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Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 1. München 1899.

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Die Erben.
also nicht natürlichen; nun ist aber nach Goethe's Denkweise der
Gegensatz des Natürlichen das Willkürliche, dasjenige, wo der Wille
"kürt", dasjenige, heisst das, wo der Wille, nicht die reine Erkenntnis,
auch nicht der ungetrübt natürliche Instinkt den Ausschlag giebt. Und
somit weist er uns nicht allein darauf hin, dass es zwischen Religion
und Religion wesentliche Unterschiede giebt, so wesentliche, dass das-
selbe Wort zwei verschiedene Dinge bezeichnen kann, sondern er sagt
damit zugleich, worin dieser Unterschied seinen letzten Grund findet:
jene Religion, welche er der natürlichen entgegenstellt, ist eben die
Religion des Willens. Hingegen ist der Gebrauch des Wortes
"Glaube" bei ihm unklar und irreführend; er hat zu sehr vereinfachen
wollen. Goethe sagt: "die natürliche Religion bedarf eigentlich
keines Glaubens;" doch wird in Wahrheit in den nicht-semitischen
Religionen mehr geglaubt als in den semitischen; der Glaubensstoff,
heisst das, ist reicher; auch wird "Glaube" ausdrücklich von ihnen
gefordert. Wie verhält es sich nun hiermit? Die Natur des Glaubens
ist eben hier und dort genau so verschieden wie die der Religion;
dem Wort "Religion" giebt Goethe in der angeführten Stelle zwei
Bedeutungen, dem Wort "Glauben" nur eine, daher das Missverständnis.
In Wahrheit finden wir nirgends Religion ohne Glauben; ohne Glauben
im spezifisch semitischen Sinne, allerdings, doch nicht ohne Glauben.
Der Glaube ist überall die unsichtbare Seele, die Religion der sichtbare
Leib. Wir müssen also weiter vordringen, wollen wir Goethe's Satz bis
zur vollen Anschaulichkeit entwickeln. Ich greife wieder zur Illustration.

Soweit mir bekannt, ist der Dogmatismus und der Begriff der
Glaubensorthodoxie nirgends so ausgebildet wie bei den arischen Brah-
manen; dennoch ist der Erfolg ein ganz anderer, als bei den Semiten.
Die heiligen Veden der Inder galten als göttliche Offenbarung; jedes
ihrer Worte war für alle Glaubenssachen autoritativ und unbestreitbar --
und trotzdem entblühten diesem einen Boden eines allseits als "un-
fehlbar" anerkannten Schriftenkomplexes sechs durchaus verschiedene
Weltanschauungen,1) Systeme, in welchen (wie das dem indischen
Geist eigen ist) Philosophie und Religion untrennbar verschlungen auf-
wachsen, so dass die Auffassung von der Natur der Gottheit, von dem
Verhältnis des Individuums zu ihr, von der Bedeutung der Erlösung
u. s. w. in den einzelnen Systemen sehr verschieden ist, wodurch also

1) Es gab noch mehr, doch lassen sich die anderen unter die sechs grossen
Rubriken subsumieren.

Die Erben.
also nicht natürlichen; nun ist aber nach Goethe’s Denkweise der
Gegensatz des Natürlichen das Willkürliche, dasjenige, wo der Wille
»kürt«, dasjenige, heisst das, wo der Wille, nicht die reine Erkenntnis,
auch nicht der ungetrübt natürliche Instinkt den Ausschlag giebt. Und
somit weist er uns nicht allein darauf hin, dass es zwischen Religion
und Religion wesentliche Unterschiede giebt, so wesentliche, dass das-
selbe Wort zwei verschiedene Dinge bezeichnen kann, sondern er sagt
damit zugleich, worin dieser Unterschied seinen letzten Grund findet:
jene Religion, welche er der natürlichen entgegenstellt, ist eben die
Religion des Willens. Hingegen ist der Gebrauch des Wortes
»Glaube« bei ihm unklar und irreführend; er hat zu sehr vereinfachen
wollen. Goethe sagt: »die natürliche Religion bedarf eigentlich
keines Glaubens;« doch wird in Wahrheit in den nicht-semitischen
Religionen mehr geglaubt als in den semitischen; der Glaubensstoff,
heisst das, ist reicher; auch wird »Glaube« ausdrücklich von ihnen
gefordert. Wie verhält es sich nun hiermit? Die Natur des Glaubens
ist eben hier und dort genau so verschieden wie die der Religion;
dem Wort »Religion« giebt Goethe in der angeführten Stelle zwei
Bedeutungen, dem Wort »Glauben« nur eine, daher das Missverständnis.
In Wahrheit finden wir nirgends Religion ohne Glauben; ohne Glauben
im spezifisch semitischen Sinne, allerdings, doch nicht ohne Glauben.
Der Glaube ist überall die unsichtbare Seele, die Religion der sichtbare
Leib. Wir müssen also weiter vordringen, wollen wir Goethe’s Satz bis
zur vollen Anschaulichkeit entwickeln. Ich greife wieder zur Illustration.

Soweit mir bekannt, ist der Dogmatismus und der Begriff der
Glaubensorthodoxie nirgends so ausgebildet wie bei den arischen Brah-
manen; dennoch ist der Erfolg ein ganz anderer, als bei den Semiten.
Die heiligen Veden der Inder galten als göttliche Offenbarung; jedes
ihrer Worte war für alle Glaubenssachen autoritativ und unbestreitbar —
und trotzdem entblühten diesem einen Boden eines allseits als »un-
fehlbar« anerkannten Schriftenkomplexes sechs durchaus verschiedene
Weltanschauungen,1) Systeme, in welchen (wie das dem indischen
Geist eigen ist) Philosophie und Religion untrennbar verschlungen auf-
wachsen, so dass die Auffassung von der Natur der Gottheit, von dem
Verhältnis des Individuums zu ihr, von der Bedeutung der Erlösung
u. s. w. in den einzelnen Systemen sehr verschieden ist, wodurch also

1) Es gab noch mehr, doch lassen sich die anderen unter die sechs grossen
Rubriken subsumieren.
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[406/0429] Die Erben. also nicht natürlichen; nun ist aber nach Goethe’s Denkweise der Gegensatz des Natürlichen das Willkürliche, dasjenige, wo der Wille »kürt«, dasjenige, heisst das, wo der Wille, nicht die reine Erkenntnis, auch nicht der ungetrübt natürliche Instinkt den Ausschlag giebt. Und somit weist er uns nicht allein darauf hin, dass es zwischen Religion und Religion wesentliche Unterschiede giebt, so wesentliche, dass das- selbe Wort zwei verschiedene Dinge bezeichnen kann, sondern er sagt damit zugleich, worin dieser Unterschied seinen letzten Grund findet: jene Religion, welche er der natürlichen entgegenstellt, ist eben die Religion des Willens. Hingegen ist der Gebrauch des Wortes »Glaube« bei ihm unklar und irreführend; er hat zu sehr vereinfachen wollen. Goethe sagt: »die natürliche Religion bedarf eigentlich keines Glaubens;« doch wird in Wahrheit in den nicht-semitischen Religionen mehr geglaubt als in den semitischen; der Glaubensstoff, heisst das, ist reicher; auch wird »Glaube« ausdrücklich von ihnen gefordert. Wie verhält es sich nun hiermit? Die Natur des Glaubens ist eben hier und dort genau so verschieden wie die der Religion; dem Wort »Religion« giebt Goethe in der angeführten Stelle zwei Bedeutungen, dem Wort »Glauben« nur eine, daher das Missverständnis. In Wahrheit finden wir nirgends Religion ohne Glauben; ohne Glauben im spezifisch semitischen Sinne, allerdings, doch nicht ohne Glauben. Der Glaube ist überall die unsichtbare Seele, die Religion der sichtbare Leib. Wir müssen also weiter vordringen, wollen wir Goethe’s Satz bis zur vollen Anschaulichkeit entwickeln. Ich greife wieder zur Illustration. Soweit mir bekannt, ist der Dogmatismus und der Begriff der Glaubensorthodoxie nirgends so ausgebildet wie bei den arischen Brah- manen; dennoch ist der Erfolg ein ganz anderer, als bei den Semiten. Die heiligen Veden der Inder galten als göttliche Offenbarung; jedes ihrer Worte war für alle Glaubenssachen autoritativ und unbestreitbar — und trotzdem entblühten diesem einen Boden eines allseits als »un- fehlbar« anerkannten Schriftenkomplexes sechs durchaus verschiedene Weltanschauungen, 1) Systeme, in welchen (wie das dem indischen Geist eigen ist) Philosophie und Religion untrennbar verschlungen auf- wachsen, so dass die Auffassung von der Natur der Gottheit, von dem Verhältnis des Individuums zu ihr, von der Bedeutung der Erlösung u. s. w. in den einzelnen Systemen sehr verschieden ist, wodurch also 1) Es gab noch mehr, doch lassen sich die anderen unter die sechs grossen Rubriken subsumieren.

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Zitationshilfe: Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 1. München 1899, S. 406. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen01_1899/429>, abgerufen am 24.11.2024.