Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 1. München 1899.

Bild:
<< vorherige Seite

Allgemeine Einleitung.
Einmal ist die Vereinfachung ein unabweisliches Bedürfnis des Menschen-
geistes, so dass wir unwillkürlich dazu gedrängt werden, an die Stelle
der vielen Namen, welche Träger irgend einer Bewegung waren, einen
einzigen Namen zu setzen; weiterhin ist die Person etwas Gegebenes,
Individuelles, Abgegrenztes, während alles, was weiter liegt, bereits
eine Abstraktion und einen Begriffskreis von schwankendem Umfang
bedeutet. Man könnte darum die Geschichte eines Jahrhunderts aus
lauter Namen zusammensetzen; ich weiss aber nicht, ob ein anderes
Verfahren nicht geeigneter ist, das wahrhaft Wesentliche zum Aus-
druck zu bringen. Es ist nämlich auffallend, wie unendlich wenig
die einzelnen Individualitäten sich im Allgemeinen von einander abheben.
Die Menschen bilden innerhalb ihrer verschiedenen Rassenindividualitäten
eine atomistische, nichtsdestoweniger aber eine sehr homogene Masse.
Neigte sich ein grosser Geist von den Sternen aus beschaulich über unsere
Erde und wäre er im Stande, nicht nur unsere Körper, sondern auch
unsere Seelen zu erblicken, so würde ihm sicherlich die Menschheit
irgend eines Weltteiles so einförmig dünken, wie uns ein Ameisenhaufen:
er würde wohl Krieger, Arbeiter, Faulenzer und Monarchen unterscheiden,
er würde bemerken, dass die einen hierhin, die anderen dorthin rennen,
im Grossen und Ganzen aber würde er doch den Eindruck erhalten,
dass sämtliche Individuen einem gemeinsamen, unpersönlichen Impuls
gehorchen, und gehorchen müssen. Nicht nur der Willkür, sondern
ebenfalls dem Einfluss der grossen Persönlichkeit sind äusserst enge
Schranken gesetzt. Alle grossen und dauernden Umwälzungen im
Leben der Gesellschaft haben "blind" stattgefunden. Eine ausser-
ordentliche Persönlichkeit, wie z. B. in unserem Jahrhundert die
Napoleon's, kann hierüber irreführen, und doch erscheint gerade sie,
bei näherer Betrachtung, als ein blind waltendes Fatum. Ihre Mög-
lichkeit entsteht aus früheren Vorgängen: ohne Richelieu, ohne
Ludwig XIV., ohne Ludwig XV., ohne Voltaire und Rousseau, ohne
französische Revolution, kein Napoleon! Wie eng verwachsen ist
ausserdem die Lebensthat eines solchen Mannes mit dem National-
charakter des gesamten Volkes, mit seinen Eigenschaften und seinen
Fehlern: ohne ein französisches Volk, kein Napoleon! Die Thätig-
keit dieses Feldherrn ist aber vor Allem eine Thätigkeit nach aussen,
und da müssen wir wieder sagen: ohne die Unschlüssigkeit Friedrich
Wilhelms III., ohne die Gesinnungslosigkeit des Hauses Habsburg,
ohne die Wirren in Spanien, ohne das vorangegangene Verbrechen
gegen Polen, kein Napoleon! Und suchen wir nun, um vollends

Allgemeine Einleitung.
Einmal ist die Vereinfachung ein unabweisliches Bedürfnis des Menschen-
geistes, so dass wir unwillkürlich dazu gedrängt werden, an die Stelle
der vielen Namen, welche Träger irgend einer Bewegung waren, einen
einzigen Namen zu setzen; weiterhin ist die Person etwas Gegebenes,
Individuelles, Abgegrenztes, während alles, was weiter liegt, bereits
eine Abstraktion und einen Begriffskreis von schwankendem Umfang
bedeutet. Man könnte darum die Geschichte eines Jahrhunderts aus
lauter Namen zusammensetzen; ich weiss aber nicht, ob ein anderes
Verfahren nicht geeigneter ist, das wahrhaft Wesentliche zum Aus-
druck zu bringen. Es ist nämlich auffallend, wie unendlich wenig
die einzelnen Individualitäten sich im Allgemeinen von einander abheben.
Die Menschen bilden innerhalb ihrer verschiedenen Rassenindividualitäten
eine atomistische, nichtsdestoweniger aber eine sehr homogene Masse.
Neigte sich ein grosser Geist von den Sternen aus beschaulich über unsere
Erde und wäre er im Stande, nicht nur unsere Körper, sondern auch
unsere Seelen zu erblicken, so würde ihm sicherlich die Menschheit
irgend eines Weltteiles so einförmig dünken, wie uns ein Ameisenhaufen:
er würde wohl Krieger, Arbeiter, Faulenzer und Monarchen unterscheiden,
er würde bemerken, dass die einen hierhin, die anderen dorthin rennen,
im Grossen und Ganzen aber würde er doch den Eindruck erhalten,
dass sämtliche Individuen einem gemeinsamen, unpersönlichen Impuls
gehorchen, und gehorchen müssen. Nicht nur der Willkür, sondern
ebenfalls dem Einfluss der grossen Persönlichkeit sind äusserst enge
Schranken gesetzt. Alle grossen und dauernden Umwälzungen im
Leben der Gesellschaft haben »blind« stattgefunden. Eine ausser-
ordentliche Persönlichkeit, wie z. B. in unserem Jahrhundert die
Napoleon’s, kann hierüber irreführen, und doch erscheint gerade sie,
bei näherer Betrachtung, als ein blind waltendes Fatum. Ihre Mög-
lichkeit entsteht aus früheren Vorgängen: ohne Richelieu, ohne
Ludwig XIV., ohne Ludwig XV., ohne Voltaire und Rousseau, ohne
französische Revolution, kein Napoleon! Wie eng verwachsen ist
ausserdem die Lebensthat eines solchen Mannes mit dem National-
charakter des gesamten Volkes, mit seinen Eigenschaften und seinen
Fehlern: ohne ein französisches Volk, kein Napoleon! Die Thätig-
keit dieses Feldherrn ist aber vor Allem eine Thätigkeit nach aussen,
und da müssen wir wieder sagen: ohne die Unschlüssigkeit Friedrich
Wilhelms III., ohne die Gesinnungslosigkeit des Hauses Habsburg,
ohne die Wirren in Spanien, ohne das vorangegangene Verbrechen
gegen Polen, kein Napoleon! Und suchen wir nun, um vollends

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0046" n="23"/><fw place="top" type="header">Allgemeine Einleitung.</fw><lb/>
Einmal ist die Vereinfachung ein unabweisliches Bedürfnis des Menschen-<lb/>
geistes, so dass wir unwillkürlich dazu gedrängt werden, an die Stelle<lb/>
der vielen Namen, welche Träger irgend einer Bewegung waren, einen<lb/>
einzigen Namen zu setzen; weiterhin ist die Person etwas Gegebenes,<lb/>
Individuelles, Abgegrenztes, während alles, was weiter liegt, bereits<lb/>
eine Abstraktion und einen Begriffskreis von schwankendem Umfang<lb/>
bedeutet. Man könnte darum die Geschichte eines Jahrhunderts aus<lb/>
lauter Namen zusammensetzen; ich weiss aber nicht, ob ein anderes<lb/>
Verfahren nicht geeigneter ist, das wahrhaft Wesentliche zum Aus-<lb/>
druck zu bringen. Es ist nämlich auffallend, wie unendlich wenig<lb/>
die einzelnen Individualitäten sich im Allgemeinen von einander abheben.<lb/>
Die Menschen bilden innerhalb ihrer verschiedenen Rassenindividualitäten<lb/>
eine atomistische, nichtsdestoweniger aber eine sehr homogene Masse.<lb/>
Neigte sich ein grosser Geist von den Sternen aus beschaulich über unsere<lb/>
Erde und wäre er im Stande, nicht nur unsere Körper, sondern auch<lb/>
unsere Seelen zu erblicken, so würde ihm sicherlich die Menschheit<lb/>
irgend eines Weltteiles so einförmig dünken, wie uns ein Ameisenhaufen:<lb/>
er würde wohl Krieger, Arbeiter, Faulenzer und Monarchen unterscheiden,<lb/>
er würde bemerken, dass die einen hierhin, die anderen dorthin rennen,<lb/>
im Grossen und Ganzen aber würde er doch den Eindruck erhalten,<lb/>
dass sämtliche Individuen einem gemeinsamen, unpersönlichen Impuls<lb/>
gehorchen, und gehorchen müssen. Nicht nur der Willkür, sondern<lb/>
ebenfalls dem Einfluss der grossen Persönlichkeit sind äusserst enge<lb/>
Schranken gesetzt. Alle grossen und dauernden Umwälzungen im<lb/>
Leben der Gesellschaft haben »blind« stattgefunden. Eine ausser-<lb/>
ordentliche Persönlichkeit, wie z. B. in unserem Jahrhundert die<lb/>
Napoleon&#x2019;s, kann hierüber irreführen, und doch erscheint gerade sie,<lb/>
bei näherer Betrachtung, als ein blind waltendes Fatum. Ihre Mög-<lb/>
lichkeit entsteht aus früheren Vorgängen: ohne Richelieu, ohne<lb/>
Ludwig XIV., ohne Ludwig XV., ohne Voltaire und Rousseau, ohne<lb/>
französische Revolution, kein Napoleon! Wie eng verwachsen ist<lb/>
ausserdem die Lebensthat eines solchen Mannes mit dem National-<lb/>
charakter des gesamten Volkes, mit seinen Eigenschaften und seinen<lb/>
Fehlern: ohne ein französisches Volk, kein Napoleon! Die Thätig-<lb/>
keit dieses Feldherrn ist aber vor Allem eine Thätigkeit nach aussen,<lb/>
und da müssen wir wieder sagen: ohne die Unschlüssigkeit Friedrich<lb/>
Wilhelms III., ohne die Gesinnungslosigkeit des Hauses Habsburg,<lb/>
ohne die Wirren in Spanien, ohne das vorangegangene Verbrechen<lb/>
gegen Polen, kein Napoleon! Und suchen wir nun, um vollends<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[23/0046] Allgemeine Einleitung. Einmal ist die Vereinfachung ein unabweisliches Bedürfnis des Menschen- geistes, so dass wir unwillkürlich dazu gedrängt werden, an die Stelle der vielen Namen, welche Träger irgend einer Bewegung waren, einen einzigen Namen zu setzen; weiterhin ist die Person etwas Gegebenes, Individuelles, Abgegrenztes, während alles, was weiter liegt, bereits eine Abstraktion und einen Begriffskreis von schwankendem Umfang bedeutet. Man könnte darum die Geschichte eines Jahrhunderts aus lauter Namen zusammensetzen; ich weiss aber nicht, ob ein anderes Verfahren nicht geeigneter ist, das wahrhaft Wesentliche zum Aus- druck zu bringen. Es ist nämlich auffallend, wie unendlich wenig die einzelnen Individualitäten sich im Allgemeinen von einander abheben. Die Menschen bilden innerhalb ihrer verschiedenen Rassenindividualitäten eine atomistische, nichtsdestoweniger aber eine sehr homogene Masse. Neigte sich ein grosser Geist von den Sternen aus beschaulich über unsere Erde und wäre er im Stande, nicht nur unsere Körper, sondern auch unsere Seelen zu erblicken, so würde ihm sicherlich die Menschheit irgend eines Weltteiles so einförmig dünken, wie uns ein Ameisenhaufen: er würde wohl Krieger, Arbeiter, Faulenzer und Monarchen unterscheiden, er würde bemerken, dass die einen hierhin, die anderen dorthin rennen, im Grossen und Ganzen aber würde er doch den Eindruck erhalten, dass sämtliche Individuen einem gemeinsamen, unpersönlichen Impuls gehorchen, und gehorchen müssen. Nicht nur der Willkür, sondern ebenfalls dem Einfluss der grossen Persönlichkeit sind äusserst enge Schranken gesetzt. Alle grossen und dauernden Umwälzungen im Leben der Gesellschaft haben »blind« stattgefunden. Eine ausser- ordentliche Persönlichkeit, wie z. B. in unserem Jahrhundert die Napoleon’s, kann hierüber irreführen, und doch erscheint gerade sie, bei näherer Betrachtung, als ein blind waltendes Fatum. Ihre Mög- lichkeit entsteht aus früheren Vorgängen: ohne Richelieu, ohne Ludwig XIV., ohne Ludwig XV., ohne Voltaire und Rousseau, ohne französische Revolution, kein Napoleon! Wie eng verwachsen ist ausserdem die Lebensthat eines solchen Mannes mit dem National- charakter des gesamten Volkes, mit seinen Eigenschaften und seinen Fehlern: ohne ein französisches Volk, kein Napoleon! Die Thätig- keit dieses Feldherrn ist aber vor Allem eine Thätigkeit nach aussen, und da müssen wir wieder sagen: ohne die Unschlüssigkeit Friedrich Wilhelms III., ohne die Gesinnungslosigkeit des Hauses Habsburg, ohne die Wirren in Spanien, ohne das vorangegangene Verbrechen gegen Polen, kein Napoleon! Und suchen wir nun, um vollends

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen01_1899
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen01_1899/46
Zitationshilfe: Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 1. München 1899, S. 23. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen01_1899/46>, abgerufen am 21.11.2024.