Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 1. München 1899.Das Erbe der alten Welt. der nehme einen Katechismus zur Hand, es steckt viel Aristotelesdarin. Wenn man mit einem solchen unphilosophischen Manne von der Gottheit spricht und ihm sagt, sie sei: "ungeworden, unerschaffen, von je bestehend, unvergänglich", so wird er glauben, man recitiere ein ökumenisches Glaubensbekenntnis, es ist aber ein Citat aus Aristoteles! Und wenn man ihm ferner sagt, Gott sei: "eine ewige, vollkommene, unbedingte Wesenheit, mit Dasein begabt, jedoch ohne Grösse, die in ewiger Aktualität sich selbst denkt, denn (dies dient zur Erklärung) das Denken wird sich gegenständlich durch Denken des Gedachten, so dass Denken und Gedachtes identisch werden -- --", so wird der arme Mann glauben, man lese ihm aus Thomas von Aquin oder allenfalls aus Georg Wilhelm Friedrich Hegel vor, wiederum ist es aber ein Citat aus Aristoteles.1) Die vernunftgemässe Lehre von Gott, die vernunftgemässe Lehre von der Seele, vor allem dann noch die Lehre von einer der menschlichen Vernunft gemässen Zweckordnung der Welt, oder Teleologie (durch welche Aristoteles, nebenbei gesagt, so groteske Irrtümer in seine Naturwissenschaft ein- führte), das war auf diesem Gebiete die Erbschaft! Wie viele Jahr- hunderte hat es gedauert, bis ein mutiger Mann kam, der diesen Ballast über Bord warf und darthat, man könne das Dasein Gottes nicht beweisen, wie Aristoteles es zwei Jahrtausenden vorgelogen hatte? Bis ein Mann kam, der es wagte, die Worte zu schreiben: "Wir sind weder durch Erfahrung, noch durch Schlüsse der Vernunft hinreichend darüber belehrt, ob der Mensch eine Seele (als in ihm wohnende, vom Körper unterschiedene und von diesem unabhängig zu denken vermögende d. i. geistige Substanz) enthalte, oder ob nicht vielmehr das Leben eine Eigenschaft der Materie sein möge?"2) Und wie tief steckte dieser grosse Mann selber noch in dem scholastischen, forma- listischen Sumpf! Doch genug. Ich glaube mit ausreichender Deutlichkeit dar- 1) Metaphysik, Buch XII, Kap. 7. 2) Kant: Ethische Elementarlehre, § 4.
Das Erbe der alten Welt. der nehme einen Katechismus zur Hand, es steckt viel Aristotelesdarin. Wenn man mit einem solchen unphilosophischen Manne von der Gottheit spricht und ihm sagt, sie sei: »ungeworden, unerschaffen, von je bestehend, unvergänglich«, so wird er glauben, man recitiere ein ökumenisches Glaubensbekenntnis, es ist aber ein Citat aus Aristoteles! Und wenn man ihm ferner sagt, Gott sei: »eine ewige, vollkommene, unbedingte Wesenheit, mit Dasein begabt, jedoch ohne Grösse, die in ewiger Aktualität sich selbst denkt, denn (dies dient zur Erklärung) das Denken wird sich gegenständlich durch Denken des Gedachten, so dass Denken und Gedachtes identisch werden — —«, so wird der arme Mann glauben, man lese ihm aus Thomas von Aquin oder allenfalls aus Georg Wilhelm Friedrich Hegel vor, wiederum ist es aber ein Citat aus Aristoteles.1) Die vernunftgemässe Lehre von Gott, die vernunftgemässe Lehre von der Seele, vor allem dann noch die Lehre von einer der menschlichen Vernunft gemässen Zweckordnung der Welt, oder Teleologie (durch welche Aristoteles, nebenbei gesagt, so groteske Irrtümer in seine Naturwissenschaft ein- führte), das war auf diesem Gebiete die Erbschaft! Wie viele Jahr- hunderte hat es gedauert, bis ein mutiger Mann kam, der diesen Ballast über Bord warf und darthat, man könne das Dasein Gottes nicht beweisen, wie Aristoteles es zwei Jahrtausenden vorgelogen hatte? Bis ein Mann kam, der es wagte, die Worte zu schreiben: »Wir sind weder durch Erfahrung, noch durch Schlüsse der Vernunft hinreichend darüber belehrt, ob der Mensch eine Seele (als in ihm wohnende, vom Körper unterschiedene und von diesem unabhängig zu denken vermögende d. i. geistige Substanz) enthalte, oder ob nicht vielmehr das Leben eine Eigenschaft der Materie sein möge?«2) Und wie tief steckte dieser grosse Mann selber noch in dem scholastischen, forma- listischen Sumpf! Doch genug. Ich glaube mit ausreichender Deutlichkeit dar- 1) Metaphysik, Buch XII, Kap. 7. 2) Kant: Ethische Elementarlehre, § 4.
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Das Erbe der alten Welt.
der nehme einen Katechismus zur Hand, es steckt viel Aristoteles
darin. Wenn man mit einem solchen unphilosophischen Manne von
der Gottheit spricht und ihm sagt, sie sei: »ungeworden, unerschaffen,
von je bestehend, unvergänglich«, so wird er glauben, man recitiere
ein ökumenisches Glaubensbekenntnis, es ist aber ein Citat aus
Aristoteles! Und wenn man ihm ferner sagt, Gott sei: »eine ewige,
vollkommene, unbedingte Wesenheit, mit Dasein begabt, jedoch ohne
Grösse, die in ewiger Aktualität sich selbst denkt, denn (dies dient
zur Erklärung) das Denken wird sich gegenständlich durch Denken
des Gedachten, so dass Denken und Gedachtes identisch werden
— —«, so wird der arme Mann glauben, man lese ihm aus Thomas
von Aquin oder allenfalls aus Georg Wilhelm Friedrich Hegel vor,
wiederum ist es aber ein Citat aus Aristoteles. 1) Die vernunftgemässe
Lehre von Gott, die vernunftgemässe Lehre von der Seele, vor allem
dann noch die Lehre von einer der menschlichen Vernunft gemässen
Zweckordnung der Welt, oder Teleologie (durch welche Aristoteles,
nebenbei gesagt, so groteske Irrtümer in seine Naturwissenschaft ein-
führte), das war auf diesem Gebiete die Erbschaft! Wie viele Jahr-
hunderte hat es gedauert, bis ein mutiger Mann kam, der diesen
Ballast über Bord warf und darthat, man könne das Dasein Gottes
nicht beweisen, wie Aristoteles es zwei Jahrtausenden vorgelogen hatte?
Bis ein Mann kam, der es wagte, die Worte zu schreiben: »Wir sind
weder durch Erfahrung, noch durch Schlüsse der Vernunft hinreichend
darüber belehrt, ob der Mensch eine Seele (als in ihm wohnende,
vom Körper unterschiedene und von diesem unabhängig zu denken
vermögende d. i. geistige Substanz) enthalte, oder ob nicht vielmehr
das Leben eine Eigenschaft der Materie sein möge?« 2) Und wie tief
steckte dieser grosse Mann selber noch in dem scholastischen, forma-
listischen Sumpf!
Doch genug. Ich glaube mit ausreichender Deutlichkeit dar-
gethan zu haben, dass hellenische Philosophie nur dann wahrhaft gross
ist, wenn man das Wort im weitesten Sinne nimmt, etwa dem eng-
lischen Sprachgebrauch gemäss, nach welchem ein Newton und ein
Cuvier, oder wieder ein Jean Jacques Rousseau und ein Goethe »Philo-
sophen« heissen. Sobald der Grieche das Gebiet der Anschaulichkeit
verliess — und zwar gleich von Thales an — wurde er verhängnis-
1) Metaphysik, Buch XII, Kap. 7.
2) Kant: Ethische Elementarlehre, § 4.
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