Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 1. München 1899.Hellenische Kunst und Philosophie. genug "ganz Philosoph" sein; jedenfalls war er es genug, um --dank seiner hellenischen Gestaltungskraft -- mehr hartnäckigen Irrtum in die Welt zu säen, als jemals ein Mann vor ihm oder nach ihm. Die Naturwissenschaften waren bis vor kurzem an allen Ecken und Enden durch ihn gehemmt; die Philosophie, und namentlich die Metaphysik, hat ihn noch nicht abgeschüttelt; unsere Theologie ist -- ja, wie soll ich sagen? -- sie ist sein uneheliches Kind: wahrlich dieses grosse und bedeutende Erbe der alten Welt war ein zwei- schneidiges Schwert. Ich komme gleich in einem anderen Zusammen- hang auf Aristoteles und die griechische Philosophie zurück; hier will ich nur noch hinzufügen, dass die Griechen allerdings eines Aristoteles sehr bedurften, der auf empirische Methoden den Nach- druck legte und in allen Dingen den goldenen Mittelweg empfahl; in ihrem genialen Übermute und Schaffensdrange waren sie geneigt, hinaus und hinauf zu stürmen mit einer leichtfertigen Missachtung des ernsten Bodens der Realität, die mit der Zeit Unheil schaffen musste; charakteristisch ist jedoch, dass Aristoteles, so ganz Hellene er auch war, auf die Entwickelung des griechischen Geisteslebens zunächst von verhältnismässig geringem Einfluss blieb; der gesunde Instinkt des schaffensfreudigen Volkes empörte sich gegen eine so tötlich heftige Reaktion und empfand vielleicht dunkel, dass dieser angebliche Empiriker als Heilmittel das Gift des Dogmas mit sich führte. Aristoteles war nämlich von Beruf Arzt, -- er gab das grosse Beispiel des Arztes, der seinen Patienten umbringt, um ihn zu heilen. Doch jener erste Patient war widerspenstig; er rettete sich lieber in die Arme des neoplatonischen Quacksalbers. Wir armen Spätgeborenen erbten nun Arzt und Quacksalber zugleich, die beide unseren gesunden Körper mit ihren Droguen tränkten. Gott stehe uns bei! Ein Wort noch über hellenische Wissenschaft. Es ist nur natür-Natur- Wenn es ein Gebiet giebt, auf welchem man weniger als nichts 6*
Hellenische Kunst und Philosophie. genug »ganz Philosoph« sein; jedenfalls war er es genug, um —dank seiner hellenischen Gestaltungskraft — mehr hartnäckigen Irrtum in die Welt zu säen, als jemals ein Mann vor ihm oder nach ihm. Die Naturwissenschaften waren bis vor kurzem an allen Ecken und Enden durch ihn gehemmt; die Philosophie, und namentlich die Metaphysik, hat ihn noch nicht abgeschüttelt; unsere Theologie ist — ja, wie soll ich sagen? — sie ist sein uneheliches Kind: wahrlich dieses grosse und bedeutende Erbe der alten Welt war ein zwei- schneidiges Schwert. Ich komme gleich in einem anderen Zusammen- hang auf Aristoteles und die griechische Philosophie zurück; hier will ich nur noch hinzufügen, dass die Griechen allerdings eines Aristoteles sehr bedurften, der auf empirische Methoden den Nach- druck legte und in allen Dingen den goldenen Mittelweg empfahl; in ihrem genialen Übermute und Schaffensdrange waren sie geneigt, hinaus und hinauf zu stürmen mit einer leichtfertigen Missachtung des ernsten Bodens der Realität, die mit der Zeit Unheil schaffen musste; charakteristisch ist jedoch, dass Aristoteles, so ganz Hellene er auch war, auf die Entwickelung des griechischen Geisteslebens zunächst von verhältnismässig geringem Einfluss blieb; der gesunde Instinkt des schaffensfreudigen Volkes empörte sich gegen eine so tötlich heftige Reaktion und empfand vielleicht dunkel, dass dieser angebliche Empiriker als Heilmittel das Gift des Dogmas mit sich führte. Aristoteles war nämlich von Beruf Arzt, — er gab das grosse Beispiel des Arztes, der seinen Patienten umbringt, um ihn zu heilen. Doch jener erste Patient war widerspenstig; er rettete sich lieber in die Arme des neoplatonischen Quacksalbers. Wir armen Spätgeborenen erbten nun Arzt und Quacksalber zugleich, die beide unseren gesunden Körper mit ihren Droguen tränkten. Gott stehe uns bei! Ein Wort noch über hellenische Wissenschaft. Es ist nur natür-Natur- Wenn es ein Gebiet giebt, auf welchem man weniger als nichts 6*
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Hellenische Kunst und Philosophie.
genug »ganz Philosoph« sein; jedenfalls war er es genug, um —
dank seiner hellenischen Gestaltungskraft — mehr hartnäckigen Irrtum
in die Welt zu säen, als jemals ein Mann vor ihm oder nach ihm.
Die Naturwissenschaften waren bis vor kurzem an allen Ecken und
Enden durch ihn gehemmt; die Philosophie, und namentlich die
Metaphysik, hat ihn noch nicht abgeschüttelt; unsere Theologie ist
— ja, wie soll ich sagen? — sie ist sein uneheliches Kind: wahrlich
dieses grosse und bedeutende Erbe der alten Welt war ein zwei-
schneidiges Schwert. Ich komme gleich in einem anderen Zusammen-
hang auf Aristoteles und die griechische Philosophie zurück; hier
will ich nur noch hinzufügen, dass die Griechen allerdings eines
Aristoteles sehr bedurften, der auf empirische Methoden den Nach-
druck legte und in allen Dingen den goldenen Mittelweg empfahl;
in ihrem genialen Übermute und Schaffensdrange waren sie geneigt,
hinaus und hinauf zu stürmen mit einer leichtfertigen Missachtung
des ernsten Bodens der Realität, die mit der Zeit Unheil schaffen
musste; charakteristisch ist jedoch, dass Aristoteles, so ganz Hellene
er auch war, auf die Entwickelung des griechischen Geisteslebens
zunächst von verhältnismässig geringem Einfluss blieb; der gesunde
Instinkt des schaffensfreudigen Volkes empörte sich gegen eine so
tötlich heftige Reaktion und empfand vielleicht dunkel, dass dieser
angebliche Empiriker als Heilmittel das Gift des Dogmas mit sich
führte. Aristoteles war nämlich von Beruf Arzt, — er gab das grosse
Beispiel des Arztes, der seinen Patienten umbringt, um ihn zu heilen.
Doch jener erste Patient war widerspenstig; er rettete sich lieber in
die Arme des neoplatonischen Quacksalbers. Wir armen Spätgeborenen
erbten nun Arzt und Quacksalber zugleich, die beide unseren gesunden
Körper mit ihren Droguen tränkten. Gott stehe uns bei!
Ein Wort noch über hellenische Wissenschaft. Es ist nur natür-
lich, dass die wissenschaftlichen Errungenschaften der Griechen für
uns kaum mehr als ein historisches Interesse besitzen; sie sind längst
überholt. Was uns jedoch nicht gleichgültig lassen kann, ist die
Wahrnehmung des unglaublichen Aufschwunges, den die richtige
Deutung der Natur unter dem Einflusse der Entfaltung neuentdeckter
künstlerischer Fähigkeiten nahm. Unwillkürlich wird man an Schiller’s
Behauptung erinnert: man könne den Schein von der Wirklichkeit nicht
sondern, ohne zugleich die Wirklichkeit von dem Scheine zu reinigen.
Natur-
wissenschaft.
Wenn es ein Gebiet giebt, auf welchem man weniger als nichts
von den Hellenen erwarten würde, so ist es das der Erdkunde.
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