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Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 1. München 1899.

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Hellenische Kunst und Philosophie.
Götter der Volksreligion und über die Dichter herzogen -- den
Homer hätte Heraklit gern "mit Ruten gepeitscht"1) --, dient nur,
das Bild zu vervollständigen. Noch eins muss aber gesagt werden:
ein Mann wie Anaximander, so untergeordnet als Denker, war ein
Naturforscher und Theoretiker allerersten Ranges, ein Begründer der
wissenschaftlichen Geographie, ein Förderer der Astronomie; uns
werden alle diese Leute als Philosophen vorgeführt, in Wahrheit war
aber das Philosophieren für sie eine Nebensache; man würde wohl
doch nicht den Agnosticismus des Charles Darwin oder das Glaubens-
bekenntnis des Claude Bernard zu den philosophischen Leistungen
unseres Jahrhunderts rechnen? Das ist so eine von den vielen
traditionellen, geheiligten Konfusionen; den Namen eines Cankara,
(vielleicht der grösste Metaphysiker, der je gelebt) finden wir in keiner
Geschichte der Philosophie, dagegen muss der brave Olivenbauer
Thales als "erster Philosoph" unausgesetzt herhalten. Und genau
besehen, befinden sich alle, oder fast alle sogenannte Philosophen der
hellenischen Blütezeit in einer ähnlichen Lage: Pythagoras gründet
-- so weit man aus widersprechenden Nachrichten schliessen kann --
nicht eine philosophische Schule, sondern einen politischen, sozialen,
diätetischen und religiösen Bund; Plato selber, der Metaphysiker, ist
Staatsmann, Moralist, praktischer Reformator; Aristoteles ist Metho-
dolog und Encyklopädist, und die Einheit seiner Weltanschauung
liegt viel mehr in seinem Charakter, als in seiner forcierten, halb-
überkommenen, widerspruchsvollen Metaphysik begründet. Ohne
also die Grossthaten der griechischen Denker irgendwie zu verkennen,
werden wir wohl doch, um der Konfusion ein Ende zu machen,
behaupten dürfen: diese Männer haben unserer Wissenschaft (ein-
schliesslich der Logik und der Ethik) vorgearbeitet, sie haben unserer
Theologie vorgearbeitet, ihr poetisch-schöpferisches Genie hat Ströme
von Licht über die Wege ausgegossen, die spätere Spekulation und
Geistesforschung wandeln sollte, als Metaphysiker im eigentlichen
engeren Sinne des Wortes waren sie von verhältnismässig weit ge-
ringerer Bedeutung.

Damit bei einer so wichtigen, in die Tiefen unseres heutigen
Lebens eingreifenden Erkenntnis nichts unklar bleibe, möchte ich

1) Ich citiere nach Gomperz: Griechische Denker I, 50; nach Zeller's
Darstellung schiene eine so heftige Äusserung unwahrscheinlich. Wenn ich
mich recht entsinne, ist es Xenophanes, der diese Worte dem Heraklit in den
Mund legt.

Hellenische Kunst und Philosophie.
Götter der Volksreligion und über die Dichter herzogen — den
Homer hätte Heraklit gern »mit Ruten gepeitscht«1) —, dient nur,
das Bild zu vervollständigen. Noch eins muss aber gesagt werden:
ein Mann wie Anaximander, so untergeordnet als Denker, war ein
Naturforscher und Theoretiker allerersten Ranges, ein Begründer der
wissenschaftlichen Geographie, ein Förderer der Astronomie; uns
werden alle diese Leute als Philosophen vorgeführt, in Wahrheit war
aber das Philosophieren für sie eine Nebensache; man würde wohl
doch nicht den Agnosticismus des Charles Darwin oder das Glaubens-
bekenntnis des Claude Bernard zu den philosophischen Leistungen
unseres Jahrhunderts rechnen? Das ist so eine von den vielen
traditionellen, geheiligten Konfusionen; den Namen eines Çankara,
(vielleicht der grösste Metaphysiker, der je gelebt) finden wir in keiner
Geschichte der Philosophie, dagegen muss der brave Olivenbauer
Thales als »erster Philosoph« unausgesetzt herhalten. Und genau
besehen, befinden sich alle, oder fast alle sogenannte Philosophen der
hellenischen Blütezeit in einer ähnlichen Lage: Pythagoras gründet
— so weit man aus widersprechenden Nachrichten schliessen kann —
nicht eine philosophische Schule, sondern einen politischen, sozialen,
diätetischen und religiösen Bund; Plato selber, der Metaphysiker, ist
Staatsmann, Moralist, praktischer Reformator; Aristoteles ist Metho-
dolog und Encyklopädist, und die Einheit seiner Weltanschauung
liegt viel mehr in seinem Charakter, als in seiner forcierten, halb-
überkommenen, widerspruchsvollen Metaphysik begründet. Ohne
also die Grossthaten der griechischen Denker irgendwie zu verkennen,
werden wir wohl doch, um der Konfusion ein Ende zu machen,
behaupten dürfen: diese Männer haben unserer Wissenschaft (ein-
schliesslich der Logik und der Ethik) vorgearbeitet, sie haben unserer
Theologie vorgearbeitet, ihr poetisch-schöpferisches Genie hat Ströme
von Licht über die Wege ausgegossen, die spätere Spekulation und
Geistesforschung wandeln sollte, als Metaphysiker im eigentlichen
engeren Sinne des Wortes waren sie von verhältnismässig weit ge-
ringerer Bedeutung.

Damit bei einer so wichtigen, in die Tiefen unseres heutigen
Lebens eingreifenden Erkenntnis nichts unklar bleibe, möchte ich

1) Ich citiere nach Gomperz: Griechische Denker I, 50; nach Zeller’s
Darstellung schiene eine so heftige Äusserung unwahrscheinlich. Wenn ich
mich recht entsinne, ist es Xenophanes, der diese Worte dem Heraklit in den
Mund legt.
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[107/0130] Hellenische Kunst und Philosophie. Götter der Volksreligion und über die Dichter herzogen — den Homer hätte Heraklit gern »mit Ruten gepeitscht« 1) —, dient nur, das Bild zu vervollständigen. Noch eins muss aber gesagt werden: ein Mann wie Anaximander, so untergeordnet als Denker, war ein Naturforscher und Theoretiker allerersten Ranges, ein Begründer der wissenschaftlichen Geographie, ein Förderer der Astronomie; uns werden alle diese Leute als Philosophen vorgeführt, in Wahrheit war aber das Philosophieren für sie eine Nebensache; man würde wohl doch nicht den Agnosticismus des Charles Darwin oder das Glaubens- bekenntnis des Claude Bernard zu den philosophischen Leistungen unseres Jahrhunderts rechnen? Das ist so eine von den vielen traditionellen, geheiligten Konfusionen; den Namen eines Çankara, (vielleicht der grösste Metaphysiker, der je gelebt) finden wir in keiner Geschichte der Philosophie, dagegen muss der brave Olivenbauer Thales als »erster Philosoph« unausgesetzt herhalten. Und genau besehen, befinden sich alle, oder fast alle sogenannte Philosophen der hellenischen Blütezeit in einer ähnlichen Lage: Pythagoras gründet — so weit man aus widersprechenden Nachrichten schliessen kann — nicht eine philosophische Schule, sondern einen politischen, sozialen, diätetischen und religiösen Bund; Plato selber, der Metaphysiker, ist Staatsmann, Moralist, praktischer Reformator; Aristoteles ist Metho- dolog und Encyklopädist, und die Einheit seiner Weltanschauung liegt viel mehr in seinem Charakter, als in seiner forcierten, halb- überkommenen, widerspruchsvollen Metaphysik begründet. Ohne also die Grossthaten der griechischen Denker irgendwie zu verkennen, werden wir wohl doch, um der Konfusion ein Ende zu machen, behaupten dürfen: diese Männer haben unserer Wissenschaft (ein- schliesslich der Logik und der Ethik) vorgearbeitet, sie haben unserer Theologie vorgearbeitet, ihr poetisch-schöpferisches Genie hat Ströme von Licht über die Wege ausgegossen, die spätere Spekulation und Geistesforschung wandeln sollte, als Metaphysiker im eigentlichen engeren Sinne des Wortes waren sie von verhältnismässig weit ge- ringerer Bedeutung. Damit bei einer so wichtigen, in die Tiefen unseres heutigen Lebens eingreifenden Erkenntnis nichts unklar bleibe, möchte ich 1) Ich citiere nach Gomperz: Griechische Denker I, 50; nach Zeller’s Darstellung schiene eine so heftige Äusserung unwahrscheinlich. Wenn ich mich recht entsinne, ist es Xenophanes, der diese Worte dem Heraklit in den Mund legt.

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Zitationshilfe: Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 1. München 1899, S. 107. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen01_1899/130>, abgerufen am 21.11.2024.