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Carus, Julius Victor: Geschichte der Zoologie bis auf Johannes Müller und Charles Darwin. München, 1872.

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Periode der Systematik.
Mensch; indessen sagt er selbst, daß es logischer wäre, vom Einfachen
zum Zusammengesetzten vorzuschreiten, statt umgekehrt zu verfahren.
Seine sorgfältig ausgeführten Uebersichtstabellen enthalten ganz ähnlich
wie bei Hunter Gruppen von Thieren, welche in der Entwickelungsart
einer bestimmten Function und der betreffenden Organe übereinstimmen.
Und es ist zunächst nur der physiologische Gesichtspunkt, welcher ihn
dazu führt, die vordern und hintern Gliedmaßen mit einander zu ver-
gleichen, wobei er natürlich nicht umhin kann, von der Bedeutung der
einzelnen Theile zu sprechen. Umgekehrt ist es das Verfolgen des thie-
rischen einheitlichen Planes, welches ihn auf die Entdeckung des Zwi-
schenkiefers beim Menschen, der Schlüsselbeine bei Hasen u. s. f. führte.
Sehr eingehend sind seine Untersuchungen über die Muskeln der Säuge-
thiere und Vögel, über das Gehirn, über die Anatomie der Fische.
Bei der Ausführung seines Planes, die ganze organische Natur physio-
logisch-anatomisch zu mustern, mußte er natürlich davon absehn, sämmt-
liche Formen zergliedernd zu prüfen. Bei der Auswahl wie bei der
Arbeit selbst wurde er zum Theil von Daubenton (dessen Nichte er ge-
heirathet hatte), besonders aber von Claude Ant. Gasp. Riche (geb.
1762 in Montpellier, Begleiter d'Entrecasteaux's, gest. 1797) unter-
stützt. Wie er im Beginn seiner Laufbahn viel von der Eifersucht seiner
Collegen zu leiden gehabt hatte, so hat ihm auch ein neidisches Geschick
nicht gestattet, seinen weit angelegten Plan auszuführen.

Endlich fand auch das Seelenleben der Thiere fortgesetzter eine
aufmerksame Berücksichtigung. Trat auch die Behandlung der schwie-
rigen Frage nicht häufig aus der Form der Sammlung einzelner That-
sachen heraus, so veranlaßten doch die philosophischerseits aufgestellten
Ansichten über die Thiere besondere Theorien, welche oft, mit den Fol-
gerungen religiöser Ueberlieferungen nicht vereinbar, unfruchtbare
Streitigkeiten erregten. Wie aber den anatomischen Arbeiten noch der
richtige leitende Gedanke fehlte, so war besonders auf vergleichend psy-
chologischem Gebiete Methode und Kritik zu vermissen; und vielleicht
war es gerade das Zusammenhanglose der anekdotenhaft mitgetheilten
Thatsachen, welches die betreffenden Untersuchungen in Miscredit ge-
bracht und den Fortschritt auf diesem Gebiete länger als es aus dem

Periode der Syſtematik.
Menſch; indeſſen ſagt er ſelbſt, daß es logiſcher wäre, vom Einfachen
zum Zuſammengeſetzten vorzuſchreiten, ſtatt umgekehrt zu verfahren.
Seine ſorgfältig ausgeführten Ueberſichtstabellen enthalten ganz ähnlich
wie bei Hunter Gruppen von Thieren, welche in der Entwickelungsart
einer beſtimmten Function und der betreffenden Organe übereinſtimmen.
Und es iſt zunächſt nur der phyſiologiſche Geſichtspunkt, welcher ihn
dazu führt, die vordern und hintern Gliedmaßen mit einander zu ver-
gleichen, wobei er natürlich nicht umhin kann, von der Bedeutung der
einzelnen Theile zu ſprechen. Umgekehrt iſt es das Verfolgen des thie-
riſchen einheitlichen Planes, welches ihn auf die Entdeckung des Zwi-
ſchenkiefers beim Menſchen, der Schlüſſelbeine bei Haſen u. ſ. f. führte.
Sehr eingehend ſind ſeine Unterſuchungen über die Muskeln der Säuge-
thiere und Vögel, über das Gehirn, über die Anatomie der Fiſche.
Bei der Ausführung ſeines Planes, die ganze organiſche Natur phyſio-
logiſch-anatomiſch zu muſtern, mußte er natürlich davon abſehn, ſämmt-
liche Formen zergliedernd zu prüfen. Bei der Auswahl wie bei der
Arbeit ſelbſt wurde er zum Theil von Daubenton (deſſen Nichte er ge-
heirathet hatte), beſonders aber von Claude Ant. Gasp. Riche (geb.
1762 in Montpellier, Begleiter d'Entrecaſteaux's, geſt. 1797) unter-
ſtützt. Wie er im Beginn ſeiner Laufbahn viel von der Eiferſucht ſeiner
Collegen zu leiden gehabt hatte, ſo hat ihm auch ein neidiſches Geſchick
nicht geſtattet, ſeinen weit angelegten Plan auszuführen.

Endlich fand auch das Seelenleben der Thiere fortgeſetzter eine
aufmerkſame Berückſichtigung. Trat auch die Behandlung der ſchwie-
rigen Frage nicht häufig aus der Form der Sammlung einzelner That-
ſachen heraus, ſo veranlaßten doch die philoſophiſcherſeits aufgeſtellten
Anſichten über die Thiere beſondere Theorien, welche oft, mit den Fol-
gerungen religiöſer Ueberlieferungen nicht vereinbar, unfruchtbare
Streitigkeiten erregten. Wie aber den anatomiſchen Arbeiten noch der
richtige leitende Gedanke fehlte, ſo war beſonders auf vergleichend pſy-
chologiſchem Gebiete Methode und Kritik zu vermiſſen; und vielleicht
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[570/0581] Periode der Syſtematik. Menſch; indeſſen ſagt er ſelbſt, daß es logiſcher wäre, vom Einfachen zum Zuſammengeſetzten vorzuſchreiten, ſtatt umgekehrt zu verfahren. Seine ſorgfältig ausgeführten Ueberſichtstabellen enthalten ganz ähnlich wie bei Hunter Gruppen von Thieren, welche in der Entwickelungsart einer beſtimmten Function und der betreffenden Organe übereinſtimmen. Und es iſt zunächſt nur der phyſiologiſche Geſichtspunkt, welcher ihn dazu führt, die vordern und hintern Gliedmaßen mit einander zu ver- gleichen, wobei er natürlich nicht umhin kann, von der Bedeutung der einzelnen Theile zu ſprechen. Umgekehrt iſt es das Verfolgen des thie- riſchen einheitlichen Planes, welches ihn auf die Entdeckung des Zwi- ſchenkiefers beim Menſchen, der Schlüſſelbeine bei Haſen u. ſ. f. führte. Sehr eingehend ſind ſeine Unterſuchungen über die Muskeln der Säuge- thiere und Vögel, über das Gehirn, über die Anatomie der Fiſche. Bei der Ausführung ſeines Planes, die ganze organiſche Natur phyſio- logiſch-anatomiſch zu muſtern, mußte er natürlich davon abſehn, ſämmt- liche Formen zergliedernd zu prüfen. Bei der Auswahl wie bei der Arbeit ſelbſt wurde er zum Theil von Daubenton (deſſen Nichte er ge- heirathet hatte), beſonders aber von Claude Ant. Gasp. Riche (geb. 1762 in Montpellier, Begleiter d'Entrecaſteaux's, geſt. 1797) unter- ſtützt. Wie er im Beginn ſeiner Laufbahn viel von der Eiferſucht ſeiner Collegen zu leiden gehabt hatte, ſo hat ihm auch ein neidiſches Geſchick nicht geſtattet, ſeinen weit angelegten Plan auszuführen. Endlich fand auch das Seelenleben der Thiere fortgeſetzter eine aufmerkſame Berückſichtigung. Trat auch die Behandlung der ſchwie- rigen Frage nicht häufig aus der Form der Sammlung einzelner That- ſachen heraus, ſo veranlaßten doch die philoſophiſcherſeits aufgeſtellten Anſichten über die Thiere beſondere Theorien, welche oft, mit den Fol- gerungen religiöſer Ueberlieferungen nicht vereinbar, unfruchtbare Streitigkeiten erregten. Wie aber den anatomiſchen Arbeiten noch der richtige leitende Gedanke fehlte, ſo war beſonders auf vergleichend pſy- chologiſchem Gebiete Methode und Kritik zu vermiſſen; und vielleicht war es gerade das Zuſammenhangloſe der anekdotenhaft mitgetheilten Thatſachen, welches die betreffenden Unterſuchungen in Miscredit ge- bracht und den Fortſchritt auf dieſem Gebiete länger als es aus dem

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Zitationshilfe: Carus, Julius Victor: Geschichte der Zoologie bis auf Johannes Müller und Charles Darwin. München, 1872, S. 570. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/carus_zoologie_1872/581>, abgerufen am 22.11.2024.