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Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 1. München 1899.

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Der Eintritt der Juden in die abendländische Geschichte.
keine Parallele aufgewiesen werden kann; ohne die bestimmten
historischen Bedingungen aber wäre er das nicht geworden, was er
wurde; die besondere ethnologische Mischung, aus der er hervor-
gegangen und seine weitere Geschichte bis zu seiner Isolierung von
Israel hätten nicht das anormale Phänomen des Judentums hervor-
gebracht, wenn nicht eine Reihe merkwürdiger Umstände diese
besondere Entwickelung begünstigt hätte. Diese Umstände sind leicht
aufzuzählen; es sind ihrer fünf, die wie die Räder eines geschickt
gebauten Uhrwerkes ineinandergreifen: die plötzliche Isolierung, die
hundertjährige Frist zur Ausbildung der Eigenart, der Abbruch aller
geschichtlichen Lokaltradition durch das Exil, die Wiederanknüpfung
unter einer neuen, in der Fremde geborenen Generation, der Zustand
politischer Abhängigkeit, in dem die Juden sich fortan befanden. Eine
kurze Betrachtung dieser historisch nacheinander zur Geltung ge-
kommenen Momente wird uns das Werden des Judentums vollendet
klar veranschaulichen.

1. Die Männer Judas waren gewohnt gewesen (gewissermassen
als Minderjährige), Anregung von dem älteren, stärkeren und begabteren
Bruder zu erhalten: jetzt standen sie auf einmal allein, im Besitz
einer wahrscheinlich nur fragmentarischen Tradition und genötigt, die
weitere geistige Entwickelung selber zu leiten. Es war wie ein
plötzlicher, gewaltsamer Ruck, auf welchen keine andere Reaktion
erfolgen konnte als eine gewaltsame, wenig harmonische.

2. Wären die Assyrer sofort in Juda eingefallen und hätten die
Einwohner zerstreut, so wären diese ohne Frage eben so spurlos wie
die Israeliten verschwunden. Nun blieben die Judäer aber über ein Jahr-
hundert verschont und zwar in einer Lage, welche sie geradezu zwang,
die letzte Anregung, die sie von Israel erhalten, bis auf ihre äusserste,
übertriebenste Konsequenz auszunutzen, und das war die von den
Propheten Amos und Hosea ausgegangene: moralische Umkehr, Demüti-
gung vor Gott, Vertrauen auf seine Allmacht. Das war auch wirklich
der letzte Hoffnungsanker; an Sieg durch Menschenkraft gegen die
heranrückende Weltmacht war nicht zu denken. Doch fassten die
Juden die hohe Lehre des Amos rein materialistisch auf. In ihrer Not
verstiegen sie sich bis zu dem wahnsinnigen Gedanken, Jerusalem
sei uneinnehmbar,
als Jahve's Wohnort.1) Die vernünftigen Leute
schüttelten freilich skeptisch den Kopf, doch als Sennacherib's Heer,

1) Siehe Jesaia, Kap. 37, namentlich die Verse 33--37.

Der Eintritt der Juden in die abendländische Geschichte.
keine Parallele aufgewiesen werden kann; ohne die bestimmten
historischen Bedingungen aber wäre er das nicht geworden, was er
wurde; die besondere ethnologische Mischung, aus der er hervor-
gegangen und seine weitere Geschichte bis zu seiner Isolierung von
Israel hätten nicht das anormale Phänomen des Judentums hervor-
gebracht, wenn nicht eine Reihe merkwürdiger Umstände diese
besondere Entwickelung begünstigt hätte. Diese Umstände sind leicht
aufzuzählen; es sind ihrer fünf, die wie die Räder eines geschickt
gebauten Uhrwerkes ineinandergreifen: die plötzliche Isolierung, die
hundertjährige Frist zur Ausbildung der Eigenart, der Abbruch aller
geschichtlichen Lokaltradition durch das Exil, die Wiederanknüpfung
unter einer neuen, in der Fremde geborenen Generation, der Zustand
politischer Abhängigkeit, in dem die Juden sich fortan befanden. Eine
kurze Betrachtung dieser historisch nacheinander zur Geltung ge-
kommenen Momente wird uns das Werden des Judentums vollendet
klar veranschaulichen.

1. Die Männer Judas waren gewohnt gewesen (gewissermassen
als Minderjährige), Anregung von dem älteren, stärkeren und begabteren
Bruder zu erhalten: jetzt standen sie auf einmal allein, im Besitz
einer wahrscheinlich nur fragmentarischen Tradition und genötigt, die
weitere geistige Entwickelung selber zu leiten. Es war wie ein
plötzlicher, gewaltsamer Ruck, auf welchen keine andere Reaktion
erfolgen konnte als eine gewaltsame, wenig harmonische.

2. Wären die Assyrer sofort in Juda eingefallen und hätten die
Einwohner zerstreut, so wären diese ohne Frage eben so spurlos wie
die Israeliten verschwunden. Nun blieben die Judäer aber über ein Jahr-
hundert verschont und zwar in einer Lage, welche sie geradezu zwang,
die letzte Anregung, die sie von Israel erhalten, bis auf ihre äusserste,
übertriebenste Konsequenz auszunutzen, und das war die von den
Propheten Amos und Hosea ausgegangene: moralische Umkehr, Demüti-
gung vor Gott, Vertrauen auf seine Allmacht. Das war auch wirklich
der letzte Hoffnungsanker; an Sieg durch Menschenkraft gegen die
heranrückende Weltmacht war nicht zu denken. Doch fassten die
Juden die hohe Lehre des Amos rein materialistisch auf. In ihrer Not
verstiegen sie sich bis zu dem wahnsinnigen Gedanken, Jerusalem
sei uneinnehmbar,
als Jahve’s Wohnort.1) Die vernünftigen Leute
schüttelten freilich skeptisch den Kopf, doch als Sennacherib’s Heer,

1) Siehe Jesaia, Kap. 37, namentlich die Verse 33—37.
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[423/0446] Der Eintritt der Juden in die abendländische Geschichte. keine Parallele aufgewiesen werden kann; ohne die bestimmten historischen Bedingungen aber wäre er das nicht geworden, was er wurde; die besondere ethnologische Mischung, aus der er hervor- gegangen und seine weitere Geschichte bis zu seiner Isolierung von Israel hätten nicht das anormale Phänomen des Judentums hervor- gebracht, wenn nicht eine Reihe merkwürdiger Umstände diese besondere Entwickelung begünstigt hätte. Diese Umstände sind leicht aufzuzählen; es sind ihrer fünf, die wie die Räder eines geschickt gebauten Uhrwerkes ineinandergreifen: die plötzliche Isolierung, die hundertjährige Frist zur Ausbildung der Eigenart, der Abbruch aller geschichtlichen Lokaltradition durch das Exil, die Wiederanknüpfung unter einer neuen, in der Fremde geborenen Generation, der Zustand politischer Abhängigkeit, in dem die Juden sich fortan befanden. Eine kurze Betrachtung dieser historisch nacheinander zur Geltung ge- kommenen Momente wird uns das Werden des Judentums vollendet klar veranschaulichen. 1. Die Männer Judas waren gewohnt gewesen (gewissermassen als Minderjährige), Anregung von dem älteren, stärkeren und begabteren Bruder zu erhalten: jetzt standen sie auf einmal allein, im Besitz einer wahrscheinlich nur fragmentarischen Tradition und genötigt, die weitere geistige Entwickelung selber zu leiten. Es war wie ein plötzlicher, gewaltsamer Ruck, auf welchen keine andere Reaktion erfolgen konnte als eine gewaltsame, wenig harmonische. 2. Wären die Assyrer sofort in Juda eingefallen und hätten die Einwohner zerstreut, so wären diese ohne Frage eben so spurlos wie die Israeliten verschwunden. Nun blieben die Judäer aber über ein Jahr- hundert verschont und zwar in einer Lage, welche sie geradezu zwang, die letzte Anregung, die sie von Israel erhalten, bis auf ihre äusserste, übertriebenste Konsequenz auszunutzen, und das war die von den Propheten Amos und Hosea ausgegangene: moralische Umkehr, Demüti- gung vor Gott, Vertrauen auf seine Allmacht. Das war auch wirklich der letzte Hoffnungsanker; an Sieg durch Menschenkraft gegen die heranrückende Weltmacht war nicht zu denken. Doch fassten die Juden die hohe Lehre des Amos rein materialistisch auf. In ihrer Not verstiegen sie sich bis zu dem wahnsinnigen Gedanken, Jerusalem sei uneinnehmbar, als Jahve’s Wohnort. 1) Die vernünftigen Leute schüttelten freilich skeptisch den Kopf, doch als Sennacherib’s Heer, 1) Siehe Jesaia, Kap. 37, namentlich die Verse 33—37.

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Zitationshilfe: Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 1. München 1899, S. 423. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen01_1899/446>, abgerufen am 23.11.2024.