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Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 1. München 1899.

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Die Erben.
Sündenfalls, die Vermutungen über die Entwickelung der Menschheit
bis zur ersten Organisierung der Gesellschaft .... das war jetzt alles
"Geschichte", wodurch es zugleich jede Bedeutung als religiösen Mythus
verlor, denn der Mythus ist elastisch, unerschöpflich, wogegen hier
eine einfache Chronik von Thatsachen, eine Aufzählung geschehener
Begebnisse vorliegt.1) Das ist Materialismus. Überall, wo semitischer
Geist geweht hat, wird man diesem Materialismus begegnen. Sonst ist
auf der ganzen Welt Religion eine idealistische Regung; Schopenhauer
nannte sie "Volksmethaphysik", ich möchte sie eher Volksidealismus
nennen; auch bei dem Semiten beobachten wir dieses sehnsuchtsvolle
Erwachen einer Empfindung des Übermenschlichen (man lese nur das
Leben Mohammed's), doch ergreift sofort der gebieterische Wille jedes
Symbol, jede tiefe Ahnung des sinnenden Gedankens und wandelt sie
zu harten, empirischen Thatsachen um. Und so kommt es denn,
dass bei dieser Auffassung die Religion nur praktische Zwecke
verfolgt, durchaus keine ideale: sie soll für das Wohlergehen auf
dieser Welt sorgen und zielt namentlich auf Herrschaft und Besitz,
ausserdem soll sie das Wohlergehen in der künftigen Welt verbürgen
(dort wo der Begriff der Unsterblichkeit vorhanden ist, der in den
israelitischen Glauben z. B. erst durch persischen Einfluss, in den
arabischen durch das Christentum aufgenommen wurde). Nackter
Materialismus! wie schon der Vergleich mit dem Saveasiuleo der
Samoaner und dem grossen Weltgeist der Yorubas zeigt.

Das wäre ein negativer Einfluss des Judentums auf alle Religion:
die Inficierung mit materialistischen Grundanschauungen. Jetzt müssen
wir den positiven betrachten, der gemeiniglich einzig ins Auge gefasst
wird. Nirgends -- das kann man, glaube ich, ohne jede Einschränkung
behaupten -- nirgends auf der ganzen Welt trifft man den Glauben
ähnlich an wie bei den Semiten, so glühend, so rückhaltslos, so un-
erschütterlich. Vielleicht besässen wir ohne sie den Begriff des religiösen
Glaubens, der fides gar nicht. Das deutsche Wort "Glaube" ist sehr
zweideutig; von Hause aus schmeckt es eben so sehr nach Zweifeln
wie nach Überzeugtsein; die Grundbedeutung ist ja ein blosses "Gut-
heissen".2) Wenn wir zum Lateinischen greifen, kommen wir auch
nicht besser weg, denn in Wahrheit heisst fides Vertrauen, weiter

1) Nähere Ausführungen über die Bibel als geschichtliches Werk und über
die Bedeutung, die ihr als solches für das jüdische Volk zukommt, enthält das
Kapitel über die Erscheinung Christi, S. 233 fg. Siehe auch weiter unten S. 453.
2) Kluge: Etymologisches Wörterbuch.

Die Erben.
Sündenfalls, die Vermutungen über die Entwickelung der Menschheit
bis zur ersten Organisierung der Gesellschaft .... das war jetzt alles
»Geschichte«, wodurch es zugleich jede Bedeutung als religiösen Mythus
verlor, denn der Mythus ist elastisch, unerschöpflich, wogegen hier
eine einfache Chronik von Thatsachen, eine Aufzählung geschehener
Begebnisse vorliegt.1) Das ist Materialismus. Überall, wo semitischer
Geist geweht hat, wird man diesem Materialismus begegnen. Sonst ist
auf der ganzen Welt Religion eine idealistische Regung; Schopenhauer
nannte sie »Volksmethaphysik«, ich möchte sie eher Volksidealismus
nennen; auch bei dem Semiten beobachten wir dieses sehnsuchtsvolle
Erwachen einer Empfindung des Übermenschlichen (man lese nur das
Leben Mohammed’s), doch ergreift sofort der gebieterische Wille jedes
Symbol, jede tiefe Ahnung des sinnenden Gedankens und wandelt sie
zu harten, empirischen Thatsachen um. Und so kommt es denn,
dass bei dieser Auffassung die Religion nur praktische Zwecke
verfolgt, durchaus keine ideale: sie soll für das Wohlergehen auf
dieser Welt sorgen und zielt namentlich auf Herrschaft und Besitz,
ausserdem soll sie das Wohlergehen in der künftigen Welt verbürgen
(dort wo der Begriff der Unsterblichkeit vorhanden ist, der in den
israelitischen Glauben z. B. erst durch persischen Einfluss, in den
arabischen durch das Christentum aufgenommen wurde). Nackter
Materialismus! wie schon der Vergleich mit dem Saveasiuleo der
Samoaner und dem grossen Weltgeist der Yorubas zeigt.

Das wäre ein negativer Einfluss des Judentums auf alle Religion:
die Inficierung mit materialistischen Grundanschauungen. Jetzt müssen
wir den positiven betrachten, der gemeiniglich einzig ins Auge gefasst
wird. Nirgends — das kann man, glaube ich, ohne jede Einschränkung
behaupten — nirgends auf der ganzen Welt trifft man den Glauben
ähnlich an wie bei den Semiten, so glühend, so rückhaltslos, so un-
erschütterlich. Vielleicht besässen wir ohne sie den Begriff des religiösen
Glaubens, der fides gar nicht. Das deutsche Wort »Glaube« ist sehr
zweideutig; von Hause aus schmeckt es eben so sehr nach Zweifeln
wie nach Überzeugtsein; die Grundbedeutung ist ja ein blosses »Gut-
heissen«.2) Wenn wir zum Lateinischen greifen, kommen wir auch
nicht besser weg, denn in Wahrheit heisst fides Vertrauen, weiter

1) Nähere Ausführungen über die Bibel als geschichtliches Werk und über
die Bedeutung, die ihr als solches für das jüdische Volk zukommt, enthält das
Kapitel über die Erscheinung Christi, S. 233 fg. Siehe auch weiter unten S. 453.
2) Kluge: Etymologisches Wörterbuch.
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[400/0423] Die Erben. Sündenfalls, die Vermutungen über die Entwickelung der Menschheit bis zur ersten Organisierung der Gesellschaft .... das war jetzt alles »Geschichte«, wodurch es zugleich jede Bedeutung als religiösen Mythus verlor, denn der Mythus ist elastisch, unerschöpflich, wogegen hier eine einfache Chronik von Thatsachen, eine Aufzählung geschehener Begebnisse vorliegt. 1) Das ist Materialismus. Überall, wo semitischer Geist geweht hat, wird man diesem Materialismus begegnen. Sonst ist auf der ganzen Welt Religion eine idealistische Regung; Schopenhauer nannte sie »Volksmethaphysik«, ich möchte sie eher Volksidealismus nennen; auch bei dem Semiten beobachten wir dieses sehnsuchtsvolle Erwachen einer Empfindung des Übermenschlichen (man lese nur das Leben Mohammed’s), doch ergreift sofort der gebieterische Wille jedes Symbol, jede tiefe Ahnung des sinnenden Gedankens und wandelt sie zu harten, empirischen Thatsachen um. Und so kommt es denn, dass bei dieser Auffassung die Religion nur praktische Zwecke verfolgt, durchaus keine ideale: sie soll für das Wohlergehen auf dieser Welt sorgen und zielt namentlich auf Herrschaft und Besitz, ausserdem soll sie das Wohlergehen in der künftigen Welt verbürgen (dort wo der Begriff der Unsterblichkeit vorhanden ist, der in den israelitischen Glauben z. B. erst durch persischen Einfluss, in den arabischen durch das Christentum aufgenommen wurde). Nackter Materialismus! wie schon der Vergleich mit dem Saveasiuleo der Samoaner und dem grossen Weltgeist der Yorubas zeigt. Das wäre ein negativer Einfluss des Judentums auf alle Religion: die Inficierung mit materialistischen Grundanschauungen. Jetzt müssen wir den positiven betrachten, der gemeiniglich einzig ins Auge gefasst wird. Nirgends — das kann man, glaube ich, ohne jede Einschränkung behaupten — nirgends auf der ganzen Welt trifft man den Glauben ähnlich an wie bei den Semiten, so glühend, so rückhaltslos, so un- erschütterlich. Vielleicht besässen wir ohne sie den Begriff des religiösen Glaubens, der fides gar nicht. Das deutsche Wort »Glaube« ist sehr zweideutig; von Hause aus schmeckt es eben so sehr nach Zweifeln wie nach Überzeugtsein; die Grundbedeutung ist ja ein blosses »Gut- heissen«. 2) Wenn wir zum Lateinischen greifen, kommen wir auch nicht besser weg, denn in Wahrheit heisst fides Vertrauen, weiter 1) Nähere Ausführungen über die Bibel als geschichtliches Werk und über die Bedeutung, die ihr als solches für das jüdische Volk zukommt, enthält das Kapitel über die Erscheinung Christi, S. 233 fg. Siehe auch weiter unten S. 453. 2) Kluge: Etymologisches Wörterbuch.

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Zitationshilfe: Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 1. München 1899, S. 400. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen01_1899/423>, abgerufen am 24.11.2024.