Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 1. München 1899.Hellenische Kunst und Philosophie. wo die politischen Charaktere, sowohl einzeln wie in Klassen be-trachtet, so jämmerlich sind, da kann gewiss keine grosse Politik ge- blüht haben. Dass wir gar den Begriff der Freiheit von den Hellenen geerbt haben sollen, das ist ein untergeschobenes Wahnbild; denn zur Freiheit gehört vor allem Vaterlandsliebe, Würde, Pflichtgefühl, Aufopferungsfähigkeit, -- dagegen hören die hellenischen Staaten, vom Beginn ihrer Geschichte an bis zu ihrer Unterdrückung durch Rom, niemals auf, die Feinde ihres gemeinsamen Vaterlandes gegen die eigenen Brüder herbeizurufen, ja, innerhalb der einzelnen Stadt- regierungen, sobald ein Staatsmann gestürzt ist, eilt er fort, sei es zu anderen Hellenen, sei es zu Persern oder Ägyptern, später zu den Römern, um mit ihrer Hilfe seine eigene Stadt zu Grunde zu richten. Man klagt vielfach, das Alte Testament sei unmoralisch; mich dünkt die Geschichte Griechenlands reichlich ebenso unmoralisch; denn bei den Israeliten finden wir, selbst im Verbrechen, Charakter und Be- harrlichkeit, sowie Treue gegen das eigene Volk, hier nicht. Sogar ein Solon geht zuletzt zu Pisistratus über, das Werk seines Lebens verläugnend, und ein Themistokles, der "Held von Salamis", ver- handelt kurz vor der Schlacht über den Preis, für den er Athen ver- raten würde, und lebt später thatsächlich am Hofe des Artaxerxes als "erklärter Feind der Griechen", von den Persern jedoch mit Recht als "listige griechische Schlange" gering geschätzt; bei Alcibiades war Verrat so sehr Lebensprinzip geworden, dass Plutarch lächelnd von ihm behaupten kann, er hätte die Farbe "schneller als ein Chamäleon" gewechselt! Das war alles bei den Hellenen so selbstverständlich, dass ihre Historiker sich gar nicht darüber empören, ebenso wie Herodot mit grösster Seelenruhe erzählt, Miltiades habe die Schlacht bei Marathon dadurch erzwungen, dass er den Oberbefehlshaber darauf aufmerksam machte, die athenischen Truppen seien gewillt, zu den Persern überzugehen, man müsse daher schleunigst angreifen, damit dieser "schlimme Gedanke" nicht Zeit habe, in die That umgesetzt zu werden: eine halbe Stunde später, und die "Helden von Marathon" wären mit den Persern zusammen gen Athen marschiert! Mir ist Ähnliches aus der jüdischen Geschichte nicht erinnerlich. Auf einem derartigen Boden konnte offenbar kein bewundernswürdiges Staaten- system aufblühen. "Die Griechen", sagt wiederum Goethe "waren Freunde der Freiheit, ja! aber ein jeder nur seiner eigenen; daher stak in jedem Griechen ein Tyrannos". Wer durch den Urwald der im Laufe von Jahrhunderten üppig aufgewucherten Vorurteile und Hellenische Kunst und Philosophie. wo die politischen Charaktere, sowohl einzeln wie in Klassen be-trachtet, so jämmerlich sind, da kann gewiss keine grosse Politik ge- blüht haben. Dass wir gar den Begriff der Freiheit von den Hellenen geerbt haben sollen, das ist ein untergeschobenes Wahnbild; denn zur Freiheit gehört vor allem Vaterlandsliebe, Würde, Pflichtgefühl, Aufopferungsfähigkeit, — dagegen hören die hellenischen Staaten, vom Beginn ihrer Geschichte an bis zu ihrer Unterdrückung durch Rom, niemals auf, die Feinde ihres gemeinsamen Vaterlandes gegen die eigenen Brüder herbeizurufen, ja, innerhalb der einzelnen Stadt- regierungen, sobald ein Staatsmann gestürzt ist, eilt er fort, sei es zu anderen Hellenen, sei es zu Persern oder Ägyptern, später zu den Römern, um mit ihrer Hilfe seine eigene Stadt zu Grunde zu richten. Man klagt vielfach, das Alte Testament sei unmoralisch; mich dünkt die Geschichte Griechenlands reichlich ebenso unmoralisch; denn bei den Israeliten finden wir, selbst im Verbrechen, Charakter und Be- harrlichkeit, sowie Treue gegen das eigene Volk, hier nicht. Sogar ein Solon geht zuletzt zu Pisistratus über, das Werk seines Lebens verläugnend, und ein Themistokles, der »Held von Salamis«, ver- handelt kurz vor der Schlacht über den Preis, für den er Athen ver- raten würde, und lebt später thatsächlich am Hofe des Artaxerxes als »erklärter Feind der Griechen«, von den Persern jedoch mit Recht als »listige griechische Schlange« gering geschätzt; bei Alcibiades war Verrat so sehr Lebensprinzip geworden, dass Plutarch lächelnd von ihm behaupten kann, er hätte die Farbe »schneller als ein Chamäleon« gewechselt! Das war alles bei den Hellenen so selbstverständlich, dass ihre Historiker sich gar nicht darüber empören, ebenso wie Herodot mit grösster Seelenruhe erzählt, Miltiades habe die Schlacht bei Marathon dadurch erzwungen, dass er den Oberbefehlshaber darauf aufmerksam machte, die athenischen Truppen seien gewillt, zu den Persern überzugehen, man müsse daher schleunigst angreifen, damit dieser »schlimme Gedanke« nicht Zeit habe, in die That umgesetzt zu werden: eine halbe Stunde später, und die »Helden von Marathon« wären mit den Persern zusammen gen Athen marschiert! Mir ist Ähnliches aus der jüdischen Geschichte nicht erinnerlich. Auf einem derartigen Boden konnte offenbar kein bewundernswürdiges Staaten- system aufblühen. »Die Griechen«, sagt wiederum Goethe »waren Freunde der Freiheit, ja! aber ein jeder nur seiner eigenen; daher stak in jedem Griechen ein Tyrannos». 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Hellenische Kunst und Philosophie.
wo die politischen Charaktere, sowohl einzeln wie in Klassen be-
trachtet, so jämmerlich sind, da kann gewiss keine grosse Politik ge-
blüht haben. Dass wir gar den Begriff der Freiheit von den Hellenen
geerbt haben sollen, das ist ein untergeschobenes Wahnbild; denn
zur Freiheit gehört vor allem Vaterlandsliebe, Würde, Pflichtgefühl,
Aufopferungsfähigkeit, — dagegen hören die hellenischen Staaten,
vom Beginn ihrer Geschichte an bis zu ihrer Unterdrückung durch
Rom, niemals auf, die Feinde ihres gemeinsamen Vaterlandes gegen
die eigenen Brüder herbeizurufen, ja, innerhalb der einzelnen Stadt-
regierungen, sobald ein Staatsmann gestürzt ist, eilt er fort, sei es zu
anderen Hellenen, sei es zu Persern oder Ägyptern, später zu den
Römern, um mit ihrer Hilfe seine eigene Stadt zu Grunde zu richten.
Man klagt vielfach, das Alte Testament sei unmoralisch; mich dünkt die
Geschichte Griechenlands reichlich ebenso unmoralisch; denn bei den
Israeliten finden wir, selbst im Verbrechen, Charakter und Be-
harrlichkeit, sowie Treue gegen das eigene Volk, hier nicht. Sogar
ein Solon geht zuletzt zu Pisistratus über, das Werk seines Lebens
verläugnend, und ein Themistokles, der »Held von Salamis«, ver-
handelt kurz vor der Schlacht über den Preis, für den er Athen ver-
raten würde, und lebt später thatsächlich am Hofe des Artaxerxes als
»erklärter Feind der Griechen«, von den Persern jedoch mit Recht
als »listige griechische Schlange« gering geschätzt; bei Alcibiades war
Verrat so sehr Lebensprinzip geworden, dass Plutarch lächelnd von
ihm behaupten kann, er hätte die Farbe »schneller als ein Chamäleon«
gewechselt! Das war alles bei den Hellenen so selbstverständlich,
dass ihre Historiker sich gar nicht darüber empören, ebenso wie
Herodot mit grösster Seelenruhe erzählt, Miltiades habe die Schlacht
bei Marathon dadurch erzwungen, dass er den Oberbefehlshaber darauf
aufmerksam machte, die athenischen Truppen seien gewillt, zu den
Persern überzugehen, man müsse daher schleunigst angreifen, damit
dieser »schlimme Gedanke« nicht Zeit habe, in die That umgesetzt
zu werden: eine halbe Stunde später, und die »Helden von Marathon«
wären mit den Persern zusammen gen Athen marschiert! Mir ist
Ähnliches aus der jüdischen Geschichte nicht erinnerlich. Auf einem
derartigen Boden konnte offenbar kein bewundernswürdiges Staaten-
system aufblühen. »Die Griechen«, sagt wiederum Goethe »waren
Freunde der Freiheit, ja! aber ein jeder nur seiner eigenen; daher
stak in jedem Griechen ein Tyrannos». Wer durch den Urwald der
im Laufe von Jahrhunderten üppig aufgewucherten Vorurteile und
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