Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 1. München 1899.Das Erbe der alten Welt. wart es gegenüber der Römerzeit in der Übung oder auch nur Er-kennung der wirklichen Gerechtigkeit schon gar herrlich weit ge- bracht", 1) so spricht er etwas Beherzigenswertes aus; ich citiere aber diese Worte, um recht fühlbar zu machen, dass ich an dieser Stelle nicht von Gerechtigkeit spreche, sondern von Recht, und damit der Unterschied klar hervortrete. Unsere edle Vorstellung der Pflichten der Humanität bedeutet doch wohl eine Klärung der Vorstellungen in Bezug auf Gerechtigkeit; das juristische Rechtsgefühl ist dagegen ein ganz anderes Ding und wird auch durch den Besitz der vervoll- kommnetsten, doch importierten Rechtssysteme weder bewährt noch gefördert. Um die Unvergleichlichkeit der römischen Leistung zu begreifen, 1) Gräco-italische Rechtsgeschichte S. 441. 2) Wie sehr das corpus juris des Justinian dem echten römischen Recht
nachsteht, hebt schon Francis Bacon hervor und tadelt es, dass eine so "dunkle Zeit" sich gestattet habe, an das Werk einer so "glänzenden Zeit" verbessernd die Hand anzulegen (siehe die Widmung der Law Tracts). Das Erbe der alten Welt. wart es gegenüber der Römerzeit in der Übung oder auch nur Er-kennung der wirklichen Gerechtigkeit schon gar herrlich weit ge- bracht«, 1) so spricht er etwas Beherzigenswertes aus; ich citiere aber diese Worte, um recht fühlbar zu machen, dass ich an dieser Stelle nicht von Gerechtigkeit spreche, sondern von Recht, und damit der Unterschied klar hervortrete. Unsere edle Vorstellung der Pflichten der Humanität bedeutet doch wohl eine Klärung der Vorstellungen in Bezug auf Gerechtigkeit; das juristische Rechtsgefühl ist dagegen ein ganz anderes Ding und wird auch durch den Besitz der vervoll- kommnetsten, doch importierten Rechtssysteme weder bewährt noch gefördert. Um die Unvergleichlichkeit der römischen Leistung zu begreifen, 1) Gräco-italische Rechtsgeschichte S. 441. 2) Wie sehr das corpus juris des Justinian dem echten römischen Recht
nachsteht, hebt schon Francis Bacon hervor und tadelt es, dass eine so »dunkle Zeit« sich gestattet habe, an das Werk einer so »glänzenden Zeit« verbessernd die Hand anzulegen (siehe die Widmung der Law Tracts). <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <p><pb facs="#f0191" n="168"/><fw place="top" type="header">Das Erbe der alten Welt.</fw><lb/> wart es gegenüber der Römerzeit in der Übung oder auch nur Er-<lb/> kennung der wirklichen Gerechtigkeit schon gar herrlich weit ge-<lb/> bracht«, <note place="foot" n="1)"><hi rendition="#i">Gräco-italische Rechtsgeschichte</hi> S. 441.</note> so spricht er etwas Beherzigenswertes aus; ich citiere aber<lb/> diese Worte, um recht fühlbar zu machen, dass ich an dieser Stelle<lb/><hi rendition="#g">nicht</hi> von Gerechtigkeit spreche, sondern von Recht, und damit der<lb/> Unterschied klar hervortrete. Unsere edle Vorstellung der Pflichten<lb/> der Humanität bedeutet doch wohl eine Klärung der Vorstellungen<lb/> in Bezug auf Gerechtigkeit; das <hi rendition="#g">juristische</hi> Rechtsgefühl ist dagegen<lb/> ein ganz anderes Ding und wird auch durch den Besitz der vervoll-<lb/> kommnetsten, doch importierten Rechtssysteme weder bewährt noch<lb/> gefördert.</p><lb/> <p>Um die Unvergleichlichkeit der römischen Leistung zu begreifen,<lb/> darf allerdings ein Umstand nicht übersehen werden: das uns geläufige<lb/> justinianische <hi rendition="#i">corpus juris</hi> ist nur die einbalsamierte Leiche des römischen<lb/> Rechtes. <note place="foot" n="2)">Wie sehr das <hi rendition="#i">corpus juris</hi> des Justinian dem echten römischen Recht<lb/> nachsteht, hebt schon Francis Bacon hervor und tadelt es, dass eine so »dunkle<lb/> Zeit« sich gestattet habe, an das Werk einer so »glänzenden Zeit« verbessernd die<lb/> Hand anzulegen (siehe die Widmung der <hi rendition="#i">Law Tracts</hi>).</note> Jahrhundertelang wurde sie von geschickten Fachmännern<lb/> auf galvanischem Wege im Scheinleben erhalten; jetzt haben sich alle<lb/> gesitteten Völker ein eigenes Recht ausgearbeitet; ohne das römische<lb/> wäre das aber nicht möglich gewesen, uns allen geht die nötige Be-<lb/> gabung ab. Eine einzige Beobachtung genügt, um den Abstand fühl-<lb/> bar zu machen: das römische Recht der echten Heldenzeit, fest wie<lb/> ein Fels, war nichtsdestoweniger unglaublich elastisch, — »unglaublich«<lb/> meine ich, für unsere modernen, ängstlichen Vorstellungen, denn wir<lb/> haben jenem Rechte alles entnommen, nur nicht seinen lebensvollen<lb/> Charakter. Das römische Recht war ein unaufhörlich »Werdendes«,<lb/> durch besondere, geniale Einrichtungen befähigt, den wechselnden<lb/> Bedürfnissen der Zeiten sich anzupassen. Das Recht, welches im<lb/> 5. Jahrhundert vor Christus von den dazu ernannten Decemvirn seinen<lb/> allgemeinen Umrissen nach in eherne Tafeln eingegraben wurde, war<lb/> nicht ein neues, improvisiertes, von nun an unbewegliches, sondern im<lb/> Wesentlichen eine Kodifikation des schon vorhandenen, historisch ge-<lb/> wachsenen; die Römer wussten sich Mittel und Wege zu ersinnen,<lb/> damit es auch dann nicht krystallisiere. An den zwölf Tafeln z. B.<lb/> machte sich zunächst der »interpretierende« Scharfsinn der Beamten<lb/> verdient, nicht um das Gesetz zu verdrehen, sondern um es erweiterten<lb/></p> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [168/0191]
Das Erbe der alten Welt.
wart es gegenüber der Römerzeit in der Übung oder auch nur Er-
kennung der wirklichen Gerechtigkeit schon gar herrlich weit ge-
bracht«, 1) so spricht er etwas Beherzigenswertes aus; ich citiere aber
diese Worte, um recht fühlbar zu machen, dass ich an dieser Stelle
nicht von Gerechtigkeit spreche, sondern von Recht, und damit der
Unterschied klar hervortrete. Unsere edle Vorstellung der Pflichten
der Humanität bedeutet doch wohl eine Klärung der Vorstellungen
in Bezug auf Gerechtigkeit; das juristische Rechtsgefühl ist dagegen
ein ganz anderes Ding und wird auch durch den Besitz der vervoll-
kommnetsten, doch importierten Rechtssysteme weder bewährt noch
gefördert.
Um die Unvergleichlichkeit der römischen Leistung zu begreifen,
darf allerdings ein Umstand nicht übersehen werden: das uns geläufige
justinianische corpus juris ist nur die einbalsamierte Leiche des römischen
Rechtes. 2) Jahrhundertelang wurde sie von geschickten Fachmännern
auf galvanischem Wege im Scheinleben erhalten; jetzt haben sich alle
gesitteten Völker ein eigenes Recht ausgearbeitet; ohne das römische
wäre das aber nicht möglich gewesen, uns allen geht die nötige Be-
gabung ab. Eine einzige Beobachtung genügt, um den Abstand fühl-
bar zu machen: das römische Recht der echten Heldenzeit, fest wie
ein Fels, war nichtsdestoweniger unglaublich elastisch, — »unglaublich«
meine ich, für unsere modernen, ängstlichen Vorstellungen, denn wir
haben jenem Rechte alles entnommen, nur nicht seinen lebensvollen
Charakter. Das römische Recht war ein unaufhörlich »Werdendes«,
durch besondere, geniale Einrichtungen befähigt, den wechselnden
Bedürfnissen der Zeiten sich anzupassen. Das Recht, welches im
5. Jahrhundert vor Christus von den dazu ernannten Decemvirn seinen
allgemeinen Umrissen nach in eherne Tafeln eingegraben wurde, war
nicht ein neues, improvisiertes, von nun an unbewegliches, sondern im
Wesentlichen eine Kodifikation des schon vorhandenen, historisch ge-
wachsenen; die Römer wussten sich Mittel und Wege zu ersinnen,
damit es auch dann nicht krystallisiere. An den zwölf Tafeln z. B.
machte sich zunächst der »interpretierende« Scharfsinn der Beamten
verdient, nicht um das Gesetz zu verdrehen, sondern um es erweiterten
1) Gräco-italische Rechtsgeschichte S. 441.
2) Wie sehr das corpus juris des Justinian dem echten römischen Recht
nachsteht, hebt schon Francis Bacon hervor und tadelt es, dass eine so »dunkle
Zeit« sich gestattet habe, an das Werk einer so »glänzenden Zeit« verbessernd die
Hand anzulegen (siehe die Widmung der Law Tracts).
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