Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 1. München 1899.Hellenische Kunst und Philosophie. wo ihre Elemente alle erborgt sind -- tritt sie, je nach Zeit undLand, in einer durchaus neuen, individuellen Erscheinung auf, und eine jede ihrer Erscheinungen ist, wie die Geschichte lehrt, durchaus vergänglich. Die Religion hat etwas Passives an sich, sie spiegelt (so lange sie lebendig ist) einen Kulturzustand wieder; zugleich enthält sie willkürliche Momente von unabsehbarer Tragweite: wie viel Frei- heit bekundeten die hellenischen Poeten in ihrer Behandlung des Glaubensstoffes! wie sehr hingen die Beschlüsse des Tridentinischen Konzils über das, was die Christenheit glauben oder nicht glauben sollte, von diplomatischen Schachzügen und von Waffenglück ab! Von dem Aberglauben kann das nicht behauptet werden; an seiner Gewalt bricht sich die Macht des Papstes und der Poeten; er schleicht auf tausend verborgenen Wegen, schlummert unbewusst in jeder Brust und ist alle Augenblicke bereit, aufzuflammen; er besitzt, wie Lippert sagt: "eine Lebenszähigkeit, die er vor jeder Religion voraus hat";1) er ist zugleich ein Kitt für jede neue Religion und ein stets lauernder Feind jeder alten. An seiner Religion zweifelt fast jeder Mensch, an seinem Aberglauben Keiner; herausgedrängt aus dem unmittelbaren Bewusstsein der sogenannten "gebildeten" Menschen, nistet er sich in den innersten Falten ihres Gehirnes ein und treibt dort umso ausgelassener seinen Schabernack, als er in der Vermummung der authentischen Gelehrsamkeit oder des spektakulösesten Freisinns her- vortritt. Dies alles zu beobachten, haben wir in unserem Jahrhundert der Notre-Dame-de-Lourdes, der "Shakers", der Phrenologie, des Ods, der spiritistischen Photographien, des wissenschaftlichen Materialismus, des "medizinischen Pfaffentums"2) u. s. w. reichlich Gelegenheit ge- habt.3) Um die hellenische Erbschaft recht zu begreifen, müssen wir auch dort zu unterscheiden lernen. Thun wir das, so werden wir gewahr werden, dass in Hellas auch zur Blütezeit der herrlichen kunst- beseelten Religion, ein Unterstrom ganz und gar anders gearteter Aberglauben und Kulte niemals zu fliessen aufgehört hatte, der dann 1) Christentum, Volksglaube und Volksbrauch, S. 379. In dem zweiten Teil dieses Buches findet man eine lehrreiche Zusammenstellung der in Europa noch bestehenden Gebräuche und Aberglauben aus vorchristlicher Zeit. 2) F. A. Lange gebraucht den Ausdruck irgendwo in seiner Geschichte des Materialismus. 3) "Selbst die civilisiertesten Nationen schütteln den Glauben an Zauberei
nicht leicht ab", bezeugt Sir John Lubbock: Die vorgeschichtliche Zeit, deutsche Ausg., II., 278. Hellenische Kunst und Philosophie. wo ihre Elemente alle erborgt sind — tritt sie, je nach Zeit undLand, in einer durchaus neuen, individuellen Erscheinung auf, und eine jede ihrer Erscheinungen ist, wie die Geschichte lehrt, durchaus vergänglich. Die Religion hat etwas Passives an sich, sie spiegelt (so lange sie lebendig ist) einen Kulturzustand wieder; zugleich enthält sie willkürliche Momente von unabsehbarer Tragweite: wie viel Frei- heit bekundeten die hellenischen Poeten in ihrer Behandlung des Glaubensstoffes! wie sehr hingen die Beschlüsse des Tridentinischen Konzils über das, was die Christenheit glauben oder nicht glauben sollte, von diplomatischen Schachzügen und von Waffenglück ab! Von dem Aberglauben kann das nicht behauptet werden; an seiner Gewalt bricht sich die Macht des Papstes und der Poeten; er schleicht auf tausend verborgenen Wegen, schlummert unbewusst in jeder Brust und ist alle Augenblicke bereit, aufzuflammen; er besitzt, wie Lippert sagt: »eine Lebenszähigkeit, die er vor jeder Religion voraus hat«;1) er ist zugleich ein Kitt für jede neue Religion und ein stets lauernder Feind jeder alten. An seiner Religion zweifelt fast jeder Mensch, an seinem Aberglauben Keiner; herausgedrängt aus dem unmittelbaren Bewusstsein der sogenannten »gebildeten« Menschen, nistet er sich in den innersten Falten ihres Gehirnes ein und treibt dort umso ausgelassener seinen Schabernack, als er in der Vermummung der authentischen Gelehrsamkeit oder des spektakulösesten Freisinns her- vortritt. Dies alles zu beobachten, haben wir in unserem Jahrhundert der Notre-Dame-de-Lourdes, der »Shakers«, der Phrenologie, des Ods, der spiritistischen Photographien, des wissenschaftlichen Materialismus, des »medizinischen Pfaffentums«2) u. s. w. reichlich Gelegenheit ge- habt.3) Um die hellenische Erbschaft recht zu begreifen, müssen wir auch dort zu unterscheiden lernen. Thun wir das, so werden wir gewahr werden, dass in Hellas auch zur Blütezeit der herrlichen kunst- beseelten Religion, ein Unterstrom ganz und gar anders gearteter Aberglauben und Kulte niemals zu fliessen aufgehört hatte, der dann 1) Christentum, Volksglaube und Volksbrauch, S. 379. In dem zweiten Teil dieses Buches findet man eine lehrreiche Zusammenstellung der in Europa noch bestehenden Gebräuche und Aberglauben aus vorchristlicher Zeit. 2) F. A. Lange gebraucht den Ausdruck irgendwo in seiner Geschichte des Materialismus. 3) »Selbst die civilisiertesten Nationen schütteln den Glauben an Zauberei
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Hellenische Kunst und Philosophie.
wo ihre Elemente alle erborgt sind — tritt sie, je nach Zeit und
Land, in einer durchaus neuen, individuellen Erscheinung auf, und
eine jede ihrer Erscheinungen ist, wie die Geschichte lehrt, durchaus
vergänglich. Die Religion hat etwas Passives an sich, sie spiegelt (so
lange sie lebendig ist) einen Kulturzustand wieder; zugleich enthält
sie willkürliche Momente von unabsehbarer Tragweite: wie viel Frei-
heit bekundeten die hellenischen Poeten in ihrer Behandlung des
Glaubensstoffes! wie sehr hingen die Beschlüsse des Tridentinischen
Konzils über das, was die Christenheit glauben oder nicht glauben
sollte, von diplomatischen Schachzügen und von Waffenglück ab! Von
dem Aberglauben kann das nicht behauptet werden; an seiner Gewalt
bricht sich die Macht des Papstes und der Poeten; er schleicht auf
tausend verborgenen Wegen, schlummert unbewusst in jeder Brust
und ist alle Augenblicke bereit, aufzuflammen; er besitzt, wie Lippert
sagt: »eine Lebenszähigkeit, die er vor jeder Religion voraus hat«; 1)
er ist zugleich ein Kitt für jede neue Religion und ein stets lauernder
Feind jeder alten. An seiner Religion zweifelt fast jeder Mensch,
an seinem Aberglauben Keiner; herausgedrängt aus dem unmittelbaren
Bewusstsein der sogenannten »gebildeten« Menschen, nistet er sich
in den innersten Falten ihres Gehirnes ein und treibt dort umso
ausgelassener seinen Schabernack, als er in der Vermummung der
authentischen Gelehrsamkeit oder des spektakulösesten Freisinns her-
vortritt. Dies alles zu beobachten, haben wir in unserem Jahrhundert
der Notre-Dame-de-Lourdes, der »Shakers«, der Phrenologie, des Ods,
der spiritistischen Photographien, des wissenschaftlichen Materialismus,
des »medizinischen Pfaffentums« 2) u. s. w. reichlich Gelegenheit ge-
habt. 3) Um die hellenische Erbschaft recht zu begreifen, müssen wir
auch dort zu unterscheiden lernen. Thun wir das, so werden wir
gewahr werden, dass in Hellas auch zur Blütezeit der herrlichen kunst-
beseelten Religion, ein Unterstrom ganz und gar anders gearteter
Aberglauben und Kulte niemals zu fliessen aufgehört hatte, der dann
1) Christentum, Volksglaube und Volksbrauch, S. 379. In dem zweiten Teil
dieses Buches findet man eine lehrreiche Zusammenstellung der in Europa noch
bestehenden Gebräuche und Aberglauben aus vorchristlicher Zeit.
2) F. A. Lange gebraucht den Ausdruck irgendwo in seiner Geschichte des
Materialismus.
3) »Selbst die civilisiertesten Nationen schütteln den Glauben an Zauberei
nicht leicht ab«, bezeugt Sir John Lubbock: Die vorgeschichtliche Zeit, deutsche
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