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Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 1. München 1899.

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Die Erscheinung Christi.
Stammes, sonst in mancher Beziehung reich begabt, von jeher erstaun-
lich arm an religiösem Instinkt; es ist das jene "Hartherzigkeit", über
welche die bedeutenderen Männer unter ihnen stets klagten.1) Wie
anders der Arier! Schon nach dem Zeugnis der ältesten Urkunden
(die weit über alle jüdischen zurückreichen) sehen wir ihn beschäftigt,
einem dunkeln Drange zu folgen, der ihn antreibt, im eigenen Herzen
zu forschen. Dieser Mensch ist lustig, lebenstoll, ehrgeizig, leicht-
sinnig, er trinkt und er spielt, er jagt und er raubt; plötzlich aber
besinnt er sich: das grosse Rätsel des Daseins nimmt ihn ganz ge-
fangen, nicht jedoch als ein rein rationalistisches Problem -- woher
ist diese Welt? woher stamme ich? -- worauf eine rein vernünftige
(und darum unzureichende) Antwort zu geben wäre, sondern als ein
unmittelbares, zwingendes Lebensbedürfnis. Nicht verstehen, sondern
sein: das ist, wohin es ihn drängt. Nicht die Vergangenheit mit
ihrer Litanei von Ursache und Wirkung, sondern die Gegenwart, die
ewigwährende Gegenwart fesselt sein staunendes Sinnen. Und nur,
das fühlt er, wenn er zu allem, was ihn umgiebt, Brücken hinüber
geschlagen hat, wenn er sich, das einzige, was er unmittelbar weiss,
in jedem Phänomen wieder erkennt, jedes Phänomen in sich wieder
findet, nur wenn er, so zu sagen, sich und die Welt in Einklang ge-
setzt hat, dann darf er hoffen, das Weben des ewigen Werkes mit
eigenem Ohre zu belauschen, die geheimnisvolle Musik des Daseins
im eigenen Herzen zu vernehmen. Und damit er diesen Einklang
finde, singt er selber hinaus, versucht es in allen Tönen, übt sich in
allen Weisen; dann lauscht er andächtig. Nicht unbeantwortet bleibt
sein Ruf; geheimnisvolle Stimmen vernimmt er; die ganze Natur be-
lebt sich, überall regt sich in ihr das Menschenverwandte. Anbetend
sinkt er auf die Kniee, wähnt nicht, dass er weise sei, glaubt nicht
den Ursprung und den Endzweck der Welt zu kennen, ahnt aber
eine höhere Bestimmung, entdeckt in sich den Keim zu unermesslichen
Geschicken, "den Samen der Unsterblichkeit". Dies ist jedoch keine
blosse Träumerei, sondern eine lebendige Überzeugung, ein Glaube,
und, wie alles Lebende, erzeugt es wieder Leben. Die Helden seines
Stammes und seine heiligen Männer erblickt er als "Übermenschen"
(wie Goethe sagt) hoch über der Erde schweben; ihnen will er gleichen,
denn auch ihn zieht es hinan, und jetzt weiss er, aus welch' tief

1) "Die Semiten haben viel Aberglauben, doch wenig Religion", bezeugt
eine der grössten Autoritäten, Robertson Smith: The Prophets of Israel, p. 33.

Die Erscheinung Christi.
Stammes, sonst in mancher Beziehung reich begabt, von jeher erstaun-
lich arm an religiösem Instinkt; es ist das jene »Hartherzigkeit«, über
welche die bedeutenderen Männer unter ihnen stets klagten.1) Wie
anders der Arier! Schon nach dem Zeugnis der ältesten Urkunden
(die weit über alle jüdischen zurückreichen) sehen wir ihn beschäftigt,
einem dunkeln Drange zu folgen, der ihn antreibt, im eigenen Herzen
zu forschen. Dieser Mensch ist lustig, lebenstoll, ehrgeizig, leicht-
sinnig, er trinkt und er spielt, er jagt und er raubt; plötzlich aber
besinnt er sich: das grosse Rätsel des Daseins nimmt ihn ganz ge-
fangen, nicht jedoch als ein rein rationalistisches Problem — woher
ist diese Welt? woher stamme ich? — worauf eine rein vernünftige
(und darum unzureichende) Antwort zu geben wäre, sondern als ein
unmittelbares, zwingendes Lebensbedürfnis. Nicht verstehen, sondern
sein: das ist, wohin es ihn drängt. Nicht die Vergangenheit mit
ihrer Litanei von Ursache und Wirkung, sondern die Gegenwart, die
ewigwährende Gegenwart fesselt sein staunendes Sinnen. Und nur,
das fühlt er, wenn er zu allem, was ihn umgiebt, Brücken hinüber
geschlagen hat, wenn er sich, das einzige, was er unmittelbar weiss,
in jedem Phänomen wieder erkennt, jedes Phänomen in sich wieder
findet, nur wenn er, so zu sagen, sich und die Welt in Einklang ge-
setzt hat, dann darf er hoffen, das Weben des ewigen Werkes mit
eigenem Ohre zu belauschen, die geheimnisvolle Musik des Daseins
im eigenen Herzen zu vernehmen. Und damit er diesen Einklang
finde, singt er selber hinaus, versucht es in allen Tönen, übt sich in
allen Weisen; dann lauscht er andächtig. Nicht unbeantwortet bleibt
sein Ruf; geheimnisvolle Stimmen vernimmt er; die ganze Natur be-
lebt sich, überall regt sich in ihr das Menschenverwandte. Anbetend
sinkt er auf die Kniee, wähnt nicht, dass er weise sei, glaubt nicht
den Ursprung und den Endzweck der Welt zu kennen, ahnt aber
eine höhere Bestimmung, entdeckt in sich den Keim zu unermesslichen
Geschicken, »den Samen der Unsterblichkeit«. Dies ist jedoch keine
blosse Träumerei, sondern eine lebendige Überzeugung, ein Glaube,
und, wie alles Lebende, erzeugt es wieder Leben. Die Helden seines
Stammes und seine heiligen Männer erblickt er als »Übermenschen«
(wie Goethe sagt) hoch über der Erde schweben; ihnen will er gleichen,
denn auch ihn zieht es hinan, und jetzt weiss er, aus welch’ tief

1) »Die Semiten haben viel Aberglauben, doch wenig Religion«, bezeugt
eine der grössten Autoritäten, Robertson Smith: The Prophets of Israel, p. 33.
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[221/0244] Die Erscheinung Christi. Stammes, sonst in mancher Beziehung reich begabt, von jeher erstaun- lich arm an religiösem Instinkt; es ist das jene »Hartherzigkeit«, über welche die bedeutenderen Männer unter ihnen stets klagten. 1) Wie anders der Arier! Schon nach dem Zeugnis der ältesten Urkunden (die weit über alle jüdischen zurückreichen) sehen wir ihn beschäftigt, einem dunkeln Drange zu folgen, der ihn antreibt, im eigenen Herzen zu forschen. Dieser Mensch ist lustig, lebenstoll, ehrgeizig, leicht- sinnig, er trinkt und er spielt, er jagt und er raubt; plötzlich aber besinnt er sich: das grosse Rätsel des Daseins nimmt ihn ganz ge- fangen, nicht jedoch als ein rein rationalistisches Problem — woher ist diese Welt? woher stamme ich? — worauf eine rein vernünftige (und darum unzureichende) Antwort zu geben wäre, sondern als ein unmittelbares, zwingendes Lebensbedürfnis. Nicht verstehen, sondern sein: das ist, wohin es ihn drängt. Nicht die Vergangenheit mit ihrer Litanei von Ursache und Wirkung, sondern die Gegenwart, die ewigwährende Gegenwart fesselt sein staunendes Sinnen. Und nur, das fühlt er, wenn er zu allem, was ihn umgiebt, Brücken hinüber geschlagen hat, wenn er sich, das einzige, was er unmittelbar weiss, in jedem Phänomen wieder erkennt, jedes Phänomen in sich wieder findet, nur wenn er, so zu sagen, sich und die Welt in Einklang ge- setzt hat, dann darf er hoffen, das Weben des ewigen Werkes mit eigenem Ohre zu belauschen, die geheimnisvolle Musik des Daseins im eigenen Herzen zu vernehmen. Und damit er diesen Einklang finde, singt er selber hinaus, versucht es in allen Tönen, übt sich in allen Weisen; dann lauscht er andächtig. Nicht unbeantwortet bleibt sein Ruf; geheimnisvolle Stimmen vernimmt er; die ganze Natur be- lebt sich, überall regt sich in ihr das Menschenverwandte. Anbetend sinkt er auf die Kniee, wähnt nicht, dass er weise sei, glaubt nicht den Ursprung und den Endzweck der Welt zu kennen, ahnt aber eine höhere Bestimmung, entdeckt in sich den Keim zu unermesslichen Geschicken, »den Samen der Unsterblichkeit«. Dies ist jedoch keine blosse Träumerei, sondern eine lebendige Überzeugung, ein Glaube, und, wie alles Lebende, erzeugt es wieder Leben. Die Helden seines Stammes und seine heiligen Männer erblickt er als »Übermenschen« (wie Goethe sagt) hoch über der Erde schweben; ihnen will er gleichen, denn auch ihn zieht es hinan, und jetzt weiss er, aus welch’ tief 1) »Die Semiten haben viel Aberglauben, doch wenig Religion«, bezeugt eine der grössten Autoritäten, Robertson Smith: The Prophets of Israel, p. 33.

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Zitationshilfe: Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 1. München 1899, S. 221. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen01_1899/244>, abgerufen am 24.11.2024.