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Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 1. München 1899.

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Die Erben.
und darum auch ganz anders seine Glaubenskraft. Selbst der einfache
Satz: Ich glaube an Gott, Schöpfer Himmels und der Erden, bildet
keinen Teil seines Credos, dieses Umstandes wird im Koran nur
beiläufig und in den gesamten heiligen Schriften der Juden kaum
dreimal Erwähnung gethan. Dagegen lautet gleich das erste Gebot
Moses: Ich bin der Herr, der dich aus Ägyptenland geführt
habe!
Der Glaube knüpft, wie man sieht, sofort an geschichtliche
Thatsachen an, die das Volk für sicher bezeugt hält, und niemals
erhebt er sich über das Niveau des gewöhnlichen Auges. Wie
Montefiore uns vorhin belehrte: Die jüdische Religion kennt kein
Geheimnis (siehe S. 392 fg.). Wenn man also von der unvergleichlichen
Kraft des semitischen Glaubens spricht, so darf man nicht übersehen,
dass dieser Glaube sich auf einen äusserst dürftigen, beschränkten Stoff
richtet, dass er das grosse Weltwunder prinzipiell ausser Acht lässt
und dass er durch die Auferlegung eines "Gesetzes" (im juristischen
Sinn des Wortes) ebenfalls das innere Herzensleben auf ein Minimum
reduziert, -- wer dem Gesetz gehorcht, ist ohne Sünde, weiter braucht
er sich den Kopf nicht zu zerbrechen: Wiedergeburt, Gnade, Erlösung,
das existiert alles nicht. Wir lernen also einsehen: dieser starke Glaube
setzt als Gegenbedingung ein Minimum an Glaubensstoff, ein Minimum
an Religion voraus. Moses Mendelssohn hat es einsichtsvoll und
ehrlich ausgesprochen: "Das Judentum ist nicht geoffenbarte Religion,
sondern geoffenbarte Gesetzgebung".1)

"Der Semit hat eigentlich wenig Religion", seufzt der genaueste
Kenner semitischer Religionsgeschichte, Robertson Smith; "ja, aber
viel Glauben", ruft Goethe zurück; und Renan liefert den Kommentar:
"der Geist des Semiten vermag nur äusserst wenig zu umfassen, doch
dieses Wenige umfasst er mit grosser Kraft."2) Ich glaube aber, wir
fangen jetzt schon an, uns in der Konfusion zwischen Glauben und
Glauben, Religion und Religion, besser als Smith, Goethe und Renan
zurecht zu finden; bald werden wir bis auf den Boden sehen. Zur
vollkommenen Aufklärung muss ich hier noch ein letztes Mal den
Inder dem Semiten entgegenstellen.

Der arische Inder kann als Beispiel des extremen Gegenteils des
Semiten gelten, eines Gegenteils aber, das bei allen semitenfreien Völkern,
selbst bei den australischen Negern, deutlich hervortritt und in unser

1) Rettung der Juden, 1782. (Ich citiere nach Graetz: Volkst. Gesch. III, 578).
2) Renan: Langues semitiques, p. 11.

Die Erben.
und darum auch ganz anders seine Glaubenskraft. Selbst der einfache
Satz: Ich glaube an Gott, Schöpfer Himmels und der Erden, bildet
keinen Teil seines Credos, dieses Umstandes wird im Koran nur
beiläufig und in den gesamten heiligen Schriften der Juden kaum
dreimal Erwähnung gethan. Dagegen lautet gleich das erste Gebot
Moses: Ich bin der Herr, der dich aus Ägyptenland geführt
habe!
Der Glaube knüpft, wie man sieht, sofort an geschichtliche
Thatsachen an, die das Volk für sicher bezeugt hält, und niemals
erhebt er sich über das Niveau des gewöhnlichen Auges. Wie
Montefiore uns vorhin belehrte: Die jüdische Religion kennt kein
Geheimnis (siehe S. 392 fg.). Wenn man also von der unvergleichlichen
Kraft des semitischen Glaubens spricht, so darf man nicht übersehen,
dass dieser Glaube sich auf einen äusserst dürftigen, beschränkten Stoff
richtet, dass er das grosse Weltwunder prinzipiell ausser Acht lässt
und dass er durch die Auferlegung eines »Gesetzes« (im juristischen
Sinn des Wortes) ebenfalls das innere Herzensleben auf ein Minimum
reduziert, — wer dem Gesetz gehorcht, ist ohne Sünde, weiter braucht
er sich den Kopf nicht zu zerbrechen: Wiedergeburt, Gnade, Erlösung,
das existiert alles nicht. Wir lernen also einsehen: dieser starke Glaube
setzt als Gegenbedingung ein Minimum an Glaubensstoff, ein Minimum
an Religion voraus. Moses Mendelssohn hat es einsichtsvoll und
ehrlich ausgesprochen: »Das Judentum ist nicht geoffenbarte Religion,
sondern geoffenbarte Gesetzgebung«.1)

»Der Semit hat eigentlich wenig Religion«, seufzt der genaueste
Kenner semitischer Religionsgeschichte, Robertson Smith; »ja, aber
viel Glauben«, ruft Goethe zurück; und Renan liefert den Kommentar:
»der Geist des Semiten vermag nur äusserst wenig zu umfassen, doch
dieses Wenige umfasst er mit grosser Kraft.«2) Ich glaube aber, wir
fangen jetzt schon an, uns in der Konfusion zwischen Glauben und
Glauben, Religion und Religion, besser als Smith, Goethe und Renan
zurecht zu finden; bald werden wir bis auf den Boden sehen. Zur
vollkommenen Aufklärung muss ich hier noch ein letztes Mal den
Inder dem Semiten entgegenstellen.

Der arische Inder kann als Beispiel des extremen Gegenteils des
Semiten gelten, eines Gegenteils aber, das bei allen semitenfreien Völkern,
selbst bei den australischen Negern, deutlich hervortritt und in unser

1) Rettung der Juden, 1782. (Ich citiere nach Graetz: Volkst. Gesch. III, 578).
2) Renan: Langues sémitiques, p. 11.
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[410/0433] Die Erben. und darum auch ganz anders seine Glaubenskraft. Selbst der einfache Satz: Ich glaube an Gott, Schöpfer Himmels und der Erden, bildet keinen Teil seines Credos, dieses Umstandes wird im Koran nur beiläufig und in den gesamten heiligen Schriften der Juden kaum dreimal Erwähnung gethan. Dagegen lautet gleich das erste Gebot Moses: Ich bin der Herr, der dich aus Ägyptenland geführt habe! Der Glaube knüpft, wie man sieht, sofort an geschichtliche Thatsachen an, die das Volk für sicher bezeugt hält, und niemals erhebt er sich über das Niveau des gewöhnlichen Auges. Wie Montefiore uns vorhin belehrte: Die jüdische Religion kennt kein Geheimnis (siehe S. 392 fg.). Wenn man also von der unvergleichlichen Kraft des semitischen Glaubens spricht, so darf man nicht übersehen, dass dieser Glaube sich auf einen äusserst dürftigen, beschränkten Stoff richtet, dass er das grosse Weltwunder prinzipiell ausser Acht lässt und dass er durch die Auferlegung eines »Gesetzes« (im juristischen Sinn des Wortes) ebenfalls das innere Herzensleben auf ein Minimum reduziert, — wer dem Gesetz gehorcht, ist ohne Sünde, weiter braucht er sich den Kopf nicht zu zerbrechen: Wiedergeburt, Gnade, Erlösung, das existiert alles nicht. Wir lernen also einsehen: dieser starke Glaube setzt als Gegenbedingung ein Minimum an Glaubensstoff, ein Minimum an Religion voraus. Moses Mendelssohn hat es einsichtsvoll und ehrlich ausgesprochen: »Das Judentum ist nicht geoffenbarte Religion, sondern geoffenbarte Gesetzgebung«. 1) »Der Semit hat eigentlich wenig Religion«, seufzt der genaueste Kenner semitischer Religionsgeschichte, Robertson Smith; »ja, aber viel Glauben«, ruft Goethe zurück; und Renan liefert den Kommentar: »der Geist des Semiten vermag nur äusserst wenig zu umfassen, doch dieses Wenige umfasst er mit grosser Kraft.« 2) Ich glaube aber, wir fangen jetzt schon an, uns in der Konfusion zwischen Glauben und Glauben, Religion und Religion, besser als Smith, Goethe und Renan zurecht zu finden; bald werden wir bis auf den Boden sehen. Zur vollkommenen Aufklärung muss ich hier noch ein letztes Mal den Inder dem Semiten entgegenstellen. Der arische Inder kann als Beispiel des extremen Gegenteils des Semiten gelten, eines Gegenteils aber, das bei allen semitenfreien Völkern, selbst bei den australischen Negern, deutlich hervortritt und in unser 1) Rettung der Juden, 1782. (Ich citiere nach Graetz: Volkst. Gesch. III, 578). 2) Renan: Langues sémitiques, p. 11.

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Zitationshilfe: Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 1. München 1899, S. 410. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen01_1899/433>, abgerufen am 24.11.2024.