Außer diesen inneren Gründen weisen aber, wie oben mehrfach hervor- gehoben wurde, auch noch äußere auf eine Entstehung der ersten als Physiologus bezeichneten Sammlung in Aegypten hin. Daß gerade Origenes der älteste Schriftsteller ist, welcher den Physiologus citirt, kann hierbei, als möglicherweise nur zufällig, nicht in Anschlag gebracht werden. Dagegen sind die sprachlichen Beweise wohl entscheidend. Fast durchgehends ist die griechisch-alexandrinische Bibelübersetzung der commentirte Text gewesen. Und wenn auch dies bei der früh erlangten Autorität dieser Uebersetzung für nicht besonders bedeutungsvoll gehal- ten werden sollte, so gibt es doch für das Auftreten koptischer Wörter keinen andern haltbaren Erklärungsgrund als den, daß koptische Glossen oder Uebersetzungen einzelner Abschnitte vorgelegen haben.
Soll nun aber versucht werden, ein Bild von der ursprünglichen Entstehungsweise des Physiologus zu geben, so würde es nach den vor- liegenden Anhaltspunkten folgendes sein. Lehrer orientalischer (alexan- drinischer) Christengemeinden der ersten Jahrhunderte griffen in rich- tiger Würdigung der Wirksamkeit aus der Natur entlehnter Beispiele auf die Gemüther ihrer Hörer zu dieser und besonders zu den Thieren, von welchen schon die heidnische Litteratur Wunderbares genug über- liefert hatte. Die an und für sich einer Auslegung zu unterwerfenden Bibelstellen boten die Thierformen, die alexandrinischen Märchensamm- lungen den naturhistorischen Gehalt, die sinnlich gefaßte christliche Lehre die Anwendung dar. Trotz aller Freiheit in der Wahl des Stoffes er- hielt die ursprünglich wohl zufällige und keiner bestimmten Formulirung unterworfene Sammlung allmählich eine kanonisch fixirte Gestalt, an welcher dann nur Aeußerlichkeiten, durch Ort und Zeit veranlaßt, ge- ändert wurden. Wenn dann auch später das homiletische Bedürfniß die Allegorisation auf alles Mögliche ausdehnen ließ, wodurch Erzeug- nisse entstanden wie die Melito'sche Clavis, die distinctiones mona- sticae et morales, kurz Predigtapparate aller Art, so erhielt sich doch abgesondert von diesen das auf Thiere Bezügliche selbständig als zoo- logisches Elementarbuch, über welches hinaus keine weiteren Kenntnisse wünschenswerth erschienen als höchstens noch die etymologische Be-
Die Zoologie des Mittelalters.
Außer dieſen inneren Gründen weiſen aber, wie oben mehrfach hervor- gehoben wurde, auch noch äußere auf eine Entſtehung der erſten als Phyſiologus bezeichneten Sammlung in Aegypten hin. Daß gerade Origenes der älteſte Schriftſteller iſt, welcher den Phyſiologus citirt, kann hierbei, als möglicherweiſe nur zufällig, nicht in Anſchlag gebracht werden. Dagegen ſind die ſprachlichen Beweiſe wohl entſcheidend. Faſt durchgehends iſt die griechiſch-alexandriniſche Bibelüberſetzung der commentirte Text geweſen. Und wenn auch dies bei der früh erlangten Autorität dieſer Ueberſetzung für nicht beſonders bedeutungsvoll gehal- ten werden ſollte, ſo gibt es doch für das Auftreten koptiſcher Wörter keinen andern haltbaren Erklärungsgrund als den, daß koptiſche Gloſſen oder Ueberſetzungen einzelner Abſchnitte vorgelegen haben.
Soll nun aber verſucht werden, ein Bild von der urſprünglichen Entſtehungsweiſe des Phyſiologus zu geben, ſo würde es nach den vor- liegenden Anhaltspunkten folgendes ſein. Lehrer orientaliſcher (alexan- driniſcher) Chriſtengemeinden der erſten Jahrhunderte griffen in rich- tiger Würdigung der Wirkſamkeit aus der Natur entlehnter Beiſpiele auf die Gemüther ihrer Hörer zu dieſer und beſonders zu den Thieren, von welchen ſchon die heidniſche Litteratur Wunderbares genug über- liefert hatte. Die an und für ſich einer Auslegung zu unterwerfenden Bibelſtellen boten die Thierformen, die alexandriniſchen Märchenſamm- lungen den naturhiſtoriſchen Gehalt, die ſinnlich gefaßte chriſtliche Lehre die Anwendung dar. Trotz aller Freiheit in der Wahl des Stoffes er- hielt die urſprünglich wohl zufällige und keiner beſtimmten Formulirung unterworfene Sammlung allmählich eine kanoniſch fixirte Geſtalt, an welcher dann nur Aeußerlichkeiten, durch Ort und Zeit veranlaßt, ge- ändert wurden. Wenn dann auch ſpäter das homiletiſche Bedürfniß die Allegoriſation auf alles Mögliche ausdehnen ließ, wodurch Erzeug- niſſe entſtanden wie die Melito'ſche Clavis, die distinctiones mona- sticae et morales, kurz Predigtapparate aller Art, ſo erhielt ſich doch abgeſondert von dieſen das auf Thiere Bezügliche ſelbſtändig als zoo- logiſches Elementarbuch, über welches hinaus keine weiteren Kenntniſſe wünſchenswerth erſchienen als höchſtens noch die etymologiſche Be-
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Die Zoologie des Mittelalters.
Außer dieſen inneren Gründen weiſen aber, wie oben mehrfach hervor-
gehoben wurde, auch noch äußere auf eine Entſtehung der erſten als
Phyſiologus bezeichneten Sammlung in Aegypten hin. Daß gerade
Origenes der älteſte Schriftſteller iſt, welcher den Phyſiologus citirt,
kann hierbei, als möglicherweiſe nur zufällig, nicht in Anſchlag gebracht
werden. Dagegen ſind die ſprachlichen Beweiſe wohl entſcheidend.
Faſt durchgehends iſt die griechiſch-alexandriniſche Bibelüberſetzung der
commentirte Text geweſen. Und wenn auch dies bei der früh erlangten
Autorität dieſer Ueberſetzung für nicht beſonders bedeutungsvoll gehal-
ten werden ſollte, ſo gibt es doch für das Auftreten koptiſcher Wörter
keinen andern haltbaren Erklärungsgrund als den, daß koptiſche Gloſſen
oder Ueberſetzungen einzelner Abſchnitte vorgelegen haben.
Soll nun aber verſucht werden, ein Bild von der urſprünglichen
Entſtehungsweiſe des Phyſiologus zu geben, ſo würde es nach den vor-
liegenden Anhaltspunkten folgendes ſein. Lehrer orientaliſcher (alexan-
driniſcher) Chriſtengemeinden der erſten Jahrhunderte griffen in rich-
tiger Würdigung der Wirkſamkeit aus der Natur entlehnter Beiſpiele
auf die Gemüther ihrer Hörer zu dieſer und beſonders zu den Thieren,
von welchen ſchon die heidniſche Litteratur Wunderbares genug über-
liefert hatte. Die an und für ſich einer Auslegung zu unterwerfenden
Bibelſtellen boten die Thierformen, die alexandriniſchen Märchenſamm-
lungen den naturhiſtoriſchen Gehalt, die ſinnlich gefaßte chriſtliche Lehre
die Anwendung dar. Trotz aller Freiheit in der Wahl des Stoffes er-
hielt die urſprünglich wohl zufällige und keiner beſtimmten Formulirung
unterworfene Sammlung allmählich eine kanoniſch fixirte Geſtalt, an
welcher dann nur Aeußerlichkeiten, durch Ort und Zeit veranlaßt, ge-
ändert wurden. Wenn dann auch ſpäter das homiletiſche Bedürfniß
die Allegoriſation auf alles Mögliche ausdehnen ließ, wodurch Erzeug-
niſſe entſtanden wie die Melito'ſche Clavis, die distinctiones mona-
sticae et morales, kurz Predigtapparate aller Art, ſo erhielt ſich doch
abgeſondert von dieſen das auf Thiere Bezügliche ſelbſtändig als zoo-
logiſches Elementarbuch, über welches hinaus keine weiteren Kenntniſſe
wünſchenswerth erſchienen als höchſtens noch die etymologiſche Be-
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Carus, Julius Victor: Geschichte der Zoologie bis auf Johannes Müller und Charles Darwin. München, 1872, S. 142. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/carus_zoologie_1872/153>, abgerufen am 21.11.2024.
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