Erbschaft, und sie mahnt uns, von den Fortschritten unserer Zeit nur mit Demut zu reden.
Der Gegenstand ist ein ungemein verwickelter; habe ich mich in diesem ganzen Kapitel mit blossen Andeutungen begnügen müssen, so werde ich mich hier auf das Andeuten von Andeutungen zu be- schränken haben. Gerade hier jedoch wäre auf Verhältnisse hinzu- weisen, die meines Wissens noch niemals in ihrem richtigen Zusammen- hange aufgedeckt worden sind. Das möge hier in aller Bescheidenheit, gleichwohl mit voller Bestimmtheit geschehen.
Ganz allgemein wird die religiöse Entwickelung der Hellenen so dargestellt, als ob ein volksmässiger Götterwahnglaube sich nach und nach in dem Bewusstsein einzelner hervorragender Männer zu einem immer reineren, immer mehr vergeistigten Glauben an einen einzigen Gott verklärt habe: so sei der Menschengeist aus der Finsternis in immer helleres Licht geschritten. Unsere Vernunft liebt die Verein- fachungen: dieses langsame Emporsteigen des griechischen Geistes, bis er dann reif war für eine höhere Offenbarung, kommt der angeborenen Gedankenträgheit sehr zu statten. In Wahrheit ist diese Vorstellung eine durch und durch falsche und gefälschte: der Götter- glaube, wie wir ihm bei Homer begegnen, ist die erhabenste und geläutertste Erscheinung griechischer Religion; vielseitig bedingt und beschränkt, wie alles Menschliche, dem Wissen, Denken und Empfinden einer bestimmten Civilisationsstufe angepasst, dürfte diese religiöse Weltanschauung doch so schön, so edel, so frei gewesen sein, wie nur irgend eine, von welcher wir Kunde besitzen. Das Kennzeich- nende des homerischen Glaubens ist seine geistige und moralische Freiheit -- ja, wie Rhode sagt, "fast Freigeistigkeit" --; diese Religion ist der durch künstlerische Intuition und Analogie (also auf rein genialem Wege) gewonnene Glaube an eine kosmische Welt- ordnung, die überall wahrgenommen wird, ohne jemals ausgedacht, ohne jemals umfasst werden zu können, weil wir doch selber Bestand- teile dieses Kosmos sind, -- eine Ordnung, die sich aber notwendiger- weise in Allem wiederspiegelt und die darum im Kunstwerk an- schaulich und unmittelbar überzeugend wird. Die im Volke vor- handenen Vorstellungen, hervorgegangen aus der poetischen, symboli- sierenden Anlage jedes einfachen, noch nicht bis zur Dialektik fortgeschrittenen Gemütes, sind hier zur unmittelbarsten Anschaulich- keit verdichtet, und zwar von hohen Geistern, die noch gläubig genug sind, um die wärmste Innigkeit zu besitzen, und zugleich frei gen ug,
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Hellenische Kunst und Philosophie.
Erbschaft, und sie mahnt uns, von den Fortschritten unserer Zeit nur mit Demut zu reden.
Der Gegenstand ist ein ungemein verwickelter; habe ich mich in diesem ganzen Kapitel mit blossen Andeutungen begnügen müssen, so werde ich mich hier auf das Andeuten von Andeutungen zu be- schränken haben. Gerade hier jedoch wäre auf Verhältnisse hinzu- weisen, die meines Wissens noch niemals in ihrem richtigen Zusammen- hange aufgedeckt worden sind. Das möge hier in aller Bescheidenheit, gleichwohl mit voller Bestimmtheit geschehen.
Ganz allgemein wird die religiöse Entwickelung der Hellenen so dargestellt, als ob ein volksmässiger Götterwahnglaube sich nach und nach in dem Bewusstsein einzelner hervorragender Männer zu einem immer reineren, immer mehr vergeistigten Glauben an einen einzigen Gott verklärt habe: so sei der Menschengeist aus der Finsternis in immer helleres Licht geschritten. Unsere Vernunft liebt die Verein- fachungen: dieses langsame Emporsteigen des griechischen Geistes, bis er dann reif war für eine höhere Offenbarung, kommt der angeborenen Gedankenträgheit sehr zu statten. In Wahrheit ist diese Vorstellung eine durch und durch falsche und gefälschte: der Götter- glaube, wie wir ihm bei Homer begegnen, ist die erhabenste und geläutertste Erscheinung griechischer Religion; vielseitig bedingt und beschränkt, wie alles Menschliche, dem Wissen, Denken und Empfinden einer bestimmten Civilisationsstufe angepasst, dürfte diese religiöse Weltanschauung doch so schön, so edel, so frei gewesen sein, wie nur irgend eine, von welcher wir Kunde besitzen. Das Kennzeich- nende des homerischen Glaubens ist seine geistige und moralische Freiheit — ja, wie Rhode sagt, »fast Freigeistigkeit« —; diese Religion ist der durch künstlerische Intuition und Analogie (also auf rein genialem Wege) gewonnene Glaube an eine kosmische Welt- ordnung, die überall wahrgenommen wird, ohne jemals ausgedacht, ohne jemals umfasst werden zu können, weil wir doch selber Bestand- teile dieses Kosmos sind, — eine Ordnung, die sich aber notwendiger- weise in Allem wiederspiegelt und die darum im Kunstwerk an- schaulich und unmittelbar überzeugend wird. Die im Volke vor- handenen Vorstellungen, hervorgegangen aus der poetischen, symboli- sierenden Anlage jedes einfachen, noch nicht bis zur Dialektik fortgeschrittenen Gemütes, sind hier zur unmittelbarsten Anschaulich- keit verdichtet, und zwar von hohen Geistern, die noch gläubig genug sind, um die wärmste Innigkeit zu besitzen, und zugleich frei gen ug,
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Hellenische Kunst und Philosophie.
Erbschaft, und sie mahnt uns, von den Fortschritten unserer Zeit
nur mit Demut zu reden.
Der Gegenstand ist ein ungemein verwickelter; habe ich mich
in diesem ganzen Kapitel mit blossen Andeutungen begnügen müssen,
so werde ich mich hier auf das Andeuten von Andeutungen zu be-
schränken haben. Gerade hier jedoch wäre auf Verhältnisse hinzu-
weisen, die meines Wissens noch niemals in ihrem richtigen Zusammen-
hange aufgedeckt worden sind. Das möge hier in aller Bescheidenheit,
gleichwohl mit voller Bestimmtheit geschehen.
Ganz allgemein wird die religiöse Entwickelung der Hellenen so
dargestellt, als ob ein volksmässiger Götterwahnglaube sich nach und
nach in dem Bewusstsein einzelner hervorragender Männer zu einem
immer reineren, immer mehr vergeistigten Glauben an einen einzigen
Gott verklärt habe: so sei der Menschengeist aus der Finsternis in
immer helleres Licht geschritten. Unsere Vernunft liebt die Verein-
fachungen: dieses langsame Emporsteigen des griechischen Geistes,
bis er dann reif war für eine höhere Offenbarung, kommt der
angeborenen Gedankenträgheit sehr zu statten. In Wahrheit ist diese
Vorstellung eine durch und durch falsche und gefälschte: der Götter-
glaube, wie wir ihm bei Homer begegnen, ist die erhabenste und
geläutertste Erscheinung griechischer Religion; vielseitig bedingt und
beschränkt, wie alles Menschliche, dem Wissen, Denken und Empfinden
einer bestimmten Civilisationsstufe angepasst, dürfte diese religiöse
Weltanschauung doch so schön, so edel, so frei gewesen sein, wie
nur irgend eine, von welcher wir Kunde besitzen. Das Kennzeich-
nende des homerischen Glaubens ist seine geistige und moralische
Freiheit — ja, wie Rhode sagt, »fast Freigeistigkeit« —; diese
Religion ist der durch künstlerische Intuition und Analogie (also auf
rein genialem Wege) gewonnene Glaube an eine kosmische Welt-
ordnung, die überall wahrgenommen wird, ohne jemals ausgedacht,
ohne jemals umfasst werden zu können, weil wir doch selber Bestand-
teile dieses Kosmos sind, — eine Ordnung, die sich aber notwendiger-
weise in Allem wiederspiegelt und die darum im Kunstwerk an-
schaulich und unmittelbar überzeugend wird. Die im Volke vor-
handenen Vorstellungen, hervorgegangen aus der poetischen, symboli-
sierenden Anlage jedes einfachen, noch nicht bis zur Dialektik
fortgeschrittenen Gemütes, sind hier zur unmittelbarsten Anschaulich-
keit verdichtet, und zwar von hohen Geistern, die noch gläubig genug
sind, um die wärmste Innigkeit zu besitzen, und zugleich frei gen ug,
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Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 1. München 1899, S. 99. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen01_1899/122>, abgerufen am 21.11.2024.
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