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Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 1. München 1899.

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Das Völkerchaos.
ganz Gallien als bestellter Prunkredner herum, damals ein sehr ein-
trägliches Geschäft: heute die Tugenden eines Verblichenen feiernd,
den man niemals im Leben sah, morgen zur Verherrlichung eines
religiösen Festes beitragend, das zu Ehren irgend einer lokalen gallo-
römischen Divinität gegeben wurde, deren Namen ein Syrier nicht ein-
mal aussprechen konnte. Wer sich von dieser Rednerei eine Vorstellung
machen will, sehe sich die Florida des gleichzeitigen, aber afri-
kanischen Mestizen Apulejus an;1) es ist dies eine Sammlung kürzerer
und längerer oratorischer Effektstücke, geeignet in jede beliebige
Rede eingeschoben zu werden, um dann, als scheinbar plötzliche Ein-
gebung, die ganze Versammlung durch den Reichtum des Wissens,
den Witz, die Empfindungstiefe des Redners zu verblüffen und hinzu-
reissen; es liegt da alles nebeneinander "auf Lager": das Gedanken-
tiefe, das fein Pointierte, die geistreiche Anekdote, das devot Unter-
thänige, das von Freiheitsgelüsten Strotzende, ja, die Entschuldigung,
nichts vorbereitet zu haben und der Dank für die Standbilder, mit
welchen man den Redner überraschen könnte! Gerade solche Dinge
malen einen Menschen, und ihn nicht allein, sondern eine ganze
Kultur, oder, um mit Lucian zu sprechen, eine ganze "Bildung".
Wer den Fürsten Bismarck in einer seiner grossen Reden hat mühsam
nach dem Worte ringen gehört, wird mich schon verstehen. -- Mit
40 Jahren kehrt Lucian Gallien den Rücken; sich in einem be-
stimmten Orte niederlassen, sein Geschick mit dem irgend eines
Landes dauernd verbinden, das kommt ihm nicht bei; Nationen gab
es ausserdem keine; kehrt Lucian jetzt vorübergehend in seine Heimat
zurück, so geschieht das ebenfalls nicht aus einem Herzensbedürfnis,
sondern, wie er selber aufrichtig gesteht, "um sich denen, die ihn
arm gekannt hatten, reich und schön gekleidet zu zeigen".2) Dann richtet
er sich auf längere Zeit in Athen ein; schweigt aber diesmal still,
studiert fleissig Philosophie und Wissenschaft in dem redlichen Be-
mühen, endlich herauszufinden, was sich wohl hinter dieser ganzen

1) Apulejus rühmt sich ausdrücklich seiner gemischten Herkunft. Übrigens
hat auch er in Syrien und Ägypten studiert und ist in Griechenland gereist, hat
also ungefähr denselben Bildungsgang wie Lucian gehabt.
2) Die Fliegenden Blätter 1896 haben ein Bild, welches einen Kommerzien-
rat und seine Frau soeben in ihren Wagen eingestiegen zeigt:
Sie: Wo fahren wir denn heute hin?
Er: Na, natürlich durch die Stadt; lassen uns von den Leuten beneiden!
Das ist genau die nämliche Kulturstufe.

Das Völkerchaos.
ganz Gallien als bestellter Prunkredner herum, damals ein sehr ein-
trägliches Geschäft: heute die Tugenden eines Verblichenen feiernd,
den man niemals im Leben sah, morgen zur Verherrlichung eines
religiösen Festes beitragend, das zu Ehren irgend einer lokalen gallo-
römischen Divinität gegeben wurde, deren Namen ein Syrier nicht ein-
mal aussprechen konnte. Wer sich von dieser Rednerei eine Vorstellung
machen will, sehe sich die Florida des gleichzeitigen, aber afri-
kanischen Mestizen Apulejus an;1) es ist dies eine Sammlung kürzerer
und längerer oratorischer Effektstücke, geeignet in jede beliebige
Rede eingeschoben zu werden, um dann, als scheinbar plötzliche Ein-
gebung, die ganze Versammlung durch den Reichtum des Wissens,
den Witz, die Empfindungstiefe des Redners zu verblüffen und hinzu-
reissen; es liegt da alles nebeneinander »auf Lager«: das Gedanken-
tiefe, das fein Pointierte, die geistreiche Anekdote, das devot Unter-
thänige, das von Freiheitsgelüsten Strotzende, ja, die Entschuldigung,
nichts vorbereitet zu haben und der Dank für die Standbilder, mit
welchen man den Redner überraschen könnte! Gerade solche Dinge
malen einen Menschen, und ihn nicht allein, sondern eine ganze
Kultur, oder, um mit Lucian zu sprechen, eine ganze »Bildung«.
Wer den Fürsten Bismarck in einer seiner grossen Reden hat mühsam
nach dem Worte ringen gehört, wird mich schon verstehen. — Mit
40 Jahren kehrt Lucian Gallien den Rücken; sich in einem be-
stimmten Orte niederlassen, sein Geschick mit dem irgend eines
Landes dauernd verbinden, das kommt ihm nicht bei; Nationen gab
es ausserdem keine; kehrt Lucian jetzt vorübergehend in seine Heimat
zurück, so geschieht das ebenfalls nicht aus einem Herzensbedürfnis,
sondern, wie er selber aufrichtig gesteht, »um sich denen, die ihn
arm gekannt hatten, reich und schön gekleidet zu zeigen«.2) Dann richtet
er sich auf längere Zeit in Athen ein; schweigt aber diesmal still,
studiert fleissig Philosophie und Wissenschaft in dem redlichen Be-
mühen, endlich herauszufinden, was sich wohl hinter dieser ganzen

1) Apulejus rühmt sich ausdrücklich seiner gemischten Herkunft. Übrigens
hat auch er in Syrien und Ägypten studiert und ist in Griechenland gereist, hat
also ungefähr denselben Bildungsgang wie Lucian gehabt.
2) Die Fliegenden Blätter 1896 haben ein Bild, welches einen Kommerzien-
rat und seine Frau soeben in ihren Wagen eingestiegen zeigt:
Sie: Wo fahren wir denn heute hin?
Er: Na, natürlich durch die Stadt; lassen uns von den Leuten beneiden!
Das ist genau die nämliche Kulturstufe.
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[301/0324] Das Völkerchaos. ganz Gallien als bestellter Prunkredner herum, damals ein sehr ein- trägliches Geschäft: heute die Tugenden eines Verblichenen feiernd, den man niemals im Leben sah, morgen zur Verherrlichung eines religiösen Festes beitragend, das zu Ehren irgend einer lokalen gallo- römischen Divinität gegeben wurde, deren Namen ein Syrier nicht ein- mal aussprechen konnte. Wer sich von dieser Rednerei eine Vorstellung machen will, sehe sich die Florida des gleichzeitigen, aber afri- kanischen Mestizen Apulejus an; 1) es ist dies eine Sammlung kürzerer und längerer oratorischer Effektstücke, geeignet in jede beliebige Rede eingeschoben zu werden, um dann, als scheinbar plötzliche Ein- gebung, die ganze Versammlung durch den Reichtum des Wissens, den Witz, die Empfindungstiefe des Redners zu verblüffen und hinzu- reissen; es liegt da alles nebeneinander »auf Lager«: das Gedanken- tiefe, das fein Pointierte, die geistreiche Anekdote, das devot Unter- thänige, das von Freiheitsgelüsten Strotzende, ja, die Entschuldigung, nichts vorbereitet zu haben und der Dank für die Standbilder, mit welchen man den Redner überraschen könnte! Gerade solche Dinge malen einen Menschen, und ihn nicht allein, sondern eine ganze Kultur, oder, um mit Lucian zu sprechen, eine ganze »Bildung«. Wer den Fürsten Bismarck in einer seiner grossen Reden hat mühsam nach dem Worte ringen gehört, wird mich schon verstehen. — Mit 40 Jahren kehrt Lucian Gallien den Rücken; sich in einem be- stimmten Orte niederlassen, sein Geschick mit dem irgend eines Landes dauernd verbinden, das kommt ihm nicht bei; Nationen gab es ausserdem keine; kehrt Lucian jetzt vorübergehend in seine Heimat zurück, so geschieht das ebenfalls nicht aus einem Herzensbedürfnis, sondern, wie er selber aufrichtig gesteht, »um sich denen, die ihn arm gekannt hatten, reich und schön gekleidet zu zeigen«. 2) Dann richtet er sich auf längere Zeit in Athen ein; schweigt aber diesmal still, studiert fleissig Philosophie und Wissenschaft in dem redlichen Be- mühen, endlich herauszufinden, was sich wohl hinter dieser ganzen 1) Apulejus rühmt sich ausdrücklich seiner gemischten Herkunft. Übrigens hat auch er in Syrien und Ägypten studiert und ist in Griechenland gereist, hat also ungefähr denselben Bildungsgang wie Lucian gehabt. 2) Die Fliegenden Blätter 1896 haben ein Bild, welches einen Kommerzien- rat und seine Frau soeben in ihren Wagen eingestiegen zeigt: Sie: Wo fahren wir denn heute hin? Er: Na, natürlich durch die Stadt; lassen uns von den Leuten beneiden! Das ist genau die nämliche Kulturstufe.

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Zitationshilfe: Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 1. München 1899, S. 301. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen01_1899/324>, abgerufen am 26.11.2024.