Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Carus, Carl Gustav: Psyche. Zur Entwicklungsgeschichte der Seele. Pforzheim, 1846.

Bild:
<< vorherige Seite

Als einen dritten möglichen Ausgang der Krankheits¬
erscheinungen am Geiste ist endlich des Ueberganges in
andere Krankheiten zu gedenken. Es ist dies ein reiner
Metaschematismus. Wie es der Arzt oftmals beobachtet,
daß etwa ein Asthma sich verliert, wenn Gicht in den Ge¬
lenken auftritt, oder, wie manche andere chronische Leiden
schwinden, wenn ein Fieber ausbricht, so kann auch gar
wohl eine Krankheit, welche die Organe des Denkens mit
belastete, dergestalt in ihrer Form sich ändern, daß nun
andere Provinzen des Lebens der Sitz des Leidens werden,
und wirklich beobachtet man auf diese Weise ebenfalls, daß
Formänderungen des Krankseins hervortreten, wo z. B.
Hautentzündungen, Gelenkgicht, Blutaussonderungen u. s. w.,
plötzlich die Befangenheit des Geistes lösen und ihn wieder
in seiner Integrität wirken lassen, obwohl das unbewußte
Leben nichts desto weniger immerfort im Ganzen krank bleibt.
Man sieht demnach, daß dieser Ausgang des Krankseins,
welcher bei Wahnsinnigen gar nicht selten beobachtet wird,
psychologisch eigentlich keine neue Seite des Zustandes ent¬
hüllt, daß er vielmehr ebenfalls nur darauf zurückdeutet,
daß alle Krankheitserscheinung am Geiste im Unbewußten
wurzelt, und daß somit diese Vorgänge in praktischer Be¬
ziehung mehr für den Arzt als für den Psychologen ein
besonderes Studium verdienen.

Jetzt, nach allen vorhergegangenen Betrachtungen, wird
sich auch von selbst herausheben, was über die mögliche
Heilung
des Wahnsinns hier zu sagen wäre. Die wich¬
tigste Frage, welche die Irrenärzte vielfach beschäftigt hat
und welche nie zu einer rechten Entscheidung gelangen konnte,
so lange das eigentliche Verhältniß dieser Zustände selbst
unklar geblieben war, ist: "ob die Heilung durch directe
Einwirkung auf das Bewußtsein, oder ob sie durch Ein¬
wirkung auf das Unbewußte zu erzielen sei?" Das erstere
Verfahren nannte man das rein psychische, und es sollte
sich auf eine Art von Pädagogik beschränken, das andere

Als einen dritten möglichen Ausgang der Krankheits¬
erſcheinungen am Geiſte iſt endlich des Ueberganges in
andere Krankheiten zu gedenken. Es iſt dies ein reiner
Metaſchematismus. Wie es der Arzt oftmals beobachtet,
daß etwa ein Aſthma ſich verliert, wenn Gicht in den Ge¬
lenken auftritt, oder, wie manche andere chroniſche Leiden
ſchwinden, wenn ein Fieber ausbricht, ſo kann auch gar
wohl eine Krankheit, welche die Organe des Denkens mit
belaſtete, dergeſtalt in ihrer Form ſich ändern, daß nun
andere Provinzen des Lebens der Sitz des Leidens werden,
und wirklich beobachtet man auf dieſe Weiſe ebenfalls, daß
Formänderungen des Krankſeins hervortreten, wo z. B.
Hautentzündungen, Gelenkgicht, Blutausſonderungen u. ſ. w.,
plötzlich die Befangenheit des Geiſtes löſen und ihn wieder
in ſeiner Integrität wirken laſſen, obwohl das unbewußte
Leben nichts deſto weniger immerfort im Ganzen krank bleibt.
Man ſieht demnach, daß dieſer Ausgang des Krankſeins,
welcher bei Wahnſinnigen gar nicht ſelten beobachtet wird,
pſychologiſch eigentlich keine neue Seite des Zuſtandes ent¬
hüllt, daß er vielmehr ebenfalls nur darauf zurückdeutet,
daß alle Krankheitserſcheinung am Geiſte im Unbewußten
wurzelt, und daß ſomit dieſe Vorgänge in praktiſcher Be¬
ziehung mehr für den Arzt als für den Pſychologen ein
beſonderes Studium verdienen.

Jetzt, nach allen vorhergegangenen Betrachtungen, wird
ſich auch von ſelbſt herausheben, was über die mögliche
Heilung
des Wahnſinns hier zu ſagen wäre. Die wich¬
tigſte Frage, welche die Irrenärzte vielfach beſchäftigt hat
und welche nie zu einer rechten Entſcheidung gelangen konnte,
ſo lange das eigentliche Verhältniß dieſer Zuſtände ſelbſt
unklar geblieben war, iſt: „ob die Heilung durch directe
Einwirkung auf das Bewußtſein, oder ob ſie durch Ein¬
wirkung auf das Unbewußte zu erzielen ſei?“ Das erſtere
Verfahren nannte man das rein pſychiſche, und es ſollte
ſich auf eine Art von Pädagogik beſchränken, das andere

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <pb facs="#f0475" n="459"/>
            <p>Als einen dritten möglichen Ausgang der Krankheits¬<lb/>
er&#x017F;cheinungen am Gei&#x017F;te i&#x017F;t endlich des Ueberganges in<lb/>
andere Krankheiten zu gedenken. Es i&#x017F;t dies ein reiner<lb/>
Meta&#x017F;chematismus. Wie es der Arzt oftmals beobachtet,<lb/>
daß etwa ein A&#x017F;thma &#x017F;ich verliert, wenn Gicht in den Ge¬<lb/>
lenken auftritt, oder, wie manche andere chroni&#x017F;che Leiden<lb/>
&#x017F;chwinden, wenn ein Fieber ausbricht, &#x017F;o kann auch gar<lb/>
wohl eine Krankheit, welche die Organe des Denkens mit<lb/>
bela&#x017F;tete, derge&#x017F;talt in ihrer Form &#x017F;ich ändern, daß nun<lb/>
andere Provinzen des Lebens der Sitz des Leidens werden,<lb/>
und wirklich beobachtet man auf die&#x017F;e Wei&#x017F;e ebenfalls, daß<lb/>
Formänderungen des Krank&#x017F;eins hervortreten, wo z. B.<lb/>
Hautentzündungen, Gelenkgicht, Blutaus&#x017F;onderungen u. &#x017F;. w.,<lb/>
plötzlich die Befangenheit des Gei&#x017F;tes lö&#x017F;en und ihn wieder<lb/>
in &#x017F;einer Integrität wirken la&#x017F;&#x017F;en, obwohl das unbewußte<lb/>
Leben nichts de&#x017F;to weniger immerfort im Ganzen krank bleibt.<lb/>
Man &#x017F;ieht demnach, daß die&#x017F;er Ausgang des Krank&#x017F;eins,<lb/>
welcher bei Wahn&#x017F;innigen gar nicht &#x017F;elten beobachtet wird,<lb/>
p&#x017F;ychologi&#x017F;ch eigentlich keine neue Seite des Zu&#x017F;tandes ent¬<lb/>
hüllt, daß er vielmehr ebenfalls nur darauf zurückdeutet,<lb/>
daß alle Krankheitser&#x017F;cheinung am Gei&#x017F;te im Unbewußten<lb/>
wurzelt, und daß &#x017F;omit die&#x017F;e Vorgänge in prakti&#x017F;cher Be¬<lb/>
ziehung mehr für den Arzt als für den P&#x017F;ychologen ein<lb/>
be&#x017F;onderes Studium verdienen.</p><lb/>
            <p>Jetzt, nach allen vorhergegangenen Betrachtungen, wird<lb/>
&#x017F;ich auch von &#x017F;elb&#x017F;t herausheben, was über die <hi rendition="#g">mögliche<lb/>
Heilung</hi> des Wahn&#x017F;inns hier zu &#x017F;agen wäre. Die wich¬<lb/>
tig&#x017F;te Frage, welche die Irrenärzte vielfach be&#x017F;chäftigt hat<lb/>
und welche nie zu einer rechten Ent&#x017F;cheidung gelangen konnte,<lb/>
&#x017F;o lange das eigentliche Verhältniß die&#x017F;er Zu&#x017F;tände &#x017F;elb&#x017F;t<lb/>
unklar geblieben war, i&#x017F;t: &#x201E;ob die Heilung durch directe<lb/>
Einwirkung auf das Bewußt&#x017F;ein, oder ob &#x017F;ie durch Ein¬<lb/>
wirkung auf das Unbewußte zu erzielen &#x017F;ei?&#x201C; Das er&#x017F;tere<lb/>
Verfahren nannte man das rein p&#x017F;ychi&#x017F;che, und es &#x017F;ollte<lb/>
&#x017F;ich auf eine Art von Pädagogik be&#x017F;chränken, das andere<lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[459/0475] Als einen dritten möglichen Ausgang der Krankheits¬ erſcheinungen am Geiſte iſt endlich des Ueberganges in andere Krankheiten zu gedenken. Es iſt dies ein reiner Metaſchematismus. Wie es der Arzt oftmals beobachtet, daß etwa ein Aſthma ſich verliert, wenn Gicht in den Ge¬ lenken auftritt, oder, wie manche andere chroniſche Leiden ſchwinden, wenn ein Fieber ausbricht, ſo kann auch gar wohl eine Krankheit, welche die Organe des Denkens mit belaſtete, dergeſtalt in ihrer Form ſich ändern, daß nun andere Provinzen des Lebens der Sitz des Leidens werden, und wirklich beobachtet man auf dieſe Weiſe ebenfalls, daß Formänderungen des Krankſeins hervortreten, wo z. B. Hautentzündungen, Gelenkgicht, Blutausſonderungen u. ſ. w., plötzlich die Befangenheit des Geiſtes löſen und ihn wieder in ſeiner Integrität wirken laſſen, obwohl das unbewußte Leben nichts deſto weniger immerfort im Ganzen krank bleibt. Man ſieht demnach, daß dieſer Ausgang des Krankſeins, welcher bei Wahnſinnigen gar nicht ſelten beobachtet wird, pſychologiſch eigentlich keine neue Seite des Zuſtandes ent¬ hüllt, daß er vielmehr ebenfalls nur darauf zurückdeutet, daß alle Krankheitserſcheinung am Geiſte im Unbewußten wurzelt, und daß ſomit dieſe Vorgänge in praktiſcher Be¬ ziehung mehr für den Arzt als für den Pſychologen ein beſonderes Studium verdienen. Jetzt, nach allen vorhergegangenen Betrachtungen, wird ſich auch von ſelbſt herausheben, was über die mögliche Heilung des Wahnſinns hier zu ſagen wäre. Die wich¬ tigſte Frage, welche die Irrenärzte vielfach beſchäftigt hat und welche nie zu einer rechten Entſcheidung gelangen konnte, ſo lange das eigentliche Verhältniß dieſer Zuſtände ſelbſt unklar geblieben war, iſt: „ob die Heilung durch directe Einwirkung auf das Bewußtſein, oder ob ſie durch Ein¬ wirkung auf das Unbewußte zu erzielen ſei?“ Das erſtere Verfahren nannte man das rein pſychiſche, und es ſollte ſich auf eine Art von Pädagogik beſchränken, das andere

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/carus_psyche_1846
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/carus_psyche_1846/475
Zitationshilfe: Carus, Carl Gustav: Psyche. Zur Entwicklungsgeschichte der Seele. Pforzheim, 1846, S. 459. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/carus_psyche_1846/475>, abgerufen am 24.11.2024.