Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Carus, Julius Victor: Geschichte der Zoologie bis auf Johannes Müller und Charles Darwin. München, 1872.

Bild:
<< vorherige Seite

Uebersicht der den Alten bekannten Thierformen.
auf noch spätere Zeiten erhalten haben, einzeln rückwärts auf ihren
Ausgang und vorwärts auf ihre Verbreitung zu verfolgen. Es würde
sich daraus der Ursprung des schon in der frühesten christlichen Zeit
(schon von Origenes) erwähnten sogenannten "Physiologus", jedenfalls
ein zu didaktischen Zwecken zusammengestelltes Büchlein von den Thie-
ren sicherer erklären lassen, was um so wichtiger wäre, da derselbe
später vollständig oder in Trümmern in den verschiedensten Sprachen
wiedererscheint (s. unten).

Die geringe Ausdehnung des den Alten bekannten Ländergebietes
setzte auch der Kenntniß des Formenreichthums der Thiere eine natürliche
Grenze. Mögen auch schon in sehr früher Zeit durch die kleinasiatischen
Colonien und durch beständige Berührung mit Phönicien und Aegypten
Nachrichten über asiatische und afrikanische Thiere in das griechische
Volksbewußtsein und die Sprache der Hellenen eingedrungen sein, im-
merhin blieben die der positiven Grundlage eigener Betrachtung und
persönlicher Erfahrung entbehrenden Erzählungen unsicher und der be-
ständigen Ausschmückung mit fabelhaften Zuthaten ausgesetzt. Es wur-
den auch nicht bloß eine Anzahl rein mythischer Wesen aus derartigen
Nachrichten zusammengesetzt, sondern in einzelnen Fällen wurden irriger
Weise sogar fremde Thiere als in Europa vorkommend aufgeführt48).

48) Dies gilt vorzüglich vom Löwen, der nach Herodots Erzählung zwischen
den Flüssen Acheloos und Nestos in Thrakien vorgekommen sein soll. Sundevall
(die Thierarten des Aristoteles. Stockholm, 1863. S. 47) hat gewiß Recht, wenn
er die in der Historia animalium des Aristoteles zweimal vorkommende Stelle,
worin dieselbe Oertlichkeit mit Anführung derselben Flüsse als europäischer Wohn-
ort des Löwen bezeichnet wird (VI, 31. 178 u. VIII, 28. 165) als dem Herodot
entnommen annimmt. Plinius, der jene Angabe auch wiederholt, sagt ausdrück-
lich: is tradit . . . inter Acheloum etc. Icones esse. Nun war zu Homer's Zeit
der Wolf das größte in Griechenland einheimische Raubthier, trotzdem daß in den
Homerischen Gesängen der den ionischen Griechen aus Vorder-Asien (Syrien) be-
kannte Löwe als Sinnbild des Muthes und unbezähmter Kraft häufig vorkommt.
Jene Angabe des Herodot, die sich auf eine kurz nach seiner Geburt (480 v. Chr.)
vorgefallne, aber erst viel später, vielleicht in Thurii am Busen von Tarent, nie-
dergeschriebene Begebenheit bezieht, liegt aller Wahrscheinlichkeit nach eine Verwech-
selung entweder seitens des Erzählers oder schon der dabei betheiligt gewesenen
Personen oder der Zwischenträger, durch die sie zu Herodot's Kenntniß kam, zu
Grunde.

Ueberſicht der den Alten bekannten Thierformen.
auf noch ſpätere Zeiten erhalten haben, einzeln rückwärts auf ihren
Ausgang und vorwärts auf ihre Verbreitung zu verfolgen. Es würde
ſich daraus der Urſprung des ſchon in der früheſten chriſtlichen Zeit
(ſchon von Origenes) erwähnten ſogenannten „Phyſiologus“, jedenfalls
ein zu didaktiſchen Zwecken zuſammengeſtelltes Büchlein von den Thie-
ren ſicherer erklären laſſen, was um ſo wichtiger wäre, da derſelbe
ſpäter vollſtändig oder in Trümmern in den verſchiedenſten Sprachen
wiedererſcheint (ſ. unten).

Die geringe Ausdehnung des den Alten bekannten Ländergebietes
ſetzte auch der Kenntniß des Formenreichthums der Thiere eine natürliche
Grenze. Mögen auch ſchon in ſehr früher Zeit durch die kleinaſiatiſchen
Colonien und durch beſtändige Berührung mit Phönicien und Aegypten
Nachrichten über aſiatiſche und afrikaniſche Thiere in das griechiſche
Volksbewußtſein und die Sprache der Hellenen eingedrungen ſein, im-
merhin blieben die der poſitiven Grundlage eigener Betrachtung und
perſönlicher Erfahrung entbehrenden Erzählungen unſicher und der be-
ſtändigen Ausſchmückung mit fabelhaften Zuthaten ausgeſetzt. Es wur-
den auch nicht bloß eine Anzahl rein mythiſcher Weſen aus derartigen
Nachrichten zuſammengeſetzt, ſondern in einzelnen Fällen wurden irriger
Weiſe ſogar fremde Thiere als in Europa vorkommend aufgeführt48).

48) Dies gilt vorzüglich vom Löwen, der nach Herodots Erzählung zwiſchen
den Flüſſen Acheloos und Neſtos in Thrakien vorgekommen ſein ſoll. Sundevall
(die Thierarten des Ariſtoteles. Stockholm, 1863. S. 47) hat gewiß Recht, wenn
er die in der Historia animalium des Ariſtoteles zweimal vorkommende Stelle,
worin dieſelbe Oertlichkeit mit Anführung derſelben Flüſſe als europäiſcher Wohn-
ort des Löwen bezeichnet wird (VI, 31. 178 u. VIII, 28. 165) als dem Herodot
entnommen annimmt. Plinius, der jene Angabe auch wiederholt, ſagt ausdrück-
lich: is tradit . . . inter Acheloum etc. Icones esse. Nun war zu Homer's Zeit
der Wolf das größte in Griechenland einheimiſche Raubthier, trotzdem daß in den
Homeriſchen Geſängen der den ioniſchen Griechen aus Vorder-Aſien (Syrien) be-
kannte Löwe als Sinnbild des Muthes und unbezähmter Kraft häufig vorkommt.
Jene Angabe des Herodot, die ſich auf eine kurz nach ſeiner Geburt (480 v. Chr.)
vorgefallne, aber erſt viel ſpäter, vielleicht in Thurii am Buſen von Tarent, nie-
dergeſchriebene Begebenheit bezieht, liegt aller Wahrſcheinlichkeit nach eine Verwech-
ſelung entweder ſeitens des Erzählers oder ſchon der dabei betheiligt geweſenen
Perſonen oder der Zwiſchenträger, durch die ſie zu Herodot's Kenntniß kam, zu
Grunde.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0052" n="41"/><fw place="top" type="header">Ueber&#x017F;icht der den Alten bekannten Thierformen.</fw><lb/>
auf noch &#x017F;pätere Zeiten erhalten haben, einzeln rückwärts auf ihren<lb/>
Ausgang und vorwärts auf ihre Verbreitung zu verfolgen. Es würde<lb/>
&#x017F;ich daraus der Ur&#x017F;prung des &#x017F;chon in der frühe&#x017F;ten chri&#x017F;tlichen Zeit<lb/>
(&#x017F;chon von <persName ref="http://d-nb.info/gnd/118590235">Origenes</persName>) erwähnten &#x017F;ogenannten &#x201E;Phy&#x017F;iologus&#x201C;, jedenfalls<lb/>
ein zu didakti&#x017F;chen Zwecken zu&#x017F;ammenge&#x017F;telltes Büchlein von den Thie-<lb/>
ren &#x017F;icherer erklären la&#x017F;&#x017F;en, was um &#x017F;o wichtiger wäre, da der&#x017F;elbe<lb/>
&#x017F;päter voll&#x017F;tändig oder in Trümmern in den ver&#x017F;chieden&#x017F;ten Sprachen<lb/>
wiederer&#x017F;cheint (&#x017F;. unten).</p><lb/>
          <p>Die geringe Ausdehnung des den Alten bekannten Ländergebietes<lb/>
&#x017F;etzte auch der Kenntniß des Formenreichthums der Thiere eine natürliche<lb/>
Grenze. Mögen auch &#x017F;chon in &#x017F;ehr früher Zeit durch die kleina&#x017F;iati&#x017F;chen<lb/>
Colonien und durch be&#x017F;tändige Berührung mit Phönicien und Aegypten<lb/>
Nachrichten über a&#x017F;iati&#x017F;che und afrikani&#x017F;che Thiere in das griechi&#x017F;che<lb/>
Volksbewußt&#x017F;ein und die Sprache der Hellenen eingedrungen &#x017F;ein, im-<lb/>
merhin blieben die der po&#x017F;itiven Grundlage eigener Betrachtung und<lb/>
per&#x017F;önlicher Erfahrung entbehrenden Erzählungen un&#x017F;icher und der be-<lb/>
&#x017F;tändigen Aus&#x017F;chmückung mit fabelhaften Zuthaten ausge&#x017F;etzt. Es wur-<lb/>
den auch nicht bloß eine Anzahl rein mythi&#x017F;cher We&#x017F;en aus derartigen<lb/>
Nachrichten zu&#x017F;ammenge&#x017F;etzt, &#x017F;ondern in einzelnen Fällen wurden irriger<lb/>
Wei&#x017F;e &#x017F;ogar fremde Thiere als in Europa vorkommend aufgeführt<note place="foot" n="48)">Dies gilt vorzüglich vom Löwen, der nach <persName ref="http://d-nb.info/gnd/118549855">Herodot</persName>s Erzählung zwi&#x017F;chen<lb/>
den Flü&#x017F;&#x017F;en Acheloos und Ne&#x017F;tos in Thrakien vorgekommen &#x017F;ein &#x017F;oll. <hi rendition="#g"><persName ref="http://d-nb.info/gnd/118087460">Sundevall</persName></hi><lb/>
(die Thierarten des <persName ref="http://d-nb.info/gnd/118650130">Ari&#x017F;toteles</persName>. Stockholm, 1863. S. 47) hat gewiß Recht, wenn<lb/>
er die in der <hi rendition="#aq">Historia animalium</hi> des <persName ref="http://d-nb.info/gnd/118650130">Ari&#x017F;toteles</persName> zweimal vorkommende Stelle,<lb/>
worin die&#x017F;elbe Oertlichkeit mit Anführung der&#x017F;elben Flü&#x017F;&#x017F;e als europäi&#x017F;cher Wohn-<lb/>
ort des Löwen bezeichnet wird (<hi rendition="#aq">VI, 31. 178 </hi> u. <hi rendition="#aq"> VIII, 28. 165</hi>) als dem <persName ref="http://d-nb.info/gnd/118549855">Herodot</persName><lb/>
entnommen annimmt. <persName ref="http://d-nb.info/gnd/118595083">Plinius</persName>, der jene Angabe auch wiederholt, &#x017F;agt ausdrück-<lb/>
lich: <hi rendition="#aq">is tradit . . . inter Acheloum etc. Icones esse.</hi> Nun war zu <persName ref="http://d-nb.info/gnd/11855333X">Homer</persName>'s Zeit<lb/>
der Wolf das größte in Griechenland einheimi&#x017F;che Raubthier, trotzdem daß in den<lb/>
Homeri&#x017F;chen Ge&#x017F;ängen der den ioni&#x017F;chen Griechen aus Vorder-A&#x017F;ien (Syrien) be-<lb/>
kannte Löwe als Sinnbild des Muthes und unbezähmter Kraft häufig vorkommt.<lb/>
Jene Angabe des <persName ref="http://d-nb.info/gnd/118549855">Herodot</persName>, die &#x017F;ich auf eine kurz nach &#x017F;einer Geburt (480 v. Chr.)<lb/>
vorgefallne, aber er&#x017F;t viel &#x017F;päter, vielleicht in Thurii am Bu&#x017F;en von Tarent, nie-<lb/>
derge&#x017F;chriebene Begebenheit bezieht, liegt aller Wahr&#x017F;cheinlichkeit nach eine Verwech-<lb/>
&#x017F;elung entweder &#x017F;eitens des Erzählers oder &#x017F;chon der dabei betheiligt gewe&#x017F;enen<lb/>
Per&#x017F;onen oder der Zwi&#x017F;chenträger, durch die &#x017F;ie zu <persName ref="http://d-nb.info/gnd/118549855">Herodot</persName>'s Kenntniß kam, zu<lb/>
Grunde.</note>.<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[41/0052] Ueberſicht der den Alten bekannten Thierformen. auf noch ſpätere Zeiten erhalten haben, einzeln rückwärts auf ihren Ausgang und vorwärts auf ihre Verbreitung zu verfolgen. Es würde ſich daraus der Urſprung des ſchon in der früheſten chriſtlichen Zeit (ſchon von Origenes) erwähnten ſogenannten „Phyſiologus“, jedenfalls ein zu didaktiſchen Zwecken zuſammengeſtelltes Büchlein von den Thie- ren ſicherer erklären laſſen, was um ſo wichtiger wäre, da derſelbe ſpäter vollſtändig oder in Trümmern in den verſchiedenſten Sprachen wiedererſcheint (ſ. unten). Die geringe Ausdehnung des den Alten bekannten Ländergebietes ſetzte auch der Kenntniß des Formenreichthums der Thiere eine natürliche Grenze. Mögen auch ſchon in ſehr früher Zeit durch die kleinaſiatiſchen Colonien und durch beſtändige Berührung mit Phönicien und Aegypten Nachrichten über aſiatiſche und afrikaniſche Thiere in das griechiſche Volksbewußtſein und die Sprache der Hellenen eingedrungen ſein, im- merhin blieben die der poſitiven Grundlage eigener Betrachtung und perſönlicher Erfahrung entbehrenden Erzählungen unſicher und der be- ſtändigen Ausſchmückung mit fabelhaften Zuthaten ausgeſetzt. Es wur- den auch nicht bloß eine Anzahl rein mythiſcher Weſen aus derartigen Nachrichten zuſammengeſetzt, ſondern in einzelnen Fällen wurden irriger Weiſe ſogar fremde Thiere als in Europa vorkommend aufgeführt 48). 48) Dies gilt vorzüglich vom Löwen, der nach Herodots Erzählung zwiſchen den Flüſſen Acheloos und Neſtos in Thrakien vorgekommen ſein ſoll. Sundevall (die Thierarten des Ariſtoteles. Stockholm, 1863. S. 47) hat gewiß Recht, wenn er die in der Historia animalium des Ariſtoteles zweimal vorkommende Stelle, worin dieſelbe Oertlichkeit mit Anführung derſelben Flüſſe als europäiſcher Wohn- ort des Löwen bezeichnet wird (VI, 31. 178 u. VIII, 28. 165) als dem Herodot entnommen annimmt. Plinius, der jene Angabe auch wiederholt, ſagt ausdrück- lich: is tradit . . . inter Acheloum etc. Icones esse. Nun war zu Homer's Zeit der Wolf das größte in Griechenland einheimiſche Raubthier, trotzdem daß in den Homeriſchen Geſängen der den ioniſchen Griechen aus Vorder-Aſien (Syrien) be- kannte Löwe als Sinnbild des Muthes und unbezähmter Kraft häufig vorkommt. Jene Angabe des Herodot, die ſich auf eine kurz nach ſeiner Geburt (480 v. Chr.) vorgefallne, aber erſt viel ſpäter, vielleicht in Thurii am Buſen von Tarent, nie- dergeſchriebene Begebenheit bezieht, liegt aller Wahrſcheinlichkeit nach eine Verwech- ſelung entweder ſeitens des Erzählers oder ſchon der dabei betheiligt geweſenen Perſonen oder der Zwiſchenträger, durch die ſie zu Herodot's Kenntniß kam, zu Grunde.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/carus_zoologie_1872
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/carus_zoologie_1872/52
Zitationshilfe: Carus, Julius Victor: Geschichte der Zoologie bis auf Johannes Müller und Charles Darwin. München, 1872, S. 41. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/carus_zoologie_1872/52>, abgerufen am 17.05.2024.