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Carus, Carl Gustav: Psyche. Zur Entwicklungsgeschichte der Seele. Pforzheim, 1846.

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einfache Wahrheit ist, wie so vieles, was auf diese sonder¬
baren Zustände Bezug hat, noch nie bestimmt ausgesprochen
worden, und nicht selten wird der Ausdruck gebraucht, daß
eine Geisteskrankheit einen Kranken getödtet habe, obwohl
das natürliche Gefühl der Völker, die Sprache in so fern
immer richtig geleitet hat, daß man nie zu sagen pflegte,
der Mensch sei am Wahnsinn gestorben, sondern immer
nur, er sei im Wahnsinn gestorben. Der Wahrheit gemäß
ist es nämlich, daß in solchen Fällen der Tod nur vom
unbewußten Leben ausgehend
erfolgt, wie in allen
übrigen Krankheiten, und auch diese Erkenntniß führt wieder
zur Anschauung eines neuen und eigenthümlichen Gesetzes,
nämlich: daß, wie das Leben immer mit der unbewußten
Offenbarung der Seele anhebt, so es auch nur mit dieser
unbewußten Offenbarung endigen könne, und dem Laufe
der Natur nach auch immer bloß dadurch endigen werde
(denn wenn der bewußte Geist im Selbstmord die Be¬
dingungen absichtlich herbeiführt, welche das Unbewußte zer¬
stören, so ist dies immer ein Verhältniß gegen die Natur).
Geschieht es also, daß Geisteskranke sterben, so wird dies
entweder dadurch geschehen, daß irgend eine besondere Krank¬
heit, ein Fieber, eine Entzündung, eine Apoplexie u. s. w.
hinzutritt, oder dadurch, daß dasselbe Leiden des Unbe¬
wußten, welches, als ein Kranksein des Gehirns, seinen
Reflex auf die Vorgänge des Geistes geworfen hatte, sich
so weit steigert, daß nun alle übrigen Lebenserscheinungen
dadurch beeinträchtigt werden müssen und unter der Form
von Hirnwassersucht, Lähmung u. s. w. der Tod veranlaßt
wird. Eben so wie demnach das Sterben der Geisteskranken
vom Unbewußten ausgeht, so muß nothwendig auch der
zweite mögliche Ausgang, der der Genesung, wesentlich
vom Unbewußten bedingt werden. Ein in Irrthum ge¬
rathener Verstand kann in sich selbst den Weg zur Wahr¬
heit finden oder darauf geleitet werden; ein in wüstes,
lasterhaftes Thun versunkenes Wollen kann, durch die

einfache Wahrheit iſt, wie ſo vieles, was auf dieſe ſonder¬
baren Zuſtände Bezug hat, noch nie beſtimmt ausgeſprochen
worden, und nicht ſelten wird der Ausdruck gebraucht, daß
eine Geiſteskrankheit einen Kranken getödtet habe, obwohl
das natürliche Gefühl der Völker, die Sprache in ſo fern
immer richtig geleitet hat, daß man nie zu ſagen pflegte,
der Menſch ſei am Wahnſinn geſtorben, ſondern immer
nur, er ſei im Wahnſinn geſtorben. Der Wahrheit gemäß
iſt es nämlich, daß in ſolchen Fällen der Tod nur vom
unbewußten Leben ausgehend
erfolgt, wie in allen
übrigen Krankheiten, und auch dieſe Erkenntniß führt wieder
zur Anſchauung eines neuen und eigenthümlichen Geſetzes,
nämlich: daß, wie das Leben immer mit der unbewußten
Offenbarung der Seele anhebt, ſo es auch nur mit dieſer
unbewußten Offenbarung endigen könne, und dem Laufe
der Natur nach auch immer bloß dadurch endigen werde
(denn wenn der bewußte Geiſt im Selbſtmord die Be¬
dingungen abſichtlich herbeiführt, welche das Unbewußte zer¬
ſtören, ſo iſt dies immer ein Verhältniß gegen die Natur).
Geſchieht es alſo, daß Geiſteskranke ſterben, ſo wird dies
entweder dadurch geſchehen, daß irgend eine beſondere Krank¬
heit, ein Fieber, eine Entzündung, eine Apoplexie u. ſ. w.
hinzutritt, oder dadurch, daß daſſelbe Leiden des Unbe¬
wußten, welches, als ein Krankſein des Gehirns, ſeinen
Reflex auf die Vorgänge des Geiſtes geworfen hatte, ſich
ſo weit ſteigert, daß nun alle übrigen Lebenserſcheinungen
dadurch beeinträchtigt werden müſſen und unter der Form
von Hirnwaſſerſucht, Lähmung u. ſ. w. der Tod veranlaßt
wird. Eben ſo wie demnach das Sterben der Geiſteskranken
vom Unbewußten ausgeht, ſo muß nothwendig auch der
zweite mögliche Ausgang, der der Geneſung, weſentlich
vom Unbewußten bedingt werden. Ein in Irrthum ge¬
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[457/0473] einfache Wahrheit iſt, wie ſo vieles, was auf dieſe ſonder¬ baren Zuſtände Bezug hat, noch nie beſtimmt ausgeſprochen worden, und nicht ſelten wird der Ausdruck gebraucht, daß eine Geiſteskrankheit einen Kranken getödtet habe, obwohl das natürliche Gefühl der Völker, die Sprache in ſo fern immer richtig geleitet hat, daß man nie zu ſagen pflegte, der Menſch ſei am Wahnſinn geſtorben, ſondern immer nur, er ſei im Wahnſinn geſtorben. Der Wahrheit gemäß iſt es nämlich, daß in ſolchen Fällen der Tod nur vom unbewußten Leben ausgehend erfolgt, wie in allen übrigen Krankheiten, und auch dieſe Erkenntniß führt wieder zur Anſchauung eines neuen und eigenthümlichen Geſetzes, nämlich: daß, wie das Leben immer mit der unbewußten Offenbarung der Seele anhebt, ſo es auch nur mit dieſer unbewußten Offenbarung endigen könne, und dem Laufe der Natur nach auch immer bloß dadurch endigen werde (denn wenn der bewußte Geiſt im Selbſtmord die Be¬ dingungen abſichtlich herbeiführt, welche das Unbewußte zer¬ ſtören, ſo iſt dies immer ein Verhältniß gegen die Natur). Geſchieht es alſo, daß Geiſteskranke ſterben, ſo wird dies entweder dadurch geſchehen, daß irgend eine beſondere Krank¬ heit, ein Fieber, eine Entzündung, eine Apoplexie u. ſ. w. hinzutritt, oder dadurch, daß daſſelbe Leiden des Unbe¬ wußten, welches, als ein Krankſein des Gehirns, ſeinen Reflex auf die Vorgänge des Geiſtes geworfen hatte, ſich ſo weit ſteigert, daß nun alle übrigen Lebenserſcheinungen dadurch beeinträchtigt werden müſſen und unter der Form von Hirnwaſſerſucht, Lähmung u. ſ. w. der Tod veranlaßt wird. Eben ſo wie demnach das Sterben der Geiſteskranken vom Unbewußten ausgeht, ſo muß nothwendig auch der zweite mögliche Ausgang, der der Geneſung, weſentlich vom Unbewußten bedingt werden. Ein in Irrthum ge¬ rathener Verſtand kann in ſich ſelbſt den Weg zur Wahr¬ heit finden oder darauf geleitet werden; ein in wüſtes, laſterhaftes Thun verſunkenes Wollen kann, durch die

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Zitationshilfe: Carus, Carl Gustav: Psyche. Zur Entwicklungsgeschichte der Seele. Pforzheim, 1846, S. 457. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/carus_psyche_1846/473>, abgerufen am 24.11.2024.