Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 1. München 1899.

Bild:
<< vorherige Seite

Hellenische Kunst und Philosophie.
übermächtigen Genius Gestalt und Lebenskraft gewonnen: das
"mechanische Jahrhundert" hätte allen Grund, in Archimedes seinen
Vater zu verehren.

Da die Leistungen und die Eigenart der Griechen mich hierÖffentliches
Leben.

nur insofern angehen, als sie wichtige Faktoren unserer neuen Kultur
und lebendige Bestandteile unseres Jahrhundertes waren, muss manches
übergangen werden, was es sonst verlockend gewesen wäre, im An-
schluss an das Gesagte näher auszuführen. Wie die schöpferische Kunst
das einigende Moment für ganz Hellas wurde, sagte uns oben Rohde.
Dann sahen wir die Kunst -- allmählich zu Philosophie und Wissen-
schaft sich erweiternd -- die Fundamente einer Harmonie des Denkens
und des Empfindens und des Erkennens begründen. Das dehnte sich
denn auch auf das Gebiet des öffentlichen Lebens aus. Die unend-
liche Sorgfalt, welche auf die Ausbildung schöner kräftiger Körper
verwendet wurde, gehorchte künstlerischen Normen; der Dichter
hatte die Ideale geschaffen, nach deren Verwirklichung man nunmehr
strebte. Welche Bedeutung der Tonkunst für die Erziehung bei-
gelegt wurde, ist bekannt; selbst in dem rauhen Sparta wurde Musik
hochgeehrt und gepflegt. Die grossen Staatsmänner stehen alle in
unmittelbarer Beziehung zur Kunst oder zur Philosophie: Thales, der
Politiker, der Mann der Praxis, wird zugleich als der früheste Philosoph,
der erste Mathematiker und Astronom gerühmt; Empedokles, der
kühne Revolutionär, welcher die Herrschaft der Aristokratie in seiner
Vaterstadt bricht, der Erfinder der öffentlichen Redekunst (wie Aristoteles
berichtet) ist Dichter, Mystiker, Philosoph, Naturforscher, Entwickelungs-
theoretiker; Solon ist von Hause aus Dichter und Sänger, Lykurgus
sammelte die homerischen Dichtungen als erster und zwar "im
Interesse des Staates und der Sitten",1) Pisistratus that ein Gleiches,
der Schöpfer der Ideenlehre ist Staatsmann und Reformator, Cimon
verschafft dem Polygnot den entsprechenden Wirkungskreis, Perikles
dem Phidias, -- -- --. In dem Worte Hesiod's: "Das Recht (Dike)
ist die jungfräuliche Tochter des Zeus",2) kommt eine bestimmte,
alle staatlichen Verhältnisse umfassende Weltanschauung zum Ausdruck
und zwar eine, wenn auch religiöse, so doch vor allem künstlerische
Anschauung, wovon auch alle Schriften, selbst die abstrusesten des
Aristoteles zeugen, ebenfalls solche Äusserungen wie die des Xenophanes

1) Nach Plutarch, Leben Lykurg's, Kap. 4.
2) Werke und Tage, 256.

Hellenische Kunst und Philosophie.
übermächtigen Genius Gestalt und Lebenskraft gewonnen: das
»mechanische Jahrhundert« hätte allen Grund, in Archimedes seinen
Vater zu verehren.

Da die Leistungen und die Eigenart der Griechen mich hierÖffentliches
Leben.

nur insofern angehen, als sie wichtige Faktoren unserer neuen Kultur
und lebendige Bestandteile unseres Jahrhundertes waren, muss manches
übergangen werden, was es sonst verlockend gewesen wäre, im An-
schluss an das Gesagte näher auszuführen. Wie die schöpferische Kunst
das einigende Moment für ganz Hellas wurde, sagte uns oben Rohde.
Dann sahen wir die Kunst — allmählich zu Philosophie und Wissen-
schaft sich erweiternd — die Fundamente einer Harmonie des Denkens
und des Empfindens und des Erkennens begründen. Das dehnte sich
denn auch auf das Gebiet des öffentlichen Lebens aus. Die unend-
liche Sorgfalt, welche auf die Ausbildung schöner kräftiger Körper
verwendet wurde, gehorchte künstlerischen Normen; der Dichter
hatte die Ideale geschaffen, nach deren Verwirklichung man nunmehr
strebte. Welche Bedeutung der Tonkunst für die Erziehung bei-
gelegt wurde, ist bekannt; selbst in dem rauhen Sparta wurde Musik
hochgeehrt und gepflegt. Die grossen Staatsmänner stehen alle in
unmittelbarer Beziehung zur Kunst oder zur Philosophie: Thales, der
Politiker, der Mann der Praxis, wird zugleich als der früheste Philosoph,
der erste Mathematiker und Astronom gerühmt; Empedokles, der
kühne Revolutionär, welcher die Herrschaft der Aristokratie in seiner
Vaterstadt bricht, der Erfinder der öffentlichen Redekunst (wie Aristoteles
berichtet) ist Dichter, Mystiker, Philosoph, Naturforscher, Entwickelungs-
theoretiker; Solon ist von Hause aus Dichter und Sänger, Lykurgus
sammelte die homerischen Dichtungen als erster und zwar »im
Interesse des Staates und der Sitten«,1) Pisistratus that ein Gleiches,
der Schöpfer der Ideenlehre ist Staatsmann und Reformator, Cimon
verschafft dem Polygnot den entsprechenden Wirkungskreis, Perikles
dem Phidias, — — —. In dem Worte Hesiod’s: »Das Recht (Dike)
ist die jungfräuliche Tochter des Zeus«,2) kommt eine bestimmte,
alle staatlichen Verhältnisse umfassende Weltanschauung zum Ausdruck
und zwar eine, wenn auch religiöse, so doch vor allem künstlerische
Anschauung, wovon auch alle Schriften, selbst die abstrusesten des
Aristoteles zeugen, ebenfalls solche Äusserungen wie die des Xenophanes

1) Nach Plutarch, Leben Lykurg’s, Kap. 4.
2) Werke und Tage, 256.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0112" n="89"/><fw place="top" type="header">Hellenische Kunst und Philosophie.</fw><lb/>
übermächtigen Genius Gestalt und Lebenskraft gewonnen: das<lb/>
»mechanische Jahrhundert« hätte allen Grund, in Archimedes seinen<lb/>
Vater zu verehren.</p><lb/>
            <p>Da die Leistungen und die Eigenart der Griechen mich hier<note place="right">Öffentliches<lb/>
Leben.</note><lb/>
nur insofern angehen, als sie wichtige Faktoren unserer neuen Kultur<lb/>
und lebendige Bestandteile unseres Jahrhundertes waren, muss manches<lb/>
übergangen werden, was es sonst verlockend gewesen wäre, im An-<lb/>
schluss an das Gesagte näher auszuführen. Wie die schöpferische Kunst<lb/>
das einigende Moment für ganz Hellas wurde, sagte uns oben Rohde.<lb/>
Dann sahen wir die Kunst &#x2014; allmählich zu Philosophie und Wissen-<lb/>
schaft sich erweiternd &#x2014; die Fundamente einer Harmonie des Denkens<lb/>
und des Empfindens und des Erkennens begründen. Das dehnte sich<lb/>
denn auch auf das Gebiet des öffentlichen Lebens aus. Die unend-<lb/>
liche Sorgfalt, welche auf die Ausbildung schöner kräftiger Körper<lb/>
verwendet wurde, gehorchte künstlerischen Normen; der Dichter<lb/>
hatte die Ideale geschaffen, nach deren Verwirklichung man nunmehr<lb/>
strebte. Welche Bedeutung der Tonkunst für die Erziehung bei-<lb/>
gelegt wurde, ist bekannt; selbst in dem rauhen Sparta wurde Musik<lb/>
hochgeehrt und gepflegt. Die grossen Staatsmänner stehen alle in<lb/>
unmittelbarer Beziehung zur Kunst oder zur Philosophie: Thales, der<lb/>
Politiker, der Mann der Praxis, wird zugleich als der früheste Philosoph,<lb/>
der erste Mathematiker und Astronom gerühmt; Empedokles, der<lb/>
kühne Revolutionär, welcher die Herrschaft der Aristokratie in seiner<lb/>
Vaterstadt bricht, der Erfinder der öffentlichen Redekunst (wie Aristoteles<lb/>
berichtet) ist Dichter, Mystiker, Philosoph, Naturforscher, Entwickelungs-<lb/>
theoretiker; Solon ist von Hause aus Dichter und Sänger, Lykurgus<lb/>
sammelte die homerischen Dichtungen als erster und zwar »im<lb/>
Interesse des Staates und der Sitten«,<note place="foot" n="1)">Nach <hi rendition="#g">Plutarch,</hi> <hi rendition="#i">Leben Lykurg&#x2019;s,</hi> Kap. 4.</note> Pisistratus that ein Gleiches,<lb/>
der Schöpfer der Ideenlehre ist Staatsmann und Reformator, Cimon<lb/>
verschafft dem Polygnot den entsprechenden Wirkungskreis, Perikles<lb/>
dem Phidias, &#x2014; &#x2014; &#x2014;. In dem Worte Hesiod&#x2019;s: »Das Recht (Dike)<lb/>
ist die jungfräuliche Tochter des Zeus«,<note place="foot" n="2)"><hi rendition="#i">Werke und Tage,</hi> 256.</note> kommt eine bestimmte,<lb/>
alle staatlichen Verhältnisse umfassende Weltanschauung zum Ausdruck<lb/>
und zwar eine, wenn auch religiöse, so doch vor allem künstlerische<lb/>
Anschauung, wovon auch alle Schriften, selbst die abstrusesten des<lb/>
Aristoteles zeugen, ebenfalls solche Äusserungen wie die des Xenophanes<lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[89/0112] Hellenische Kunst und Philosophie. übermächtigen Genius Gestalt und Lebenskraft gewonnen: das »mechanische Jahrhundert« hätte allen Grund, in Archimedes seinen Vater zu verehren. Da die Leistungen und die Eigenart der Griechen mich hier nur insofern angehen, als sie wichtige Faktoren unserer neuen Kultur und lebendige Bestandteile unseres Jahrhundertes waren, muss manches übergangen werden, was es sonst verlockend gewesen wäre, im An- schluss an das Gesagte näher auszuführen. Wie die schöpferische Kunst das einigende Moment für ganz Hellas wurde, sagte uns oben Rohde. Dann sahen wir die Kunst — allmählich zu Philosophie und Wissen- schaft sich erweiternd — die Fundamente einer Harmonie des Denkens und des Empfindens und des Erkennens begründen. Das dehnte sich denn auch auf das Gebiet des öffentlichen Lebens aus. Die unend- liche Sorgfalt, welche auf die Ausbildung schöner kräftiger Körper verwendet wurde, gehorchte künstlerischen Normen; der Dichter hatte die Ideale geschaffen, nach deren Verwirklichung man nunmehr strebte. Welche Bedeutung der Tonkunst für die Erziehung bei- gelegt wurde, ist bekannt; selbst in dem rauhen Sparta wurde Musik hochgeehrt und gepflegt. Die grossen Staatsmänner stehen alle in unmittelbarer Beziehung zur Kunst oder zur Philosophie: Thales, der Politiker, der Mann der Praxis, wird zugleich als der früheste Philosoph, der erste Mathematiker und Astronom gerühmt; Empedokles, der kühne Revolutionär, welcher die Herrschaft der Aristokratie in seiner Vaterstadt bricht, der Erfinder der öffentlichen Redekunst (wie Aristoteles berichtet) ist Dichter, Mystiker, Philosoph, Naturforscher, Entwickelungs- theoretiker; Solon ist von Hause aus Dichter und Sänger, Lykurgus sammelte die homerischen Dichtungen als erster und zwar »im Interesse des Staates und der Sitten«, 1) Pisistratus that ein Gleiches, der Schöpfer der Ideenlehre ist Staatsmann und Reformator, Cimon verschafft dem Polygnot den entsprechenden Wirkungskreis, Perikles dem Phidias, — — —. In dem Worte Hesiod’s: »Das Recht (Dike) ist die jungfräuliche Tochter des Zeus«, 2) kommt eine bestimmte, alle staatlichen Verhältnisse umfassende Weltanschauung zum Ausdruck und zwar eine, wenn auch religiöse, so doch vor allem künstlerische Anschauung, wovon auch alle Schriften, selbst die abstrusesten des Aristoteles zeugen, ebenfalls solche Äusserungen wie die des Xenophanes Öffentliches Leben. 1) Nach Plutarch, Leben Lykurg’s, Kap. 4. 2) Werke und Tage, 256.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen01_1899
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen01_1899/112
Zitationshilfe: Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 1. München 1899, S. 89. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen01_1899/112>, abgerufen am 21.11.2024.