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Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 1. München 1899.

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Das Erbe der alten Welt.
lehrten Poeten gesungen hatten; das ist Alles Mummerei -- auch eine
"Erbschaft", aber eine traurige. In Wahrheit waren, ich kann es
nicht oft genug wiederholen, die Poeten der Hellenen bedeutend tiefer
als ihre Denker.1) Noch ein letztes Beispiel. Wir pflegen nach altem Her-
kommen Aristoteles für nichts wärmer zu beloben als für seine teleo-
logische Begründung des Weltalls, wogegen wir Homer seinen Anthropo-
morphismus vorwerfen. Litten wir nicht an künstlich anerzogener
Gehirnstarre, so müssten wir die Absurdität solcher Urteile einsehen.
Die Teleologie, d. h. die Zweckmässigkeitslehre nach Massgabe der
menschlichen Vernunft, ist Anthropomorphismus in seiner gesteigertsten
Potenz. Wenn der Mensch den Plan des Kosmos fassen, wenn er
sagen kann, woher die Welt kommt, wohin sie geht und die Zweck-
mässigkeit eines jeglichen Dinges ist ihm offenbar, so ist er eigentlich
selber Gott, und die gesamte Welt ist "menschlich": das sagen auch
ausdrücklich die Orphiker und -- Aristoteles. Ganz anders der Poet.
Man citiert überall, schon zu den Zeiten Heraklit's, und von da an
bis auf Ranke, den Vorwurf des Xenophanes gegen Homer: er bilde
die Götter wie Hellenen, die Neger würden aber einen schwarzen
Zeus sich erdichten und die Pferde sich die Götter als Pferde denken.
Verständnisloser und oberflächlicher kann man gar nicht sein. Der
Vorwurf ist nicht einmal faktisch richtig, da die Götter bei Homer
in allen möglichen Gestalten vorkommen. Wie K. Lehrs in seinem
schönen, leider fast vergessenen Buche Ethik und Religion der
Griechen
(S. 136/7) sagt: "Die griechischen Götter sind gar nicht
Nachbilder der Menschen, sondern Gegenbilder. Sie sind keine kos-
mischen Potenzen (was sie erst für die Philosophen wurden), ebenso-
wenig erhöhte Menschen! Häufig kommen sie in Tiergestalt vor, und
tragen nur die menschliche für gewöhnlich als die schönste und
edelste und geeignetste, aber an und für sich ist ihnen jede andere
Gestalt eben so natürlich." Unvergleichlich wichtiger ist jedoch die
Thatsache, dass bei Homer und den anderen grossen Poeten jegliche
Teleologie fehlt; denn erst mit diesem Begriff tritt unableugbarer
Anthropomorphismus auf. Warum soll ich die Götter nicht in Menschen-
gestalt darstellen? Soll ich sie etwa als Schafe oder Mistkäfer in
mein Gedicht einführen? Haben Raphael und Michelangelo es nicht
genau so gehalten wie Homer? Hat die christliche Religion nicht

1) Und zu den Poeten haben wir, wie man weiss, solche Männer wie
Plato und Demokrit im besten Teil ihres Lebenswerkes zu rechnen!

Das Erbe der alten Welt.
lehrten Poeten gesungen hatten; das ist Alles Mummerei — auch eine
»Erbschaft«, aber eine traurige. In Wahrheit waren, ich kann es
nicht oft genug wiederholen, die Poeten der Hellenen bedeutend tiefer
als ihre Denker.1) Noch ein letztes Beispiel. Wir pflegen nach altem Her-
kommen Aristoteles für nichts wärmer zu beloben als für seine teleo-
logische Begründung des Weltalls, wogegen wir Homer seinen Anthropo-
morphismus vorwerfen. Litten wir nicht an künstlich anerzogener
Gehirnstarre, so müssten wir die Absurdität solcher Urteile einsehen.
Die Teleologie, d. h. die Zweckmässigkeitslehre nach Massgabe der
menschlichen Vernunft, ist Anthropomorphismus in seiner gesteigertsten
Potenz. Wenn der Mensch den Plan des Kosmos fassen, wenn er
sagen kann, woher die Welt kommt, wohin sie geht und die Zweck-
mässigkeit eines jeglichen Dinges ist ihm offenbar, so ist er eigentlich
selber Gott, und die gesamte Welt ist »menschlich«: das sagen auch
ausdrücklich die Orphiker und — Aristoteles. Ganz anders der Poet.
Man citiert überall, schon zu den Zeiten Heraklit’s, und von da an
bis auf Ranke, den Vorwurf des Xenophanes gegen Homer: er bilde
die Götter wie Hellenen, die Neger würden aber einen schwarzen
Zeus sich erdichten und die Pferde sich die Götter als Pferde denken.
Verständnisloser und oberflächlicher kann man gar nicht sein. Der
Vorwurf ist nicht einmal faktisch richtig, da die Götter bei Homer
in allen möglichen Gestalten vorkommen. Wie K. Lehrs in seinem
schönen, leider fast vergessenen Buche Ethik und Religion der
Griechen
(S. 136/7) sagt: »Die griechischen Götter sind gar nicht
Nachbilder der Menschen, sondern Gegenbilder. Sie sind keine kos-
mischen Potenzen (was sie erst für die Philosophen wurden), ebenso-
wenig erhöhte Menschen! Häufig kommen sie in Tiergestalt vor, und
tragen nur die menschliche für gewöhnlich als die schönste und
edelste und geeignetste, aber an und für sich ist ihnen jede andere
Gestalt eben so natürlich.« Unvergleichlich wichtiger ist jedoch die
Thatsache, dass bei Homer und den anderen grossen Poeten jegliche
Teleologie fehlt; denn erst mit diesem Begriff tritt unableugbarer
Anthropomorphismus auf. Warum soll ich die Götter nicht in Menschen-
gestalt darstellen? Soll ich sie etwa als Schafe oder Mistkäfer in
mein Gedicht einführen? Haben Raphael und Michelangelo es nicht
genau so gehalten wie Homer? Hat die christliche Religion nicht

1) Und zu den Poeten haben wir, wie man weiss, solche Männer wie
Plato und Demokrit im besten Teil ihres Lebenswerkes zu rechnen!
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[116/0139] Das Erbe der alten Welt. lehrten Poeten gesungen hatten; das ist Alles Mummerei — auch eine »Erbschaft«, aber eine traurige. In Wahrheit waren, ich kann es nicht oft genug wiederholen, die Poeten der Hellenen bedeutend tiefer als ihre Denker. 1) Noch ein letztes Beispiel. Wir pflegen nach altem Her- kommen Aristoteles für nichts wärmer zu beloben als für seine teleo- logische Begründung des Weltalls, wogegen wir Homer seinen Anthropo- morphismus vorwerfen. Litten wir nicht an künstlich anerzogener Gehirnstarre, so müssten wir die Absurdität solcher Urteile einsehen. Die Teleologie, d. h. die Zweckmässigkeitslehre nach Massgabe der menschlichen Vernunft, ist Anthropomorphismus in seiner gesteigertsten Potenz. Wenn der Mensch den Plan des Kosmos fassen, wenn er sagen kann, woher die Welt kommt, wohin sie geht und die Zweck- mässigkeit eines jeglichen Dinges ist ihm offenbar, so ist er eigentlich selber Gott, und die gesamte Welt ist »menschlich«: das sagen auch ausdrücklich die Orphiker und — Aristoteles. Ganz anders der Poet. Man citiert überall, schon zu den Zeiten Heraklit’s, und von da an bis auf Ranke, den Vorwurf des Xenophanes gegen Homer: er bilde die Götter wie Hellenen, die Neger würden aber einen schwarzen Zeus sich erdichten und die Pferde sich die Götter als Pferde denken. Verständnisloser und oberflächlicher kann man gar nicht sein. Der Vorwurf ist nicht einmal faktisch richtig, da die Götter bei Homer in allen möglichen Gestalten vorkommen. Wie K. Lehrs in seinem schönen, leider fast vergessenen Buche Ethik und Religion der Griechen (S. 136/7) sagt: »Die griechischen Götter sind gar nicht Nachbilder der Menschen, sondern Gegenbilder. Sie sind keine kos- mischen Potenzen (was sie erst für die Philosophen wurden), ebenso- wenig erhöhte Menschen! Häufig kommen sie in Tiergestalt vor, und tragen nur die menschliche für gewöhnlich als die schönste und edelste und geeignetste, aber an und für sich ist ihnen jede andere Gestalt eben so natürlich.« Unvergleichlich wichtiger ist jedoch die Thatsache, dass bei Homer und den anderen grossen Poeten jegliche Teleologie fehlt; denn erst mit diesem Begriff tritt unableugbarer Anthropomorphismus auf. Warum soll ich die Götter nicht in Menschen- gestalt darstellen? Soll ich sie etwa als Schafe oder Mistkäfer in mein Gedicht einführen? Haben Raphael und Michelangelo es nicht genau so gehalten wie Homer? Hat die christliche Religion nicht 1) Und zu den Poeten haben wir, wie man weiss, solche Männer wie Plato und Demokrit im besten Teil ihres Lebenswerkes zu rechnen!

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Zitationshilfe: Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 1. München 1899, S. 116. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen01_1899/139>, abgerufen am 21.11.2024.