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Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 1. München 1899.

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Die Erben.
Erweiterung
des Begriffes.

Ich sagte, der Begriff "Germane" wäre weiter und dennoch zu-
gleich enger zu fassen, als es Tacitus that. Die Erweiterung ergiebt sich
sowohl aus historischen, wie auch aus anthropologischen Erwägungen,
die Verengerung ebenfalls.

Erweitert wird der Begriff durch die Einsicht, dass der "Germane"
des Tacitus sich physisch und geistig weder von seinem Vorläufer in
der Weltgeschichte, dem "Kelten", noch von seinem Nachfolger, den
wir mit noch verwegenerer Kühnheit zu dem Begriff "Slave" zu-
sammenzufassen gewohnt sind, scharf scheiden lässt. Kein Natur-
forscher würde zögern, diese drei Rassen nach den physischen Merk-
malen als Spielarten eines gemeinsamen Stockes zu betrachten. Die
Gallier, die im Jahre 389 vor Chr. Rom eroberten, entsprechen nach
den Beschreibungen genau der Schilderung, die Tacitus von den Ger-
manen giebt: "strahlende blaue Augen, rötliches Haar, hohe Gestalt";
und andrerseits haben die Schädelbefunde aus den Grabstätten der
ältesten heroischen Slavenzeiten zum Erstaunen der gesamten gelehrten
Welt gezeigt, dass die Slaven aus der Völkerwanderung ebenso aus-
gesprochene Dolichocephalen (d. h. Langköpfe) und ebenso hochge-
wachsene Männer waren wie die alten Germanen und wie die Ger-
manen echteren Stammes noch am heutigen Tage.1) Ausserdem haben
Virchow's umfassende Untersuchungen über die Farbe des Haares und
der Augen zu dem Ergebnis geführt, dass die Slaven von Haus aus
ebenso blond waren (resp. in gewissen Gegenden noch sind) wie
die Germanen. Ganz abgesehen also von der nur theoretisch und
hypothetisch gewonnenen allgemeinen Vorstellung eines indoeuro-
päischen Menschen, scheint es, dass wir allen Grund haben, den Begriff
des Germanen, wie wir ihn von Tacitus überkommen haben und den
wir seither, in Folge rein sprachlicher Erwägungen, immer enger ge-
zogen haben, eher im Gegenteil bedeutend weiterzuziehen.2)

1) Vergl. als Zusammenfassung Ranke: Der Mensch, 2. Ausgabe II, 297.
Dass es sich etwa bei diesen Gräberfunden lediglich um normännische Waräger
handle, ist ausgeschlossen, da die Untersuchungen Material aus den verschiedensten
Fundorten umfassen, nicht allein auf russischem, sondern auch auf deutschem Boden.
2) Bei den Anthropologen beginnt diese Erkenntnis durchzudringen, wie das
die Aufstellung des Begriffes Homo europaeus (siehe S. 359), in einem viel genaueren
Sinne als Linnaeus das Wort gebraucht hatte, beweist; doch ist eine derartige
Begriffsbestimmung viel zu abstrakt für den Historiker, der darum auch bisher
keine Notiz davon genommen hat. Um in weiten Kreisen Verständnis zu wecken,
muss man die vorhandene, allbekannte Terminologie benutzen und sie neuen
Bedürfnissen anpassen. Dies geschieht hier durch die Erweiterung der Vorstellung
Die Erben.
Erweiterung
des Begriffes.

Ich sagte, der Begriff »Germane« wäre weiter und dennoch zu-
gleich enger zu fassen, als es Tacitus that. Die Erweiterung ergiebt sich
sowohl aus historischen, wie auch aus anthropologischen Erwägungen,
die Verengerung ebenfalls.

Erweitert wird der Begriff durch die Einsicht, dass der »Germane«
des Tacitus sich physisch und geistig weder von seinem Vorläufer in
der Weltgeschichte, dem »Kelten«, noch von seinem Nachfolger, den
wir mit noch verwegenerer Kühnheit zu dem Begriff »Slave« zu-
sammenzufassen gewohnt sind, scharf scheiden lässt. Kein Natur-
forscher würde zögern, diese drei Rassen nach den physischen Merk-
malen als Spielarten eines gemeinsamen Stockes zu betrachten. Die
Gallier, die im Jahre 389 vor Chr. Rom eroberten, entsprechen nach
den Beschreibungen genau der Schilderung, die Tacitus von den Ger-
manen giebt: »strahlende blaue Augen, rötliches Haar, hohe Gestalt«;
und andrerseits haben die Schädelbefunde aus den Grabstätten der
ältesten heroischen Slavenzeiten zum Erstaunen der gesamten gelehrten
Welt gezeigt, dass die Slaven aus der Völkerwanderung ebenso aus-
gesprochene Dolichocephalen (d. h. Langköpfe) und ebenso hochge-
wachsene Männer waren wie die alten Germanen und wie die Ger-
manen echteren Stammes noch am heutigen Tage.1) Ausserdem haben
Virchow’s umfassende Untersuchungen über die Farbe des Haares und
der Augen zu dem Ergebnis geführt, dass die Slaven von Haus aus
ebenso blond waren (resp. in gewissen Gegenden noch sind) wie
die Germanen. Ganz abgesehen also von der nur theoretisch und
hypothetisch gewonnenen allgemeinen Vorstellung eines indoeuro-
päischen Menschen, scheint es, dass wir allen Grund haben, den Begriff
des Germanen, wie wir ihn von Tacitus überkommen haben und den
wir seither, in Folge rein sprachlicher Erwägungen, immer enger ge-
zogen haben, eher im Gegenteil bedeutend weiterzuziehen.2)

1) Vergl. als Zusammenfassung Ranke: Der Mensch, 2. Ausgabe II, 297.
Dass es sich etwa bei diesen Gräberfunden lediglich um normännische Waräger
handle, ist ausgeschlossen, da die Untersuchungen Material aus den verschiedensten
Fundorten umfassen, nicht allein auf russischem, sondern auch auf deutschem Boden.
2) Bei den Anthropologen beginnt diese Erkenntnis durchzudringen, wie das
die Aufstellung des Begriffes Homo europaeus (siehe S. 359), in einem viel genaueren
Sinne als Linnaeus das Wort gebraucht hatte, beweist; doch ist eine derartige
Begriffsbestimmung viel zu abstrakt für den Historiker, der darum auch bisher
keine Notiz davon genommen hat. Um in weiten Kreisen Verständnis zu wecken,
muss man die vorhandene, allbekannte Terminologie benutzen und sie neuen
Bedürfnissen anpassen. Dies geschieht hier durch die Erweiterung der Vorstellung
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[466/0489] Die Erben. Ich sagte, der Begriff »Germane« wäre weiter und dennoch zu- gleich enger zu fassen, als es Tacitus that. Die Erweiterung ergiebt sich sowohl aus historischen, wie auch aus anthropologischen Erwägungen, die Verengerung ebenfalls. Erweitert wird der Begriff durch die Einsicht, dass der »Germane« des Tacitus sich physisch und geistig weder von seinem Vorläufer in der Weltgeschichte, dem »Kelten«, noch von seinem Nachfolger, den wir mit noch verwegenerer Kühnheit zu dem Begriff »Slave« zu- sammenzufassen gewohnt sind, scharf scheiden lässt. Kein Natur- forscher würde zögern, diese drei Rassen nach den physischen Merk- malen als Spielarten eines gemeinsamen Stockes zu betrachten. Die Gallier, die im Jahre 389 vor Chr. Rom eroberten, entsprechen nach den Beschreibungen genau der Schilderung, die Tacitus von den Ger- manen giebt: »strahlende blaue Augen, rötliches Haar, hohe Gestalt«; und andrerseits haben die Schädelbefunde aus den Grabstätten der ältesten heroischen Slavenzeiten zum Erstaunen der gesamten gelehrten Welt gezeigt, dass die Slaven aus der Völkerwanderung ebenso aus- gesprochene Dolichocephalen (d. h. Langköpfe) und ebenso hochge- wachsene Männer waren wie die alten Germanen und wie die Ger- manen echteren Stammes noch am heutigen Tage. 1) Ausserdem haben Virchow’s umfassende Untersuchungen über die Farbe des Haares und der Augen zu dem Ergebnis geführt, dass die Slaven von Haus aus ebenso blond waren (resp. in gewissen Gegenden noch sind) wie die Germanen. Ganz abgesehen also von der nur theoretisch und hypothetisch gewonnenen allgemeinen Vorstellung eines indoeuro- päischen Menschen, scheint es, dass wir allen Grund haben, den Begriff des Germanen, wie wir ihn von Tacitus überkommen haben und den wir seither, in Folge rein sprachlicher Erwägungen, immer enger ge- zogen haben, eher im Gegenteil bedeutend weiterzuziehen. 2) 1) Vergl. als Zusammenfassung Ranke: Der Mensch, 2. Ausgabe II, 297. Dass es sich etwa bei diesen Gräberfunden lediglich um normännische Waräger handle, ist ausgeschlossen, da die Untersuchungen Material aus den verschiedensten Fundorten umfassen, nicht allein auf russischem, sondern auch auf deutschem Boden. 2) Bei den Anthropologen beginnt diese Erkenntnis durchzudringen, wie das die Aufstellung des Begriffes Homo europaeus (siehe S. 359), in einem viel genaueren Sinne als Linnaeus das Wort gebraucht hatte, beweist; doch ist eine derartige Begriffsbestimmung viel zu abstrakt für den Historiker, der darum auch bisher keine Notiz davon genommen hat. Um in weiten Kreisen Verständnis zu wecken, muss man die vorhandene, allbekannte Terminologie benutzen und sie neuen Bedürfnissen anpassen. Dies geschieht hier durch die Erweiterung der Vorstellung

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Zitationshilfe: Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 1. München 1899, S. 466. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen01_1899/489>, abgerufen am 22.11.2024.