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Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 1. München 1899.

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Die Erben.
trieb keineswegs adäquat ist, da er vor dem Ungestüm des Willens
niemals zur Entfaltung gelangen kann. In diesem Menschen steht
der Wille obenan, dann kommt das Gemüt, zuunterst steht der Ver-
stand. Lassen legt einen besonderen Nachdruck auf den Egoismus
des Semiten, immer wieder kommt er darauf zurück; bei seiner Poesie,
seiner Philosophie, seiner Religion, seiner Politik, überall erblickt er
ein "egoistisches Wesen" am Werke. Das ist eine unausbleibliche
Folge jener Hierarchie der Anlagen. Die Selbstsucht wurzelt im
Willen; was sie vor Excessen bewahren kann, sind einzig die Gaben
des Gemütes und des Verstandes -- ein warmes Herz, eine tiefe Er-
kenntnis des Weltwesens, künstlerisch-schöpferisches Gestalten, der edle
Wissensdurst. Doch, wie Lassen es andeutet, sobald der stürmische
Wille mit seiner Eigensucht überwiegt, bleiben selbst schöne Anlagen
verkümmert: die Religion entartet zum Fanatismus, das Denken ist
Zauberei oder Willkür, die Kunst spricht nur die Liebe und den Hass
des Augenblickes aus, sie ist Ausdruck, doch nicht Gestaltung, die
Wissenschaft wird Industrie.

Dieser Semit wäre hiernach das rechte Gegenstück zum Hethiter:
bei dem einen die schöne Harmonie eines allseitig massvoll entwickelten
Wesens, zähe Beharrlichkeit des Willens vereint mit Klugheit und
mit freundlicher Lebensauffassung, bei dem andern die Stimmung
auf das Masslose, auf das Gewaltsame, ein Charakter mit gestörtem
Gleichgewicht, in welchem die notwendigste und zugleich die ge-
fährlichste Gabe des Menschen -- der Wille -- eine Ausbildung ins
Ungeheuerliche erfahren hat. Wer nicht glaubt, dass die sogenannten
"Rassen" fertig vom Himmel gefallen sind, wer mit mir sich weigert,
dem Wahngebild angeblicher Uranfänge Beachtung zu schenken (da
das Werden nur eine Erscheinung des Seins ist, nicht umgekehrt),
wird vielleicht vermuten, diese beispiellose Entwickelung der einen
Fähigkeit bei entsprechender Verkümmerung der anderen sei das
Werk eines vieltausendjährigen Lebens in der Wüste, wo der Intellekt
ohne jegliche Nahrung blieb, das Gemüt sich nur auf einen engen
Kreis erstrecken konnte, der Wille dagegen -- der Wille dieses gänz-
lich auf sich selbst gestellten, dieses inmitten des ununterbrochenen
Schweigens der Natur dennoch Tag und Nacht von Feind und Ge-
fahr umgebenen Individuums -- alle Säfte des Leibes erheischen, alle
Kräfte des Geistes ununterbrochen auf das Äusserste spannen musste.
Sei dem wie ihm wolle, jedenfalls schliesst ein solcher Charakter die
Möglichkeit wahrer Grösse ein. Die Überschwänglichkeit, die wir bei

Die Erben.
trieb keineswegs adäquat ist, da er vor dem Ungestüm des Willens
niemals zur Entfaltung gelangen kann. In diesem Menschen steht
der Wille obenan, dann kommt das Gemüt, zuunterst steht der Ver-
stand. Lassen legt einen besonderen Nachdruck auf den Egoismus
des Semiten, immer wieder kommt er darauf zurück; bei seiner Poesie,
seiner Philosophie, seiner Religion, seiner Politik, überall erblickt er
ein »egoistisches Wesen« am Werke. Das ist eine unausbleibliche
Folge jener Hierarchie der Anlagen. Die Selbstsucht wurzelt im
Willen; was sie vor Excessen bewahren kann, sind einzig die Gaben
des Gemütes und des Verstandes — ein warmes Herz, eine tiefe Er-
kenntnis des Weltwesens, künstlerisch-schöpferisches Gestalten, der edle
Wissensdurst. Doch, wie Lassen es andeutet, sobald der stürmische
Wille mit seiner Eigensucht überwiegt, bleiben selbst schöne Anlagen
verkümmert: die Religion entartet zum Fanatismus, das Denken ist
Zauberei oder Willkür, die Kunst spricht nur die Liebe und den Hass
des Augenblickes aus, sie ist Ausdruck, doch nicht Gestaltung, die
Wissenschaft wird Industrie.

Dieser Semit wäre hiernach das rechte Gegenstück zum Hethiter:
bei dem einen die schöne Harmonie eines allseitig massvoll entwickelten
Wesens, zähe Beharrlichkeit des Willens vereint mit Klugheit und
mit freundlicher Lebensauffassung, bei dem andern die Stimmung
auf das Masslose, auf das Gewaltsame, ein Charakter mit gestörtem
Gleichgewicht, in welchem die notwendigste und zugleich die ge-
fährlichste Gabe des Menschen — der Wille — eine Ausbildung ins
Ungeheuerliche erfahren hat. Wer nicht glaubt, dass die sogenannten
»Rassen« fertig vom Himmel gefallen sind, wer mit mir sich weigert,
dem Wahngebild angeblicher Uranfänge Beachtung zu schenken (da
das Werden nur eine Erscheinung des Seins ist, nicht umgekehrt),
wird vielleicht vermuten, diese beispiellose Entwickelung der einen
Fähigkeit bei entsprechender Verkümmerung der anderen sei das
Werk eines vieltausendjährigen Lebens in der Wüste, wo der Intellekt
ohne jegliche Nahrung blieb, das Gemüt sich nur auf einen engen
Kreis erstrecken konnte, der Wille dagegen — der Wille dieses gänz-
lich auf sich selbst gestellten, dieses inmitten des ununterbrochenen
Schweigens der Natur dennoch Tag und Nacht von Feind und Ge-
fahr umgebenen Individuums — alle Säfte des Leibes erheischen, alle
Kräfte des Geistes ununterbrochen auf das Äusserste spannen musste.
Sei dem wie ihm wolle, jedenfalls schliesst ein solcher Charakter die
Möglichkeit wahrer Grösse ein. Die Überschwänglichkeit, die wir bei

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[386/0409] Die Erben. trieb keineswegs adäquat ist, da er vor dem Ungestüm des Willens niemals zur Entfaltung gelangen kann. In diesem Menschen steht der Wille obenan, dann kommt das Gemüt, zuunterst steht der Ver- stand. Lassen legt einen besonderen Nachdruck auf den Egoismus des Semiten, immer wieder kommt er darauf zurück; bei seiner Poesie, seiner Philosophie, seiner Religion, seiner Politik, überall erblickt er ein »egoistisches Wesen« am Werke. Das ist eine unausbleibliche Folge jener Hierarchie der Anlagen. Die Selbstsucht wurzelt im Willen; was sie vor Excessen bewahren kann, sind einzig die Gaben des Gemütes und des Verstandes — ein warmes Herz, eine tiefe Er- kenntnis des Weltwesens, künstlerisch-schöpferisches Gestalten, der edle Wissensdurst. Doch, wie Lassen es andeutet, sobald der stürmische Wille mit seiner Eigensucht überwiegt, bleiben selbst schöne Anlagen verkümmert: die Religion entartet zum Fanatismus, das Denken ist Zauberei oder Willkür, die Kunst spricht nur die Liebe und den Hass des Augenblickes aus, sie ist Ausdruck, doch nicht Gestaltung, die Wissenschaft wird Industrie. Dieser Semit wäre hiernach das rechte Gegenstück zum Hethiter: bei dem einen die schöne Harmonie eines allseitig massvoll entwickelten Wesens, zähe Beharrlichkeit des Willens vereint mit Klugheit und mit freundlicher Lebensauffassung, bei dem andern die Stimmung auf das Masslose, auf das Gewaltsame, ein Charakter mit gestörtem Gleichgewicht, in welchem die notwendigste und zugleich die ge- fährlichste Gabe des Menschen — der Wille — eine Ausbildung ins Ungeheuerliche erfahren hat. Wer nicht glaubt, dass die sogenannten »Rassen« fertig vom Himmel gefallen sind, wer mit mir sich weigert, dem Wahngebild angeblicher Uranfänge Beachtung zu schenken (da das Werden nur eine Erscheinung des Seins ist, nicht umgekehrt), wird vielleicht vermuten, diese beispiellose Entwickelung der einen Fähigkeit bei entsprechender Verkümmerung der anderen sei das Werk eines vieltausendjährigen Lebens in der Wüste, wo der Intellekt ohne jegliche Nahrung blieb, das Gemüt sich nur auf einen engen Kreis erstrecken konnte, der Wille dagegen — der Wille dieses gänz- lich auf sich selbst gestellten, dieses inmitten des ununterbrochenen Schweigens der Natur dennoch Tag und Nacht von Feind und Ge- fahr umgebenen Individuums — alle Säfte des Leibes erheischen, alle Kräfte des Geistes ununterbrochen auf das Äusserste spannen musste. Sei dem wie ihm wolle, jedenfalls schliesst ein solcher Charakter die Möglichkeit wahrer Grösse ein. Die Überschwänglichkeit, die wir bei

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Zitationshilfe: Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 1. München 1899, S. 386. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen01_1899/409>, abgerufen am 24.11.2024.