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Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 1. München 1899.

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Vor unseren Augen steht eine bestimmte, unvergleichliche Er-Einleitendes.
scheinung; dieses erschaute Bild ist das Erbe, das wir von unseren
Vätern überkommen haben. Die historische Bedeutung des Christen-
tums kann man ohne die genaue Kenntnis dieser Erscheinung nicht
ermessen und richtig beurteilen; dagegen gilt das Umgekehrte nicht,
und die Gestalt Jesu Christi ist heute durch die geschichtliche Ent-
wickelung der Kirchen eher verdunkelt und ferngerückt als unserem
klarschauenden Auge enthüllt. Einzig durch eine örtlich und zeitlich
beschränkte Kirchenlehre diese Gestalt erblicken, heisst sich freiwillig
Scheuklappen auf binden und sich die Aussicht in das göttlich Ewige
auf ein kleines Mass beschränken. Durch die Kirchendogmen wird
ohnehin gerade die Erscheinung Christi kaum berührt; sie alle sind so
abstrakt, dass sie weder dem Verstand noch dem Gefühl einen An-
haltspunkt bieten; es gilt von ihnen im Allgemeinen, was ein unver-
fänglicher Zeuge, der heilige Augustinus, von dem Dogma der Drei-
einigkeit sagt: "Wir reden also von drei Personen, nicht weil wir
wähnen, hiermit etwas ausgesagt zu haben, sondern lediglich, weil
wir nicht schweigen können".1) Gewiss ist es keine Verletzung der
schuldigen Ehrfurcht, wenn wir sagen: nicht die Kirchen bilden die
Macht des Christentums, sondern diese bildet einzig und allein jener
Quell, aus dem die Kirchen selber alle Kraft schöpfen: der Anblick
des gekreuzigten Menschensohns.

Trennen wir also die Erscheinung Christi auf Erden von allem
historischen Christentum.

Was sind denn auch unsere 19 Jahrhunderte für die bewusste
Aufnahme eines derartigen Erlebnisses, für die alle Schichten der
Menschheit durchdringende Umwandlung durch eine von Grund aus
neue Weltanschauung? Man bedenke doch, dass es über zwei Jahr-

1) "Dictum est tarnen tres personae, non ut aliquid diceretur, sed ne taceretur."
De Trinitate,
lib. V, c. 9.

Vor unseren Augen steht eine bestimmte, unvergleichliche Er-Einleitendes.
scheinung; dieses erschaute Bild ist das Erbe, das wir von unseren
Vätern überkommen haben. Die historische Bedeutung des Christen-
tums kann man ohne die genaue Kenntnis dieser Erscheinung nicht
ermessen und richtig beurteilen; dagegen gilt das Umgekehrte nicht,
und die Gestalt Jesu Christi ist heute durch die geschichtliche Ent-
wickelung der Kirchen eher verdunkelt und ferngerückt als unserem
klarschauenden Auge enthüllt. Einzig durch eine örtlich und zeitlich
beschränkte Kirchenlehre diese Gestalt erblicken, heisst sich freiwillig
Scheuklappen auf binden und sich die Aussicht in das göttlich Ewige
auf ein kleines Mass beschränken. Durch die Kirchendogmen wird
ohnehin gerade die Erscheinung Christi kaum berührt; sie alle sind so
abstrakt, dass sie weder dem Verstand noch dem Gefühl einen An-
haltspunkt bieten; es gilt von ihnen im Allgemeinen, was ein unver-
fänglicher Zeuge, der heilige Augustinus, von dem Dogma der Drei-
einigkeit sagt: »Wir reden also von drei Personen, nicht weil wir
wähnen, hiermit etwas ausgesagt zu haben, sondern lediglich, weil
wir nicht schweigen können«.1) Gewiss ist es keine Verletzung der
schuldigen Ehrfurcht, wenn wir sagen: nicht die Kirchen bilden die
Macht des Christentums, sondern diese bildet einzig und allein jener
Quell, aus dem die Kirchen selber alle Kraft schöpfen: der Anblick
des gekreuzigten Menschensohns.

Trennen wir also die Erscheinung Christi auf Erden von allem
historischen Christentum.

Was sind denn auch unsere 19 Jahrhunderte für die bewusste
Aufnahme eines derartigen Erlebnisses, für die alle Schichten der
Menschheit durchdringende Umwandlung durch eine von Grund aus
neue Weltanschauung? Man bedenke doch, dass es über zwei Jahr-

1) »Dictum est tarnen tres personae, non ut aliquid diceretur, sed ne taceretur.«
De Trinitate,
lib. V, c. 9.
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[[189]/0212] Vor unseren Augen steht eine bestimmte, unvergleichliche Er- scheinung; dieses erschaute Bild ist das Erbe, das wir von unseren Vätern überkommen haben. Die historische Bedeutung des Christen- tums kann man ohne die genaue Kenntnis dieser Erscheinung nicht ermessen und richtig beurteilen; dagegen gilt das Umgekehrte nicht, und die Gestalt Jesu Christi ist heute durch die geschichtliche Ent- wickelung der Kirchen eher verdunkelt und ferngerückt als unserem klarschauenden Auge enthüllt. Einzig durch eine örtlich und zeitlich beschränkte Kirchenlehre diese Gestalt erblicken, heisst sich freiwillig Scheuklappen auf binden und sich die Aussicht in das göttlich Ewige auf ein kleines Mass beschränken. Durch die Kirchendogmen wird ohnehin gerade die Erscheinung Christi kaum berührt; sie alle sind so abstrakt, dass sie weder dem Verstand noch dem Gefühl einen An- haltspunkt bieten; es gilt von ihnen im Allgemeinen, was ein unver- fänglicher Zeuge, der heilige Augustinus, von dem Dogma der Drei- einigkeit sagt: »Wir reden also von drei Personen, nicht weil wir wähnen, hiermit etwas ausgesagt zu haben, sondern lediglich, weil wir nicht schweigen können«. 1) Gewiss ist es keine Verletzung der schuldigen Ehrfurcht, wenn wir sagen: nicht die Kirchen bilden die Macht des Christentums, sondern diese bildet einzig und allein jener Quell, aus dem die Kirchen selber alle Kraft schöpfen: der Anblick des gekreuzigten Menschensohns. Einleitendes. Trennen wir also die Erscheinung Christi auf Erden von allem historischen Christentum. Was sind denn auch unsere 19 Jahrhunderte für die bewusste Aufnahme eines derartigen Erlebnisses, für die alle Schichten der Menschheit durchdringende Umwandlung durch eine von Grund aus neue Weltanschauung? Man bedenke doch, dass es über zwei Jahr- 1) »Dictum est tarnen tres personae, non ut aliquid diceretur, sed ne taceretur.« De Trinitate, lib. V, c. 9.

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Zitationshilfe: Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 1. München 1899, S. [189]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen01_1899/212>, abgerufen am 21.11.2024.