Carus, Julius Victor: Geschichte der Zoologie bis auf Johannes Müller und Charles Darwin. München, 1872.einer der ersten, welcher sich ein reiches Material sammelte, um "die Zoologie auf vergleichende Anatomie und Physiologie zu gründen und eine möglichst vollständige Vergleichung der Thiere unter sich nach ihrer Zusammensetzung und nach der Verschiedenheit ihrer organischen Sy- steme und deren Functionen durchführen zu können". Obschon er nur wenig veröffentlicht hat, war doch seine Wirksamkeit als Lehrer in dem angegebenen Sinne so glücklich, daß man ihm einen nicht unbedeutenden Einfluß auf die Entwickelung der Wissenschaft in den ersten Jahren dieses Jahrhunderts zuschreiben darf. Auch Cuvier nennt ihn wieder- holt seinen Lehrer10). Man hat ihn zuweilen als Vorläufer der Natur- philosophie angesehn; doch wird er den Anhängern derselben nur in der äußeren Form seiner Verallgemeinerungen ähnlich, welche sich durch einen bedeutenderen Inhalt von denen der Naturphilosophen wesentlich unterscheiden. Vor letzteren hat er eine viel klarere Logik und eine be- sonnenere Abstraction voraus. Er vergleicht die Functionskreise in den verschiedenen Thiergruppen und stellt deren gegenseitiges Verhältniß in allgemeinen Sätzen dar, welche allerdings noch nicht auf den allmäh- lichen Aufbau des Thierkörpers aus Organsystemen und deren immer weitere Vermannichfachung nach gewissen Plänen führen, aber doch zum erstenmale eine Constanz bestimmter Formerscheinungen unter gewissen Organisationsverhältnissen aufdecken. Bei seinen Ableitungen kommt er auch auf den Vergleich früherer Entwickelungszustände höherer Thiere mit niederen Thieren. Da ihm aber Entwickelungsgeschichte noch fern lag, gelingt es ihm nicht, diesen Satz fruchtbar zu ver- wenden11). Etwas jünger als Kielmeyer war ein Mann, welcher ziemlich 10) Von dem Verhältnisse Cuvier's zu Kielmeyer s. unten. Welche verbreitete Anerkennung Kielmeyer gefunden hatte, beweist u. A. der Umstand, daß A. von Humboldt ihm seine Untersuchungen aus der Zoologie widmete. 11) Nach 1794 hatte Kielmeyer angefangen, eine allgemeine Einleitung in die Zoologie, welche Pfaff "eine meisterhafte Ausführung jener kürzeren Rede (Ueber die Verhältnisse der organischen Kräfte, 1793)" nennt, drucken zu lassen. Nach zwanzig Bogen unterbrach er den Druck. Das Gedruckte ist leider unauffindbar. V. Carus, Gesch. d. Zool. 38
einer der erſten, welcher ſich ein reiches Material ſammelte, um „die Zoologie auf vergleichende Anatomie und Phyſiologie zu gründen und eine möglichſt vollſtändige Vergleichung der Thiere unter ſich nach ihrer Zuſammenſetzung und nach der Verſchiedenheit ihrer organiſchen Sy- ſteme und deren Functionen durchführen zu können“. Obſchon er nur wenig veröffentlicht hat, war doch ſeine Wirkſamkeit als Lehrer in dem angegebenen Sinne ſo glücklich, daß man ihm einen nicht unbedeutenden Einfluß auf die Entwickelung der Wiſſenſchaft in den erſten Jahren dieſes Jahrhunderts zuſchreiben darf. Auch Cuvier nennt ihn wieder- holt ſeinen Lehrer10). Man hat ihn zuweilen als Vorläufer der Natur- philoſophie angeſehn; doch wird er den Anhängern derſelben nur in der äußeren Form ſeiner Verallgemeinerungen ähnlich, welche ſich durch einen bedeutenderen Inhalt von denen der Naturphiloſophen weſentlich unterſcheiden. Vor letzteren hat er eine viel klarere Logik und eine be- ſonnenere Abſtraction voraus. Er vergleicht die Functionskreiſe in den verſchiedenen Thiergruppen und ſtellt deren gegenſeitiges Verhältniß in allgemeinen Sätzen dar, welche allerdings noch nicht auf den allmäh- lichen Aufbau des Thierkörpers aus Organſyſtemen und deren immer weitere Vermannichfachung nach gewiſſen Plänen führen, aber doch zum erſtenmale eine Conſtanz beſtimmter Formerſcheinungen unter gewiſſen Organiſationsverhältniſſen aufdecken. Bei ſeinen Ableitungen kommt er auch auf den Vergleich früherer Entwickelungszuſtände höherer Thiere mit niederen Thieren. Da ihm aber Entwickelungsgeſchichte noch fern lag, gelingt es ihm nicht, dieſen Satz fruchtbar zu ver- wenden11). Etwas jünger als Kielmeyer war ein Mann, welcher ziemlich 10) Von dem Verhältniſſe Cuvier's zu Kielmeyer ſ. unten. Welche verbreitete Anerkennung Kielmeyer gefunden hatte, beweiſt u. A. der Umſtand, daß A. von Humboldt ihm ſeine Unterſuchungen aus der Zoologie widmete. 11) Nach 1794 hatte Kielmeyer angefangen, eine allgemeine Einleitung in die Zoologie, welche Pfaff „eine meiſterhafte Ausführung jener kürzeren Rede (Ueber die Verhältniſſe der organiſchen Kräfte, 1793)“ nennt, drucken zu laſſen. Nach zwanzig Bogen unterbrach er den Druck. Das Gedruckte iſt leider unauffindbar. V. Carus, Geſch. d. Zool. 38
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Kielmeyer.
einer der erſten, welcher ſich ein reiches Material ſammelte, um „die
Zoologie auf vergleichende Anatomie und Phyſiologie zu gründen und
eine möglichſt vollſtändige Vergleichung der Thiere unter ſich nach ihrer
Zuſammenſetzung und nach der Verſchiedenheit ihrer organiſchen Sy-
ſteme und deren Functionen durchführen zu können“. Obſchon er nur
wenig veröffentlicht hat, war doch ſeine Wirkſamkeit als Lehrer in dem
angegebenen Sinne ſo glücklich, daß man ihm einen nicht unbedeutenden
Einfluß auf die Entwickelung der Wiſſenſchaft in den erſten Jahren
dieſes Jahrhunderts zuſchreiben darf. Auch Cuvier nennt ihn wieder-
holt ſeinen Lehrer 10). Man hat ihn zuweilen als Vorläufer der Natur-
philoſophie angeſehn; doch wird er den Anhängern derſelben nur in der
äußeren Form ſeiner Verallgemeinerungen ähnlich, welche ſich durch
einen bedeutenderen Inhalt von denen der Naturphiloſophen weſentlich
unterſcheiden. Vor letzteren hat er eine viel klarere Logik und eine be-
ſonnenere Abſtraction voraus. Er vergleicht die Functionskreiſe in den
verſchiedenen Thiergruppen und ſtellt deren gegenſeitiges Verhältniß in
allgemeinen Sätzen dar, welche allerdings noch nicht auf den allmäh-
lichen Aufbau des Thierkörpers aus Organſyſtemen und deren immer
weitere Vermannichfachung nach gewiſſen Plänen führen, aber doch
zum erſtenmale eine Conſtanz beſtimmter Formerſcheinungen unter
gewiſſen Organiſationsverhältniſſen aufdecken. Bei ſeinen Ableitungen
kommt er auch auf den Vergleich früherer Entwickelungszuſtände höherer
Thiere mit niederen Thieren. Da ihm aber Entwickelungsgeſchichte
noch fern lag, gelingt es ihm nicht, dieſen Satz fruchtbar zu ver-
wenden 11).
Etwas jünger als Kielmeyer war ein Mann, welcher ziemlich
gleichzeitig aber unabhängig von ihm in Paris begann in ausgedehnter
10) Von dem Verhältniſſe Cuvier's zu Kielmeyer ſ. unten. Welche verbreitete
Anerkennung Kielmeyer gefunden hatte, beweiſt u. A. der Umſtand, daß A. von
Humboldt ihm ſeine Unterſuchungen aus der Zoologie widmete.
11) Nach 1794 hatte Kielmeyer angefangen, eine allgemeine Einleitung in die
Zoologie, welche Pfaff „eine meiſterhafte Ausführung jener kürzeren Rede (Ueber
die Verhältniſſe der organiſchen Kräfte, 1793)“ nennt, drucken zu laſſen. Nach zwanzig
Bogen unterbrach er den Druck. Das Gedruckte iſt leider unauffindbar.
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