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Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 1. München 1899.

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Der Eintritt der Juden in die abendländische Geschichte.
Israel; der hundertjährige Fortbestand des von allen Seiten bedrohten
winzigen Staates, der einzig von einer übermenschlichen Macht Hilfe
erhoffen konnte; das Durchreissen des geschichtlichen Fadens sowie
aller örtlichen Traditionen durch die Fortführung des gesamten
Volkes aus der Heimat in die Fremde; die Wiederanknüpfung unter
einer im Ausland geborenen, selbst die Sprache der Väter kaum ver-
stehenden Generation; der fortan dauernde Zustand politischer Ab-
hängigkeit, aus welcher die Priesterherrschaft ihre dominierende
Kraft sog.

Als Esra zum ersten Mal dem versammelten Volke aus demDer
neue Bund.

neuen Gesetz vorlas, welches das "Gesetz Mose" sein sollte, "da
weinete alles Volk, da sie die Worte des Gesetzes höreten"; so be-
richtet Nehemia, und wir glauben's ihm. Doch es half ihnen nichts,
denn der grosse Jahve "mächtig und schrecklich" hatte es befohlen;1)
und nun wurde der angebliche "alte Bund" erneuert, aber diesmal
schriftlich, wie ein notarieller Kontrakt. Jeder Priester, Levit und
Grosse des Landes setzte sein Siegel darunter, auch jeder Schriftkundige;
sie und alle anderen Männer "samt ihren Weibern, Söhnen und Töch-
tern" mussten sich "eidlich verpflichten zu wandeln im Gesetz Gottes,
das durch Mose, den Knecht Gottes, gegeben ist."2) Das war jetzt
der "neue Bund". Es ist wohl das erste und einzige Mal in der
Weltgeschichte, dass eine Religion auf diese Weise entstand! Zum
Glück lebte noch religiöser Instinkt in dem Volke, aus dessen Mitte
ein Jeremia und ein Deuterojesaia vor kurzem hervorgegangen waren;
die menschliche Natur lässt sich nicht bis auf die letzte Spur aus-
stampfen und zerkneten; hier war jedoch das Mögliche nach dieser
Richtung geschehen; und wenn die Juden in der Folge allen Völkern
der Erde verhasst wurden, überall fremd, allen zuwider, so ist die
Ursache davon einzig in diesem künstlich zugerichteten und mechanisch
aufgezwungenen Glauben zu suchen, der sich nach und nach zu einer
unausrottbaren nationalen Idee gestaltete, und in ihren Herzen das uns
allen gemeinsame reinmenschliche Erbe erstickte. In dem kanaanitisch-
israelitischen Naturkultus, verquickt mit semitischem Ernst und amo-
ritischem Idealismus, muss es manche Keime zu schönsten Blüten ge-
geben haben, wie sollten wir sonst eine derartige Entwickelung er-

1) Nach dem Talmud beschäftigt sich Jahve am Sabbat selber mit Lesen
in der Thora! (Wellhausen: Isr. Gesch., S. 297; Montefiore, p. 461.)
2) Siehe Nehemia, Kap. 8--10.
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Der Eintritt der Juden in die abendländische Geschichte.
Israel; der hundertjährige Fortbestand des von allen Seiten bedrohten
winzigen Staates, der einzig von einer übermenschlichen Macht Hilfe
erhoffen konnte; das Durchreissen des geschichtlichen Fadens sowie
aller örtlichen Traditionen durch die Fortführung des gesamten
Volkes aus der Heimat in die Fremde; die Wiederanknüpfung unter
einer im Ausland geborenen, selbst die Sprache der Väter kaum ver-
stehenden Generation; der fortan dauernde Zustand politischer Ab-
hängigkeit, aus welcher die Priesterherrschaft ihre dominierende
Kraft sog.

Als Esra zum ersten Mal dem versammelten Volke aus demDer
neue Bund.

neuen Gesetz vorlas, welches das »Gesetz Mose« sein sollte, »da
weinete alles Volk, da sie die Worte des Gesetzes höreten«; so be-
richtet Nehemia, und wir glauben’s ihm. Doch es half ihnen nichts,
denn der grosse Jahve »mächtig und schrecklich« hatte es befohlen;1)
und nun wurde der angebliche »alte Bund« erneuert, aber diesmal
schriftlich, wie ein notarieller Kontrakt. Jeder Priester, Levit und
Grosse des Landes setzte sein Siegel darunter, auch jeder Schriftkundige;
sie und alle anderen Männer »samt ihren Weibern, Söhnen und Töch-
tern« mussten sich »eidlich verpflichten zu wandeln im Gesetz Gottes,
das durch Mose, den Knecht Gottes, gegeben ist.«2) Das war jetzt
der »neue Bund«. Es ist wohl das erste und einzige Mal in der
Weltgeschichte, dass eine Religion auf diese Weise entstand! Zum
Glück lebte noch religiöser Instinkt in dem Volke, aus dessen Mitte
ein Jeremia und ein Deuterojesaia vor kurzem hervorgegangen waren;
die menschliche Natur lässt sich nicht bis auf die letzte Spur aus-
stampfen und zerkneten; hier war jedoch das Mögliche nach dieser
Richtung geschehen; und wenn die Juden in der Folge allen Völkern
der Erde verhasst wurden, überall fremd, allen zuwider, so ist die
Ursache davon einzig in diesem künstlich zugerichteten und mechanisch
aufgezwungenen Glauben zu suchen, der sich nach und nach zu einer
unausrottbaren nationalen Idee gestaltete, und in ihren Herzen das uns
allen gemeinsame reinmenschliche Erbe erstickte. In dem kanaanitisch-
israelitischen Naturkultus, verquickt mit semitischem Ernst und amo-
ritischem Idealismus, muss es manche Keime zu schönsten Blüten ge-
geben haben, wie sollten wir sonst eine derartige Entwickelung er-

1) Nach dem Talmud beschäftigt sich Jahve am Sabbat selber mit Lesen
in der Thora! (Wellhausen: Isr. Gesch., S. 297; Montefiore, p. 461.)
2) Siehe Nehemia, Kap. 8—10.
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[435/0458] Der Eintritt der Juden in die abendländische Geschichte. Israel; der hundertjährige Fortbestand des von allen Seiten bedrohten winzigen Staates, der einzig von einer übermenschlichen Macht Hilfe erhoffen konnte; das Durchreissen des geschichtlichen Fadens sowie aller örtlichen Traditionen durch die Fortführung des gesamten Volkes aus der Heimat in die Fremde; die Wiederanknüpfung unter einer im Ausland geborenen, selbst die Sprache der Väter kaum ver- stehenden Generation; der fortan dauernde Zustand politischer Ab- hängigkeit, aus welcher die Priesterherrschaft ihre dominierende Kraft sog. Als Esra zum ersten Mal dem versammelten Volke aus dem neuen Gesetz vorlas, welches das »Gesetz Mose« sein sollte, »da weinete alles Volk, da sie die Worte des Gesetzes höreten«; so be- richtet Nehemia, und wir glauben’s ihm. Doch es half ihnen nichts, denn der grosse Jahve »mächtig und schrecklich« hatte es befohlen; 1) und nun wurde der angebliche »alte Bund« erneuert, aber diesmal schriftlich, wie ein notarieller Kontrakt. Jeder Priester, Levit und Grosse des Landes setzte sein Siegel darunter, auch jeder Schriftkundige; sie und alle anderen Männer »samt ihren Weibern, Söhnen und Töch- tern« mussten sich »eidlich verpflichten zu wandeln im Gesetz Gottes, das durch Mose, den Knecht Gottes, gegeben ist.« 2) Das war jetzt der »neue Bund«. Es ist wohl das erste und einzige Mal in der Weltgeschichte, dass eine Religion auf diese Weise entstand! Zum Glück lebte noch religiöser Instinkt in dem Volke, aus dessen Mitte ein Jeremia und ein Deuterojesaia vor kurzem hervorgegangen waren; die menschliche Natur lässt sich nicht bis auf die letzte Spur aus- stampfen und zerkneten; hier war jedoch das Mögliche nach dieser Richtung geschehen; und wenn die Juden in der Folge allen Völkern der Erde verhasst wurden, überall fremd, allen zuwider, so ist die Ursache davon einzig in diesem künstlich zugerichteten und mechanisch aufgezwungenen Glauben zu suchen, der sich nach und nach zu einer unausrottbaren nationalen Idee gestaltete, und in ihren Herzen das uns allen gemeinsame reinmenschliche Erbe erstickte. In dem kanaanitisch- israelitischen Naturkultus, verquickt mit semitischem Ernst und amo- ritischem Idealismus, muss es manche Keime zu schönsten Blüten ge- geben haben, wie sollten wir sonst eine derartige Entwickelung er- Der neue Bund. 1) Nach dem Talmud beschäftigt sich Jahve am Sabbat selber mit Lesen in der Thora! (Wellhausen: Isr. Gesch., S. 297; Montefiore, p. 461.) 2) Siehe Nehemia, Kap. 8—10. 28*

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Zitationshilfe: Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 1. München 1899, S. 435. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen01_1899/458>, abgerufen am 22.11.2024.