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Carus, Carl Gustav: Psyche. Zur Entwicklungsgeschichte der Seele. Pforzheim, 1846.

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bewußten, zu dem Höhern, d. h. zum reinen Bewußt¬
sein, zum gereiften Geiste, darf man sich übrigens viel¬
leicht unter dem Bilde deutlich zu machen suchen, daß
man etwa vergleicht die Aeußerung des vollen bewußten
Seelenlebens der leuchtenden Spitze einer jener gothi¬
schen Dome, die das Auge durch den Reichthum ihrer
Verzierungen und das Himmelanstrebende ihrer Gesammt¬
form anziehen, die aber weder in ihrer Schönheit leuchten
und sich erhalten, noch in ihrer Höhe getragen werden
könnten, wenn nicht der unsichtbar tief in der Erde ruhende
Grund (hier das Gleichniß des vollkommen Unbewußten)
sie überall stützte und die innere künstliche Fügung des
Mauer- und Eisenwerkes sie durchaus befestigte. Wirklich
ganz auf dieselbe Weise wie jene glänzende Außenseite
vom unscheinbaren Grunde eines Gebäudes, hängen alle
die hohen und höchsten Qualitäten des bewußten Seelen¬
lebens von tausenderlei Beziehungen auf das Unbewußte
der Seele ab, und wie jene Spitze des Doms unrettbar
stürzt, wenn nur eine Eisenklammer reißt oder ein Eck¬
stein des Grundes weicht, so verschwinden auch sofort die
glänzendsten Erscheinungen des Geistes, wenn dem unbe¬
wußten Wirken der Seele, wie es etwa den Blutstrom
des Herzens lenkt, oder den Wechsel der Athmung regiert,
nur das kleinste Hinderniß entgegengestellt wird. Dies
Alles wird gewöhnlich keineswegs hinreichend bedacht, oder,
wenn es bedacht wird, einer beklagenswerthen Abhängigkeit
des Geistes vom Körper zugeschrieben, während es doch
dem Auge, welches diese Erscheinungen in ihrer Totalität
aufzufassen vermag, durchaus als ein schönes und noth¬
wendiges Zeichen der gemeinsamen Begründung beider
Sphären des Seelenlebens, der bewußten und unbewußten,
in einer und derselben göttlichen Wesenheit
oder Idee erscheinen muß.

Gewiß, es sind diese Gegenstände für die Möglichkeit
einer wahrhaft wissenschaftlichen Psychologie von der unge¬

bewußten, zu dem Höhern, d. h. zum reinen Bewußt¬
ſein, zum gereiften Geiſte, darf man ſich übrigens viel¬
leicht unter dem Bilde deutlich zu machen ſuchen, daß
man etwa vergleicht die Aeußerung des vollen bewußten
Seelenlebens der leuchtenden Spitze einer jener gothi¬
ſchen Dome, die das Auge durch den Reichthum ihrer
Verzierungen und das Himmelanſtrebende ihrer Geſammt¬
form anziehen, die aber weder in ihrer Schönheit leuchten
und ſich erhalten, noch in ihrer Höhe getragen werden
könnten, wenn nicht der unſichtbar tief in der Erde ruhende
Grund (hier das Gleichniß des vollkommen Unbewußten)
ſie überall ſtützte und die innere künſtliche Fügung des
Mauer- und Eiſenwerkes ſie durchaus befeſtigte. Wirklich
ganz auf dieſelbe Weiſe wie jene glänzende Außenſeite
vom unſcheinbaren Grunde eines Gebäudes, hängen alle
die hohen und höchſten Qualitäten des bewußten Seelen¬
lebens von tauſenderlei Beziehungen auf das Unbewußte
der Seele ab, und wie jene Spitze des Doms unrettbar
ſtürzt, wenn nur eine Eiſenklammer reißt oder ein Eck¬
ſtein des Grundes weicht, ſo verſchwinden auch ſofort die
glänzendſten Erſcheinungen des Geiſtes, wenn dem unbe¬
wußten Wirken der Seele, wie es etwa den Blutſtrom
des Herzens lenkt, oder den Wechſel der Athmung regiert,
nur das kleinſte Hinderniß entgegengeſtellt wird. Dies
Alles wird gewöhnlich keineswegs hinreichend bedacht, oder,
wenn es bedacht wird, einer beklagenswerthen Abhängigkeit
des Geiſtes vom Körper zugeſchrieben, während es doch
dem Auge, welches dieſe Erſcheinungen in ihrer Totalität
aufzufaſſen vermag, durchaus als ein ſchönes und noth¬
wendiges Zeichen der gemeinſamen Begründung beider
Sphären des Seelenlebens, der bewußten und unbewußten,
in einer und derſelben göttlichen Weſenheit
oder Idee erſcheinen muß.

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[69/0085] bewußten, zu dem Höhern, d. h. zum reinen Bewußt¬ ſein, zum gereiften Geiſte, darf man ſich übrigens viel¬ leicht unter dem Bilde deutlich zu machen ſuchen, daß man etwa vergleicht die Aeußerung des vollen bewußten Seelenlebens der leuchtenden Spitze einer jener gothi¬ ſchen Dome, die das Auge durch den Reichthum ihrer Verzierungen und das Himmelanſtrebende ihrer Geſammt¬ form anziehen, die aber weder in ihrer Schönheit leuchten und ſich erhalten, noch in ihrer Höhe getragen werden könnten, wenn nicht der unſichtbar tief in der Erde ruhende Grund (hier das Gleichniß des vollkommen Unbewußten) ſie überall ſtützte und die innere künſtliche Fügung des Mauer- und Eiſenwerkes ſie durchaus befeſtigte. Wirklich ganz auf dieſelbe Weiſe wie jene glänzende Außenſeite vom unſcheinbaren Grunde eines Gebäudes, hängen alle die hohen und höchſten Qualitäten des bewußten Seelen¬ lebens von tauſenderlei Beziehungen auf das Unbewußte der Seele ab, und wie jene Spitze des Doms unrettbar ſtürzt, wenn nur eine Eiſenklammer reißt oder ein Eck¬ ſtein des Grundes weicht, ſo verſchwinden auch ſofort die glänzendſten Erſcheinungen des Geiſtes, wenn dem unbe¬ wußten Wirken der Seele, wie es etwa den Blutſtrom des Herzens lenkt, oder den Wechſel der Athmung regiert, nur das kleinſte Hinderniß entgegengeſtellt wird. Dies Alles wird gewöhnlich keineswegs hinreichend bedacht, oder, wenn es bedacht wird, einer beklagenswerthen Abhängigkeit des Geiſtes vom Körper zugeſchrieben, während es doch dem Auge, welches dieſe Erſcheinungen in ihrer Totalität aufzufaſſen vermag, durchaus als ein ſchönes und noth¬ wendiges Zeichen der gemeinſamen Begründung beider Sphären des Seelenlebens, der bewußten und unbewußten, in einer und derſelben göttlichen Weſenheit oder Idee erſcheinen muß. Gewiß, es ſind dieſe Gegenſtände für die Möglichkeit einer wahrhaft wiſſenſchaftlichen Pſychologie von der unge¬

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Zitationshilfe: Carus, Carl Gustav: Psyche. Zur Entwicklungsgeschichte der Seele. Pforzheim, 1846, S. 69. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/carus_psyche_1846/85>, abgerufen am 23.11.2024.