieſelbe innere organiſche Folge, dieſelbe tiefe Nothwendigkeit der Natur, welche es beſtimmt, daß in der und der Richtung die Strömungen der Meere und die Bewegungen der Geſtirne gehen, und daß der Fort¬ gang der Entwicklung eines Mooſes wie der einer Palme nur gerade ſo und nicht anders ſich verhalten kann, daß dieſe auch da herrſchen müſſen, wo eine wahrhaft ſchöne Reihe von Gedanken ſich entfalten und im Geiſte ſich be¬
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><p><pbfacs="#f0412"n="396"/>
hat auf geiſtige Entwicklung der Seele. Man darf ſagen:<lb/>
daß, wie in ſich die Seele das Wunder des geiſtigen Bewußt¬<lb/>ſeins, nur ſich entwickelt unter Bedingung der Heranbildung<lb/>
einer gewiſſen natürlichen Organiſation, ſo auch nun der<lb/>
Geiſt ſelbſt den Reichthum, geſunder Gedanken und Erkennt¬<lb/>
niſſe nur dann recht zu entfalten vermag, wenn er treu<lb/>
und rein die Geſchichte der Natur um ihn her in dem<lb/>
Weſen ihrer innern Folge in ſich aufnimmt. Dieſes reine<lb/>
Verhältniß zur Natur iſt daher auch von jeher als ein<lb/>
Heiliges in der Menſchheit von den Beſten verehrt worden,<lb/>
und ganz eigen wirkt in dieſer Beziehung eine Stelle im<lb/><hirendition="#g">Euripides</hi>, welche auf eine Weiſe, wie ſie nur einem<lb/>
alten Griechen kommen konnte, naiv und groß dieſes My¬<lb/>ſterium ausſpricht. Es iſt die Stelle des <hirendition="#g">Hippolyt</hi> an<lb/><hirendition="#g">Artemis</hi>:</p><lb/><lgtype="poem"><l>„Hier dieſen friſchgeflochtnen Kranz, o Herrſcherin!</l><lb/><l>Zum Schmuck aus unentweihten Fluren bring' ich Dir,</l><lb/><l>Wo nicht der Hirt zu weiden ſeine Heerde wagt,</l><lb/><l>Noch Eiſen eindrang jemals, nein die Biene nur</l><lb/><l>An unentweihter Frühlingsau' vorüberſchwärmt,</l><lb/><l>Und wo die Unſchuld Gärten pflegt mit Quellenthau,</l><lb/><l>Daß, wer nichts Angelerntes, ſondern von Natur</l><lb/><l>Den reinen Sinn für alle Weisheit inne hat,</l><lb/><l>Daraus darf pflücken; Sündern aber iſt's verſagt.“</l><lb/></lg><p>Nur von hier aus iſt es daher zu verſtehen, warum<lb/>
die Sprache auch von der Gedankenwelt den Ausdruck<lb/>„natürlich“ſo hoch ſtellt und als das Siegel eines voll¬<lb/>
kommen Angemeſſenen erkennt. Es iſt allerdings für die<lb/>
nähere ſorgfältige Erwägung etwas außerordentlich Merk¬<lb/>
würdiges, daß dieſelbe innere organiſche Folge, dieſelbe<lb/>
tiefe Nothwendigkeit der Natur, welche es beſtimmt, daß<lb/>
in der und der Richtung die Strömungen der Meere und<lb/>
die Bewegungen der Geſtirne gehen, und daß der Fort¬<lb/>
gang der Entwicklung eines Mooſes wie der einer Palme<lb/>
nur gerade ſo und nicht anders ſich verhalten kann, daß<lb/>
dieſe auch da herrſchen müſſen, wo eine wahrhaft ſchöne<lb/>
Reihe von Gedanken ſich entfalten und im Geiſte ſich be¬<lb/></p></div></div></body></text></TEI>
[396/0412]
hat auf geiſtige Entwicklung der Seele. Man darf ſagen:
daß, wie in ſich die Seele das Wunder des geiſtigen Bewußt¬
ſeins, nur ſich entwickelt unter Bedingung der Heranbildung
einer gewiſſen natürlichen Organiſation, ſo auch nun der
Geiſt ſelbſt den Reichthum, geſunder Gedanken und Erkennt¬
niſſe nur dann recht zu entfalten vermag, wenn er treu
und rein die Geſchichte der Natur um ihn her in dem
Weſen ihrer innern Folge in ſich aufnimmt. Dieſes reine
Verhältniß zur Natur iſt daher auch von jeher als ein
Heiliges in der Menſchheit von den Beſten verehrt worden,
und ganz eigen wirkt in dieſer Beziehung eine Stelle im
Euripides, welche auf eine Weiſe, wie ſie nur einem
alten Griechen kommen konnte, naiv und groß dieſes My¬
ſterium ausſpricht. Es iſt die Stelle des Hippolyt an
Artemis:
„Hier dieſen friſchgeflochtnen Kranz, o Herrſcherin!
Zum Schmuck aus unentweihten Fluren bring' ich Dir,
Wo nicht der Hirt zu weiden ſeine Heerde wagt,
Noch Eiſen eindrang jemals, nein die Biene nur
An unentweihter Frühlingsau' vorüberſchwärmt,
Und wo die Unſchuld Gärten pflegt mit Quellenthau,
Daß, wer nichts Angelerntes, ſondern von Natur
Den reinen Sinn für alle Weisheit inne hat,
Daraus darf pflücken; Sündern aber iſt's verſagt.“
Nur von hier aus iſt es daher zu verſtehen, warum
die Sprache auch von der Gedankenwelt den Ausdruck
„natürlich“ ſo hoch ſtellt und als das Siegel eines voll¬
kommen Angemeſſenen erkennt. Es iſt allerdings für die
nähere ſorgfältige Erwägung etwas außerordentlich Merk¬
würdiges, daß dieſelbe innere organiſche Folge, dieſelbe
tiefe Nothwendigkeit der Natur, welche es beſtimmt, daß
in der und der Richtung die Strömungen der Meere und
die Bewegungen der Geſtirne gehen, und daß der Fort¬
gang der Entwicklung eines Mooſes wie der einer Palme
nur gerade ſo und nicht anders ſich verhalten kann, daß
dieſe auch da herrſchen müſſen, wo eine wahrhaft ſchöne
Reihe von Gedanken ſich entfalten und im Geiſte ſich be¬
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Sie haben einen Fehler gefunden?
Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform
DTAQ melden.
Kommentar zur DTA-Ausgabe
Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend
gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien
von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem
DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.
Carus, Carl Gustav: Psyche. Zur Entwicklungsgeschichte der Seele. Pforzheim, 1846, S. 396. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/carus_psyche_1846/412>, abgerufen am 22.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.