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Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 1. München 1899.

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Die Erben.
wo die Religion (wie ein jüdischer Autor uns vorhin mitteilte) Wissen-
schaft, Kunst, Litteratur, alles (ausser Glauben und Gehorsam) aus
dem Leben verbannte!1) Denn die enorme geistige Thätigkeit des
indischen Volkes, dessen poetische Litteratur allein an Umfang "die
ganze klassische Litteratur von Griechenland und Italien zusammen-
genommen übertrifft",2) wurzelt in seinem Glauben; seine bedeutendsten
Thaten, auch auf fernab liegenden Gebieten, strahlen von seiner tiefen
Religiosität aus. Ein Beispiel. Panini's Grammatik der Sanskritsprache,
vor 2500 Jahren geschrieben und zwar als Kulminationspunkt einer
langen, Jahrhunderte zurückreichenden wissenschaftlichen Entwickelung,
ist bekanntlich die grösste philologische Leistung der Menschheit;
Benfey schreibt darüber: "eine so vollständige Grammatik hat keine
Sprache der Welt aufzuweisen, selbst trotz der staunenswerten Grimm-
schen Arbeiten unsere deutsche Muttersprache nicht"; Panini bildet noch
heute den Eckstein dieser Wissenschaft: nun, was hatte die indischen
Denker zu so hohen wissenschaftlichen Thaten angeeifert? Die Sehn-
sucht, die heiligen Lieder des Rigveda, die im Laufe der Jahrhunderte
schwer verständlich geworden waren, zu neuem Leben zu erwecken!
Nicht eine pure, ziellose Begeisterung für "Wissenschaft", sondern
religiöse Begeisterung hatte -- Benfey bezeugt es -- sie "zu dieser
Kraft erstarkt".3) Auch ihre so eminenten Leistungen auf dem Gebiete
der Mathematik -- man weiss, dass die indischen Arier die Erfinder
der sogenannten "arabischen Ziffern" sind -- nehmen ihren Ausgang
von der Religion: die Lösung des bekannten geometrischen Problems,
die bei uns als Ruhmestitel dem Pythagoras zugeschrieben wird, hatten
die Inder vor undenklichen Zeiten gefunden, gewissermassen ohne es
zu ahnen, als eine notwendige Folge der zu Opferzwecken vor-
geschriebenen Messungen; hier, in diesen religiösen Berechnungen,
war die Brutstätte, aus welcher die klare Erkenntnis der irrationalen
Zahlen und später die höhere Algebra, die Zahlentheorie u. s. w. her-
vorgingen.4) In welchem Sinne kann Goethe nun von einer der-

1) Siehe S. 381. Auch Spinoza, der in jedem seiner Gedanken so durch und
durch Jude und Antiarier ist, schreibt: "Fidei scopus nihil est praeter obedientiam et
pietatem" (Tract. theol.-pol. c. 14); dass Religion ein schöpferisches Lebenselement
sein könne, ist eine Vorstellung, die diesem Gehirne völlig unzugänglich blieb.
2) Max Müller: Indien in seiner weltgeschichtlichen Bedeutung (1884), S. 68.
3) Geschichte der Sprachwissenschaft (1869), S. 77 und 55 (ich citiere nach
Schroeder: Indiens Litteratur und Kultur, S. 704 und 708).
4) Vergl. Schroeder: Pythagoras und die Inder, Kap. 3.

Die Erben.
wo die Religion (wie ein jüdischer Autor uns vorhin mitteilte) Wissen-
schaft, Kunst, Litteratur, alles (ausser Glauben und Gehorsam) aus
dem Leben verbannte!1) Denn die enorme geistige Thätigkeit des
indischen Volkes, dessen poetische Litteratur allein an Umfang »die
ganze klassische Litteratur von Griechenland und Italien zusammen-
genommen übertrifft«,2) wurzelt in seinem Glauben; seine bedeutendsten
Thaten, auch auf fernab liegenden Gebieten, strahlen von seiner tiefen
Religiosität aus. Ein Beispiel. Pânini’s Grammatik der Sanskritsprache,
vor 2500 Jahren geschrieben und zwar als Kulminationspunkt einer
langen, Jahrhunderte zurückreichenden wissenschaftlichen Entwickelung,
ist bekanntlich die grösste philologische Leistung der Menschheit;
Benfey schreibt darüber: »eine so vollständige Grammatik hat keine
Sprache der Welt aufzuweisen, selbst trotz der staunenswerten Grimm-
schen Arbeiten unsere deutsche Muttersprache nicht«; Pânini bildet noch
heute den Eckstein dieser Wissenschaft: nun, was hatte die indischen
Denker zu so hohen wissenschaftlichen Thaten angeeifert? Die Sehn-
sucht, die heiligen Lieder des Rigveda, die im Laufe der Jahrhunderte
schwer verständlich geworden waren, zu neuem Leben zu erwecken!
Nicht eine pure, ziellose Begeisterung für »Wissenschaft«, sondern
religiöse Begeisterung hatte — Benfey bezeugt es — sie »zu dieser
Kraft erstarkt«.3) Auch ihre so eminenten Leistungen auf dem Gebiete
der Mathematik — man weiss, dass die indischen Arier die Erfinder
der sogenannten »arabischen Ziffern« sind — nehmen ihren Ausgang
von der Religion: die Lösung des bekannten geometrischen Problems,
die bei uns als Ruhmestitel dem Pythagoras zugeschrieben wird, hatten
die Inder vor undenklichen Zeiten gefunden, gewissermassen ohne es
zu ahnen, als eine notwendige Folge der zu Opferzwecken vor-
geschriebenen Messungen; hier, in diesen religiösen Berechnungen,
war die Brutstätte, aus welcher die klare Erkenntnis der irrationalen
Zahlen und später die höhere Algebra, die Zahlentheorie u. s. w. her-
vorgingen.4) In welchem Sinne kann Goethe nun von einer der-

1) Siehe S. 381. Auch Spinoza, der in jedem seiner Gedanken so durch und
durch Jude und Antiarier ist, schreibt: »Fidei scopus nihil est praeter obedientiam et
pietatem« (Tract. theol.-pol. c. 14); dass Religion ein schöpferisches Lebenselement
sein könne, ist eine Vorstellung, die diesem Gehirne völlig unzugänglich blieb.
2) Max Müller: Indien in seiner weltgeschichtlichen Bedeutung (1884), S. 68.
3) Geschichte der Sprachwissenschaft (1869), S. 77 und 55 (ich citiere nach
Schroeder: Indiens Litteratur und Kultur, S. 704 und 708).
4) Vergl. Schroeder: Pythagoras und die Inder, Kap. 3.
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[408/0431] Die Erben. wo die Religion (wie ein jüdischer Autor uns vorhin mitteilte) Wissen- schaft, Kunst, Litteratur, alles (ausser Glauben und Gehorsam) aus dem Leben verbannte! 1) Denn die enorme geistige Thätigkeit des indischen Volkes, dessen poetische Litteratur allein an Umfang »die ganze klassische Litteratur von Griechenland und Italien zusammen- genommen übertrifft«, 2) wurzelt in seinem Glauben; seine bedeutendsten Thaten, auch auf fernab liegenden Gebieten, strahlen von seiner tiefen Religiosität aus. Ein Beispiel. Pânini’s Grammatik der Sanskritsprache, vor 2500 Jahren geschrieben und zwar als Kulminationspunkt einer langen, Jahrhunderte zurückreichenden wissenschaftlichen Entwickelung, ist bekanntlich die grösste philologische Leistung der Menschheit; Benfey schreibt darüber: »eine so vollständige Grammatik hat keine Sprache der Welt aufzuweisen, selbst trotz der staunenswerten Grimm- schen Arbeiten unsere deutsche Muttersprache nicht«; Pânini bildet noch heute den Eckstein dieser Wissenschaft: nun, was hatte die indischen Denker zu so hohen wissenschaftlichen Thaten angeeifert? Die Sehn- sucht, die heiligen Lieder des Rigveda, die im Laufe der Jahrhunderte schwer verständlich geworden waren, zu neuem Leben zu erwecken! Nicht eine pure, ziellose Begeisterung für »Wissenschaft«, sondern religiöse Begeisterung hatte — Benfey bezeugt es — sie »zu dieser Kraft erstarkt«. 3) Auch ihre so eminenten Leistungen auf dem Gebiete der Mathematik — man weiss, dass die indischen Arier die Erfinder der sogenannten »arabischen Ziffern« sind — nehmen ihren Ausgang von der Religion: die Lösung des bekannten geometrischen Problems, die bei uns als Ruhmestitel dem Pythagoras zugeschrieben wird, hatten die Inder vor undenklichen Zeiten gefunden, gewissermassen ohne es zu ahnen, als eine notwendige Folge der zu Opferzwecken vor- geschriebenen Messungen; hier, in diesen religiösen Berechnungen, war die Brutstätte, aus welcher die klare Erkenntnis der irrationalen Zahlen und später die höhere Algebra, die Zahlentheorie u. s. w. her- vorgingen. 4) In welchem Sinne kann Goethe nun von einer der- 1) Siehe S. 381. Auch Spinoza, der in jedem seiner Gedanken so durch und durch Jude und Antiarier ist, schreibt: »Fidei scopus nihil est praeter obedientiam et pietatem« (Tract. theol.-pol. c. 14); dass Religion ein schöpferisches Lebenselement sein könne, ist eine Vorstellung, die diesem Gehirne völlig unzugänglich blieb. 2) Max Müller: Indien in seiner weltgeschichtlichen Bedeutung (1884), S. 68. 3) Geschichte der Sprachwissenschaft (1869), S. 77 und 55 (ich citiere nach Schroeder: Indiens Litteratur und Kultur, S. 704 und 708). 4) Vergl. Schroeder: Pythagoras und die Inder, Kap. 3.

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Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




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Zitationshilfe: Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 1. München 1899, S. 408. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen01_1899/431>, abgerufen am 24.11.2024.