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Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 1. München 1899.

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Die Erscheinung Christi.
als den Seinigen zu bezeichnen? Jedenfalls nicht in Judäa! -- Für
den Gläubigen ist Jesus der Sohn Gottes, nicht eines Menschen;
für den Ungläubigen wird es schwer werden, eine Formel zu finden,
welche die unleugbar vorliegende Thatsache dieser unvergleichlichen
Persönlichkeit in ihrer Unerklärlichkeit so knapp und vielsagend be-
zeichnet. Es giebt eben Erscheinungen, die in den Vorstellungs-
komplex des Verstandes gar nicht ohne Symbol eingereiht werden
können. Soviel über die prinzipielle Frage, und um jeden Verdacht
von mir abzuwehren, als segelte ich im Schlepptau jener flachen
"historischen" Schule, welche das Unerklärliche zu erklären unter-
nimmt. Ein anderes ist es, uns über die historisch gewordene Um-
gebung der Persönlichkeit zu belehren, lediglich damit wir diese noch
deutlicher erschauen. Thun wir das, so ist die Antwort auf die Frage:
war Christus ein Jude? keinesfalls eine einfache. Der Religion und
der Erziehung nach war er es unzweifelhaft; der Rasse nach -- im
engeren und eigentlichen Sinne des Wortes "Jude" -- höchst wahr-
scheinlich nicht.

Der Name Galiläa (von Gelil haggoyim) bedeutet "Heidengau".
Es scheint, als ob dieser Landesteil, so sehr entfernt vom geistigen
Mittelpunkt, sich nie ganz rein erhalten hätte, selbst in den alten Zeiten
nicht, als Israel noch stark und einig dastand, und es den Stämmen
Naphtali und Sebulon als Heimat diente. Vom Stamme Naphtali
wird gemeldet, er sei von Hause aus "sehr gemischter Herkunft",
und, blieb auch die nicht-israelitische Urbevölkerung im ganzen Bereich
Palästina's bestehen, so geschah das "nirgendswo in so starken Massen
wie in den nördlichen Marken".1) Dazu kam noch ein fernerer Um-
stand. Während das übrige Palästina durch seine geographische Lage
von der Welt gleichsam abgesondert ist, führte schon, als die Israeliten
das Land besetzten, eine Strasse vom See Genesareth nach Damaskus,
und Tyr und Sidon waren schneller als Jerusalem von dorther zu
erreichen. So sehen wir denn auch Salomon ein beträchtliches Stück
dieses Heidengaues (wie es schon damals hiess, I Könige IX, 11) mit
zwanzig Städten dem König von Tyrus als Bezahlung für seine
Lieferungen an Cedern und Tannenbäumen und für die 120 Zentner
Gold abtreten, die jener für den Tempelbau geliefert hatte; so wenig
lag dieses halb von Fremden bewohnte Land dem König Judäa's am

1) Wellhausen: Israelitische und jüdische Geschichte, 3. Ausg. 1897, S. 16 u. 47.
Vergl. ausserdem Richter I, 30 und 33 und hier weiter unten, Kap. 5.
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Die Erscheinung Christi.
als den Seinigen zu bezeichnen? Jedenfalls nicht in Judäa! — Für
den Gläubigen ist Jesus der Sohn Gottes, nicht eines Menschen;
für den Ungläubigen wird es schwer werden, eine Formel zu finden,
welche die unleugbar vorliegende Thatsache dieser unvergleichlichen
Persönlichkeit in ihrer Unerklärlichkeit so knapp und vielsagend be-
zeichnet. Es giebt eben Erscheinungen, die in den Vorstellungs-
komplex des Verstandes gar nicht ohne Symbol eingereiht werden
können. Soviel über die prinzipielle Frage, und um jeden Verdacht
von mir abzuwehren, als segelte ich im Schlepptau jener flachen
»historischen« Schule, welche das Unerklärliche zu erklären unter-
nimmt. Ein anderes ist es, uns über die historisch gewordene Um-
gebung der Persönlichkeit zu belehren, lediglich damit wir diese noch
deutlicher erschauen. Thun wir das, so ist die Antwort auf die Frage:
war Christus ein Jude? keinesfalls eine einfache. Der Religion und
der Erziehung nach war er es unzweifelhaft; der Rasse nach — im
engeren und eigentlichen Sinne des Wortes »Jude« — höchst wahr-
scheinlich nicht.

Der Name Galiläa (von Gelil haggoyim) bedeutet »Heidengau«.
Es scheint, als ob dieser Landesteil, so sehr entfernt vom geistigen
Mittelpunkt, sich nie ganz rein erhalten hätte, selbst in den alten Zeiten
nicht, als Israel noch stark und einig dastand, und es den Stämmen
Naphtali und Sebulon als Heimat diente. Vom Stamme Naphtali
wird gemeldet, er sei von Hause aus »sehr gemischter Herkunft«,
und, blieb auch die nicht-israelitische Urbevölkerung im ganzen Bereich
Palästina’s bestehen, so geschah das »nirgendswo in so starken Massen
wie in den nördlichen Marken«.1) Dazu kam noch ein fernerer Um-
stand. Während das übrige Palästina durch seine geographische Lage
von der Welt gleichsam abgesondert ist, führte schon, als die Israeliten
das Land besetzten, eine Strasse vom See Genesareth nach Damaskus,
und Tyr und Sidon waren schneller als Jerusalem von dorther zu
erreichen. So sehen wir denn auch Salomon ein beträchtliches Stück
dieses Heidengaues (wie es schon damals hiess, I Könige IX, 11) mit
zwanzig Städten dem König von Tyrus als Bezahlung für seine
Lieferungen an Cedern und Tannenbäumen und für die 120 Zentner
Gold abtreten, die jener für den Tempelbau geliefert hatte; so wenig
lag dieses halb von Fremden bewohnte Land dem König Judäa’s am

1) Wellhausen: Israelitische und jüdische Geschichte, 3. Ausg. 1897, S. 16 u. 47.
Vergl. ausserdem Richter I, 30 und 33 und hier weiter unten, Kap. 5.
14*
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[211/0234] Die Erscheinung Christi. als den Seinigen zu bezeichnen? Jedenfalls nicht in Judäa! — Für den Gläubigen ist Jesus der Sohn Gottes, nicht eines Menschen; für den Ungläubigen wird es schwer werden, eine Formel zu finden, welche die unleugbar vorliegende Thatsache dieser unvergleichlichen Persönlichkeit in ihrer Unerklärlichkeit so knapp und vielsagend be- zeichnet. Es giebt eben Erscheinungen, die in den Vorstellungs- komplex des Verstandes gar nicht ohne Symbol eingereiht werden können. Soviel über die prinzipielle Frage, und um jeden Verdacht von mir abzuwehren, als segelte ich im Schlepptau jener flachen »historischen« Schule, welche das Unerklärliche zu erklären unter- nimmt. Ein anderes ist es, uns über die historisch gewordene Um- gebung der Persönlichkeit zu belehren, lediglich damit wir diese noch deutlicher erschauen. Thun wir das, so ist die Antwort auf die Frage: war Christus ein Jude? keinesfalls eine einfache. Der Religion und der Erziehung nach war er es unzweifelhaft; der Rasse nach — im engeren und eigentlichen Sinne des Wortes »Jude« — höchst wahr- scheinlich nicht. Der Name Galiläa (von Gelil haggoyim) bedeutet »Heidengau«. Es scheint, als ob dieser Landesteil, so sehr entfernt vom geistigen Mittelpunkt, sich nie ganz rein erhalten hätte, selbst in den alten Zeiten nicht, als Israel noch stark und einig dastand, und es den Stämmen Naphtali und Sebulon als Heimat diente. Vom Stamme Naphtali wird gemeldet, er sei von Hause aus »sehr gemischter Herkunft«, und, blieb auch die nicht-israelitische Urbevölkerung im ganzen Bereich Palästina’s bestehen, so geschah das »nirgendswo in so starken Massen wie in den nördlichen Marken«. 1) Dazu kam noch ein fernerer Um- stand. Während das übrige Palästina durch seine geographische Lage von der Welt gleichsam abgesondert ist, führte schon, als die Israeliten das Land besetzten, eine Strasse vom See Genesareth nach Damaskus, und Tyr und Sidon waren schneller als Jerusalem von dorther zu erreichen. So sehen wir denn auch Salomon ein beträchtliches Stück dieses Heidengaues (wie es schon damals hiess, I Könige IX, 11) mit zwanzig Städten dem König von Tyrus als Bezahlung für seine Lieferungen an Cedern und Tannenbäumen und für die 120 Zentner Gold abtreten, die jener für den Tempelbau geliefert hatte; so wenig lag dieses halb von Fremden bewohnte Land dem König Judäa’s am 1) Wellhausen: Israelitische und jüdische Geschichte, 3. Ausg. 1897, S. 16 u. 47. Vergl. ausserdem Richter I, 30 und 33 und hier weiter unten, Kap. 5. 14*

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Zitationshilfe: Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 1. München 1899, S. 211. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen01_1899/234>, abgerufen am 16.05.2024.