Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 1. München 1899.Das Erbe der alten Welt. Wertes genialer Kunst. Wo römische Dichtung das Erhabene an-strebt, wie bei Virgil und Ovid, schliesst sie sich möglichst sklavisch an griechische Muster an im richtigen Gefühl ihrer rettungslosen Un- originalität. Wie Treitschke sagt: "Die römische Litteratur ist eine griechische, die mit lateinischen Worten geschrieben wird".1) Was sollen unsere unseligen Knaben denken, wenn ihnen früh die Ilias des grössten dichterischen Schöpfers aller Zeiten erklärt wird, nach- mittags die auf kaiserlichen Befehl ausgearbeitete Tendenzepopöe, die Aeneis: beides als klassische Muster? Das Echte und das Unechte, das glorreiche, freie Schaffen aus höchster schöpferischer Not und die feingebildete Technik im Dienste des Goldes und des Dilettantismus, das Genie und das Talent: vorgeführt als zwei auf demselben Stock gewachsene Blumen, nur wenig unterschieden! So lange jenes blasse Gedankenunding, der Begriff der "klassischen Litteratur", unter uns als Dogma weiterlebt, solange umfängt uns noch die Nacht des Völker- chaos, so lange sind unsere Schulen Sterilisierungsanstalten zur Ver- tilgung jeder schöpferischen Regung. Hellenische Dichtung war ein Anfang, eine Morgendämmerung, sie erschuf ein Volk, sie schenkte ihm aus verschwenderischem Herzen alles, was höchste Schönheit geben kann, um das Leben zu heiligen, alles was Poesie vermag, um arme, geplagte Menschenseelen zu verklären und mit der Ahnung unsicht- barer, freundlicher Mächte zu erfüllen, -- und unversiegbar quillt nunmehr dieser Lebensborn, ein Jahrhundert nach dem andern labt sich an ihm, ein Volk nach dem andern schöpft aus seinen Fluten die Begeisterungskraft, selber Schönes zu schaffen; denn das Genie ist wie Gott: zwar offenbart es sich in einer bestimmten Zeit und unter bestimmten Umständen, seinem Wesen nach ist es aber unbe- dingt, was Anderen zu Ketten wird, daraus schmiedet es sich Flügel, es entsteigt der Zeit und ihrem Todesschatten und geht lebendig ein in die Ewigkeit. In Rom dagegen, man darf es kühn behaupten, war das Genie überhaupt verboten! Rom hat keinerlei Dichtung, bis es in Verwesung kommt. Erst bei hereinbrechender Nacht, als kein Volk mehr da ist, um sie zu hören, erheben seine Sänger ihre Stimmen; Nachtfalter sind es; sie schreiben für die Boudoirs lasciver Frauen, für die Zerstreuung feingebildeter Lebemänner und für den Hof. Ob- wohl Hellenen in nächster Nähe lebten und von den frühesten Zeiten an die Samen hellenischer Kunst und Philosophie und Wissenschaft 1) Über den grossen Lucrez als Ausnahme, vergl. das S. 71, Anm. Gesagte.
Das Erbe der alten Welt. Wertes genialer Kunst. Wo römische Dichtung das Erhabene an-strebt, wie bei Virgil und Ovid, schliesst sie sich möglichst sklavisch an griechische Muster an im richtigen Gefühl ihrer rettungslosen Un- originalität. Wie Treitschke sagt: »Die römische Litteratur ist eine griechische, die mit lateinischen Worten geschrieben wird«.1) Was sollen unsere unseligen Knaben denken, wenn ihnen früh die Ilias des grössten dichterischen Schöpfers aller Zeiten erklärt wird, nach- mittags die auf kaiserlichen Befehl ausgearbeitete Tendenzepopöe, die Aeneis: beides als klassische Muster? Das Echte und das Unechte, das glorreiche, freie Schaffen aus höchster schöpferischer Not und die feingebildete Technik im Dienste des Goldes und des Dilettantismus, das Genie und das Talent: vorgeführt als zwei auf demselben Stock gewachsene Blumen, nur wenig unterschieden! So lange jenes blasse Gedankenunding, der Begriff der »klassischen Litteratur«, unter uns als Dogma weiterlebt, solange umfängt uns noch die Nacht des Völker- chaos, so lange sind unsere Schulen Sterilisierungsanstalten zur Ver- tilgung jeder schöpferischen Regung. Hellenische Dichtung war ein Anfang, eine Morgendämmerung, sie erschuf ein Volk, sie schenkte ihm aus verschwenderischem Herzen alles, was höchste Schönheit geben kann, um das Leben zu heiligen, alles was Poesie vermag, um arme, geplagte Menschenseelen zu verklären und mit der Ahnung unsicht- barer, freundlicher Mächte zu erfüllen, — und unversiegbar quillt nunmehr dieser Lebensborn, ein Jahrhundert nach dem andern labt sich an ihm, ein Volk nach dem andern schöpft aus seinen Fluten die Begeisterungskraft, selber Schönes zu schaffen; denn das Genie ist wie Gott: zwar offenbart es sich in einer bestimmten Zeit und unter bestimmten Umständen, seinem Wesen nach ist es aber unbe- dingt, was Anderen zu Ketten wird, daraus schmiedet es sich Flügel, es entsteigt der Zeit und ihrem Todesschatten und geht lebendig ein in die Ewigkeit. In Rom dagegen, man darf es kühn behaupten, war das Genie überhaupt verboten! Rom hat keinerlei Dichtung, bis es in Verwesung kommt. Erst bei hereinbrechender Nacht, als kein Volk mehr da ist, um sie zu hören, erheben seine Sänger ihre Stimmen; Nachtfalter sind es; sie schreiben für die Boudoirs lasciver Frauen, für die Zerstreuung feingebildeter Lebemänner und für den Hof. Ob- wohl Hellenen in nächster Nähe lebten und von den frühesten Zeiten an die Samen hellenischer Kunst und Philosophie und Wissenschaft 1) Über den grossen Lucrez als Ausnahme, vergl. das S. 71, Anm. Gesagte.
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Das Erbe der alten Welt.
Wertes genialer Kunst. Wo römische Dichtung das Erhabene an-
strebt, wie bei Virgil und Ovid, schliesst sie sich möglichst sklavisch
an griechische Muster an im richtigen Gefühl ihrer rettungslosen Un-
originalität. Wie Treitschke sagt: »Die römische Litteratur ist eine
griechische, die mit lateinischen Worten geschrieben wird«. 1) Was
sollen unsere unseligen Knaben denken, wenn ihnen früh die Ilias
des grössten dichterischen Schöpfers aller Zeiten erklärt wird, nach-
mittags die auf kaiserlichen Befehl ausgearbeitete Tendenzepopöe, die
Aeneis: beides als klassische Muster? Das Echte und das Unechte, das
glorreiche, freie Schaffen aus höchster schöpferischer Not und die
feingebildete Technik im Dienste des Goldes und des Dilettantismus,
das Genie und das Talent: vorgeführt als zwei auf demselben Stock
gewachsene Blumen, nur wenig unterschieden! So lange jenes blasse
Gedankenunding, der Begriff der »klassischen Litteratur«, unter uns
als Dogma weiterlebt, solange umfängt uns noch die Nacht des Völker-
chaos, so lange sind unsere Schulen Sterilisierungsanstalten zur Ver-
tilgung jeder schöpferischen Regung. Hellenische Dichtung war ein
Anfang, eine Morgendämmerung, sie erschuf ein Volk, sie schenkte
ihm aus verschwenderischem Herzen alles, was höchste Schönheit geben
kann, um das Leben zu heiligen, alles was Poesie vermag, um arme,
geplagte Menschenseelen zu verklären und mit der Ahnung unsicht-
barer, freundlicher Mächte zu erfüllen, — und unversiegbar quillt
nunmehr dieser Lebensborn, ein Jahrhundert nach dem andern labt
sich an ihm, ein Volk nach dem andern schöpft aus seinen Fluten
die Begeisterungskraft, selber Schönes zu schaffen; denn das Genie
ist wie Gott: zwar offenbart es sich in einer bestimmten Zeit und
unter bestimmten Umständen, seinem Wesen nach ist es aber unbe-
dingt, was Anderen zu Ketten wird, daraus schmiedet es sich Flügel,
es entsteigt der Zeit und ihrem Todesschatten und geht lebendig ein
in die Ewigkeit. In Rom dagegen, man darf es kühn behaupten,
war das Genie überhaupt verboten! Rom hat keinerlei Dichtung, bis
es in Verwesung kommt. Erst bei hereinbrechender Nacht, als kein
Volk mehr da ist, um sie zu hören, erheben seine Sänger ihre Stimmen;
Nachtfalter sind es; sie schreiben für die Boudoirs lasciver Frauen,
für die Zerstreuung feingebildeter Lebemänner und für den Hof. Ob-
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