Blickt man daneben auf die äußern politischen Verhältnisse Mit- teleuropa's in der vorliegenden Periode, so bietet sich in den beständigen Kämpfen der Parteien kein Punkt der Ruhe dar, welcher einen Auf- schwung wissenschaftlichen Lebens hätte veranlassen können. Doch wur- den gerade in dieser Unruhe die Keime zur Neugestaltung vorzüglich der so wichtigen socialen Verhältnisse gelegt. Schon unter Friedrich dem Rothbart wurden die Freiheiten der lombardischen Städte gegründet und auf dem für die Stellung der kaiserlichen Macht so traurigen Con- gresse von Venedig zum erstenmale officiell anerkannt. Nach dem Tode des genialsten, menschen-, staats-, und naturkundigen Kaisers Fried- rich's II. fühlten auch die deutschen Städte, theils wegen der Unsicher- heit ihrer Verkehrs- und Handelsbeziehungen, theils in Folge der wech- selnden Parteistellung ihrer nächsten Territorialfürsten, das Bedürfniß, eine ihrer immer wachsenden Bedeutung entsprechende äußere Stellung zu erringen. Wie die deutschen Fürsten und weltlichen Herren je nach der Lage der Dinge und den aus derselben für ihre Selbständigkeit her- zuleitenden Folgen gemeinsam bald für, bald gegen den Kaiser eintra- ten, und eben so oft Bundesgenossen Roms wie deutsche Männer wa- ren, so schlossen sich auch die Städte einzelner Gaue enger aneinander und suchten ihre Interessen in die Wagschale der Ereignisse zu legen.
Zunächst nun erwuchs hieraus zwar ein neues Hinderniß allsei- tigen geistigen Fortschritts. Die Absonderung der Stände hatte anfangs die Folge, daß sich ihre besondern Leistungen nicht gegenseitig durch- drangen. Der von den Rittern und fahrenden Leuten gepflegten Dicht- kunst fehlte die "Reife des wissenschaftlichen Nachdenkens"; der Wissen- schaft dagegen, welche nur vom Klerus getrieben wurde, fehlte "Ge- schmack, Phantasie, künstlerische Gestaltung und Abrundung". Je schärfer sich aber dieser Gegensatz herausbildete, desto eher wurde es möglich, daß er überwunden wurde; und so kam es denn auch bald, daß Bürgerliche und Laien in den Gelehrtenstand eintraten. Damit wurde der Grund gelegt, daß die Wissenschaft volksthümlich177) wer- den konnte.
177) nicht "national", wie man von gewissen Seiten dies Verhältniß auffassen möchte.
Die Zoologie des Mittelalters.
Blickt man daneben auf die äußern politiſchen Verhältniſſe Mit- teleuropa's in der vorliegenden Periode, ſo bietet ſich in den beſtändigen Kämpfen der Parteien kein Punkt der Ruhe dar, welcher einen Auf- ſchwung wiſſenſchaftlichen Lebens hätte veranlaſſen können. Doch wur- den gerade in dieſer Unruhe die Keime zur Neugeſtaltung vorzüglich der ſo wichtigen ſocialen Verhältniſſe gelegt. Schon unter Friedrich dem Rothbart wurden die Freiheiten der lombardiſchen Städte gegründet und auf dem für die Stellung der kaiſerlichen Macht ſo traurigen Con- greſſe von Venedig zum erſtenmale officiell anerkannt. Nach dem Tode des genialſten, menſchen-, ſtaats-, und naturkundigen Kaiſers Fried- rich's II. fühlten auch die deutſchen Städte, theils wegen der Unſicher- heit ihrer Verkehrs- und Handelsbeziehungen, theils in Folge der wech- ſelnden Parteiſtellung ihrer nächſten Territorialfürſten, das Bedürfniß, eine ihrer immer wachſenden Bedeutung entſprechende äußere Stellung zu erringen. Wie die deutſchen Fürſten und weltlichen Herren je nach der Lage der Dinge und den aus derſelben für ihre Selbſtändigkeit her- zuleitenden Folgen gemeinſam bald für, bald gegen den Kaiſer eintra- ten, und eben ſo oft Bundesgenoſſen Roms wie deutſche Männer wa- ren, ſo ſchloſſen ſich auch die Städte einzelner Gaue enger aneinander und ſuchten ihre Intereſſen in die Wagſchale der Ereigniſſe zu legen.
Zunächſt nun erwuchs hieraus zwar ein neues Hinderniß allſei- tigen geiſtigen Fortſchritts. Die Abſonderung der Stände hatte anfangs die Folge, daß ſich ihre beſondern Leiſtungen nicht gegenſeitig durch- drangen. Der von den Rittern und fahrenden Leuten gepflegten Dicht- kunſt fehlte die „Reife des wiſſenſchaftlichen Nachdenkens“; der Wiſſen- ſchaft dagegen, welche nur vom Klerus getrieben wurde, fehlte „Ge- ſchmack, Phantaſie, künſtleriſche Geſtaltung und Abrundung“. Je ſchärfer ſich aber dieſer Gegenſatz herausbildete, deſto eher wurde es möglich, daß er überwunden wurde; und ſo kam es denn auch bald, daß Bürgerliche und Laien in den Gelehrtenſtand eintraten. Damit wurde der Grund gelegt, daß die Wiſſenſchaft volksthümlich177) wer- den konnte.
177) nicht „national“, wie man von gewiſſen Seiten dies Verhältniß auffaſſen möchte.
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Die Zoologie des Mittelalters.
Blickt man daneben auf die äußern politiſchen Verhältniſſe Mit-
teleuropa's in der vorliegenden Periode, ſo bietet ſich in den beſtändigen
Kämpfen der Parteien kein Punkt der Ruhe dar, welcher einen Auf-
ſchwung wiſſenſchaftlichen Lebens hätte veranlaſſen können. Doch wur-
den gerade in dieſer Unruhe die Keime zur Neugeſtaltung vorzüglich der
ſo wichtigen ſocialen Verhältniſſe gelegt. Schon unter Friedrich dem
Rothbart wurden die Freiheiten der lombardiſchen Städte gegründet
und auf dem für die Stellung der kaiſerlichen Macht ſo traurigen Con-
greſſe von Venedig zum erſtenmale officiell anerkannt. Nach dem Tode
des genialſten, menſchen-, ſtaats-, und naturkundigen Kaiſers Fried-
rich's II. fühlten auch die deutſchen Städte, theils wegen der Unſicher-
heit ihrer Verkehrs- und Handelsbeziehungen, theils in Folge der wech-
ſelnden Parteiſtellung ihrer nächſten Territorialfürſten, das Bedürfniß,
eine ihrer immer wachſenden Bedeutung entſprechende äußere Stellung
zu erringen. Wie die deutſchen Fürſten und weltlichen Herren je nach
der Lage der Dinge und den aus derſelben für ihre Selbſtändigkeit her-
zuleitenden Folgen gemeinſam bald für, bald gegen den Kaiſer eintra-
ten, und eben ſo oft Bundesgenoſſen Roms wie deutſche Männer wa-
ren, ſo ſchloſſen ſich auch die Städte einzelner Gaue enger aneinander
und ſuchten ihre Intereſſen in die Wagſchale der Ereigniſſe zu legen.
Zunächſt nun erwuchs hieraus zwar ein neues Hinderniß allſei-
tigen geiſtigen Fortſchritts. Die Abſonderung der Stände hatte anfangs
die Folge, daß ſich ihre beſondern Leiſtungen nicht gegenſeitig durch-
drangen. Der von den Rittern und fahrenden Leuten gepflegten Dicht-
kunſt fehlte die „Reife des wiſſenſchaftlichen Nachdenkens“; der Wiſſen-
ſchaft dagegen, welche nur vom Klerus getrieben wurde, fehlte „Ge-
ſchmack, Phantaſie, künſtleriſche Geſtaltung und Abrundung“. Je
ſchärfer ſich aber dieſer Gegenſatz herausbildete, deſto eher wurde es
möglich, daß er überwunden wurde; und ſo kam es denn auch bald,
daß Bürgerliche und Laien in den Gelehrtenſtand eintraten. Damit
wurde der Grund gelegt, daß die Wiſſenſchaft volksthümlich 177) wer-
den konnte.
177) nicht „national“, wie man von gewiſſen Seiten dies Verhältniß auffaſſen
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Carus, Julius Victor: Geschichte der Zoologie bis auf Johannes Müller und Charles Darwin. München, 1872, S. 202. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/carus_zoologie_1872/213>, abgerufen am 24.11.2024.
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