Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 1. München 1899.

Bild:
<< vorherige Seite

Die Erben.
schliessen, dass die reiche Fülle poetischer Motive, welche alle auf
Untergang, auf Tod, auf ewige Trennung der Liebenden gehen, nicht
erst nach jener unglückseligen Schlacht, nicht erst unter dem ver-
dummenden Regiment des Mohammedanismus entstand, sondern ein
uraltes Erbstück ist, genau so wie der Nibelungen Not, "aller Leid
Ende", und nicht der Nibelungen Glück das deutsche Erbe war, und
genau so wie keltische und fränkische Dichter hundert berühmte
Sieger bei Seite liessen, um sich des obskuren besiegten Roland
zu bemächtigen und an ihm uralte poetische Momente in halbhistorischer
Verjüngung wieder aufleben zu lassen. Solche Dinge sind entscheidend.
Und ebenso entscheidend ist die besondere Art, wie das Weib bei
den Serben geschildert wird, so zart, mutig und keusch, auch die
hervorragend grosse Rolle, welche die Dichtungen ihr zuweisen. Hin-
gegen kann nur ein Fachgelehrter entscheiden, ob die beiden Raben,
die am Ende der Schlacht bei Kossovo auffliegen, um dem serbischen
Volk seinen Untergang zu künden, mit Wotan's Raben verwandt
sind, oder ob hier ein allgemeines indo-germanisches Motiv vorliegt,
ein Überbleibsel der Naturmythen, eine Entlehnung, ein Zufall. Und
so in Bezug au tausend Einzelheiten. Zum Glück liegt aber hier
wie überall das wirklich Entscheidende jedem unbefangenen Auge
offen. -- In der russischen Poesie findet man, wie es scheint, wenig
mehr aus alter Zeit, ausser Sagen, Märchen und Liedern; doch auch
hier zeigt die Melancholie einerseits und andrerseits das innige Ver-
hältnis zur Natur, namentlich zur Tierwelt (Bodenstedt: Poetische
Ukraine)
Züge, die unverkennbar germanische Eigenart bekunden.

Es ist nicht meine Absicht, diese Untersuchung noch weiter
auszudehnen, der Raum, sowie mein Zweck verbieten es; die Kritik
möge die Wahrheit dessen nachweisen, was untrügliches Gefühl jedem
poetisch Empfindenden offenbaren wird, das ist ihr Amt. Dagegen
muss ich jener zweiten Kundgebung innersten Seelenwesens noch er-
wähnen, durch welche das germanische Element im Slaven deutlich
hervortritt: ich meine die Religion.

Wohin wir blicken, sehen wir Ernst und Unabhängigkeit in
religiösen Dingen die Slaven auszeichnen, namentlich in alter Zeit.
Ein hervorstechender Zug dieser Religiosität ist ihr Durchdrungensein
von vaterländischen Gefühlen. Schon im 9. Jahrhundert, noch ehe
das Schisma zwischen Ost und West unwiderruflich geworden, sehen
wir die Bulgaren behufs dogmatischer Fragen mit Rom und mit
Konstantinopel gleich freundlich verkehren; was sie fordern, ist einzig

Die Erben.
schliessen, dass die reiche Fülle poetischer Motive, welche alle auf
Untergang, auf Tod, auf ewige Trennung der Liebenden gehen, nicht
erst nach jener unglückseligen Schlacht, nicht erst unter dem ver-
dummenden Regiment des Mohammedanismus entstand, sondern ein
uraltes Erbstück ist, genau so wie der Nibelungen Not, »aller Leid
Ende«, und nicht der Nibelungen Glück das deutsche Erbe war, und
genau so wie keltische und fränkische Dichter hundert berühmte
Sieger bei Seite liessen, um sich des obskuren besiegten Roland
zu bemächtigen und an ihm uralte poetische Momente in halbhistorischer
Verjüngung wieder aufleben zu lassen. Solche Dinge sind entscheidend.
Und ebenso entscheidend ist die besondere Art, wie das Weib bei
den Serben geschildert wird, so zart, mutig und keusch, auch die
hervorragend grosse Rolle, welche die Dichtungen ihr zuweisen. Hin-
gegen kann nur ein Fachgelehrter entscheiden, ob die beiden Raben,
die am Ende der Schlacht bei Kossovo auffliegen, um dem serbischen
Volk seinen Untergang zu künden, mit Wotan’s Raben verwandt
sind, oder ob hier ein allgemeines indo-germanisches Motiv vorliegt,
ein Überbleibsel der Naturmythen, eine Entlehnung, ein Zufall. Und
so in Bezug au tausend Einzelheiten. Zum Glück liegt aber hier
wie überall das wirklich Entscheidende jedem unbefangenen Auge
offen. — In der russischen Poesie findet man, wie es scheint, wenig
mehr aus alter Zeit, ausser Sagen, Märchen und Liedern; doch auch
hier zeigt die Melancholie einerseits und andrerseits das innige Ver-
hältnis zur Natur, namentlich zur Tierwelt (Bodenstedt: Poetische
Ukraine)
Züge, die unverkennbar germanische Eigenart bekunden.

Es ist nicht meine Absicht, diese Untersuchung noch weiter
auszudehnen, der Raum, sowie mein Zweck verbieten es; die Kritik
möge die Wahrheit dessen nachweisen, was untrügliches Gefühl jedem
poetisch Empfindenden offenbaren wird, das ist ihr Amt. Dagegen
muss ich jener zweiten Kundgebung innersten Seelenwesens noch er-
wähnen, durch welche das germanische Element im Slaven deutlich
hervortritt: ich meine die Religion.

Wohin wir blicken, sehen wir Ernst und Unabhängigkeit in
religiösen Dingen die Slaven auszeichnen, namentlich in alter Zeit.
Ein hervorstechender Zug dieser Religiosität ist ihr Durchdrungensein
von vaterländischen Gefühlen. Schon im 9. Jahrhundert, noch ehe
das Schisma zwischen Ost und West unwiderruflich geworden, sehen
wir die Bulgaren behufs dogmatischer Fragen mit Rom und mit
Konstantinopel gleich freundlich verkehren; was sie fordern, ist einzig

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0497" n="474"/><fw place="top" type="header">Die Erben.</fw><lb/>
schliessen, dass die reiche Fülle poetischer Motive, welche alle auf<lb/>
Untergang, auf Tod, auf ewige Trennung der Liebenden gehen, nicht<lb/>
erst nach jener unglückseligen Schlacht, nicht erst unter dem ver-<lb/>
dummenden Regiment des Mohammedanismus entstand, sondern ein<lb/>
uraltes Erbstück ist, genau so wie der Nibelungen <hi rendition="#g">Not,</hi> »aller Leid<lb/>
Ende«, und nicht der Nibelungen Glück das deutsche Erbe war, und<lb/>
genau so wie keltische und fränkische Dichter hundert berühmte<lb/>
Sieger bei Seite liessen, um sich des obskuren <hi rendition="#g">besiegten</hi> Roland<lb/>
zu bemächtigen und an ihm uralte poetische Momente in halbhistorischer<lb/>
Verjüngung wieder aufleben zu lassen. Solche Dinge sind entscheidend.<lb/>
Und ebenso entscheidend ist die besondere Art, wie das Weib bei<lb/>
den Serben geschildert wird, so zart, mutig und keusch, auch die<lb/>
hervorragend grosse Rolle, welche die Dichtungen ihr zuweisen. Hin-<lb/>
gegen kann nur ein Fachgelehrter entscheiden, ob die beiden Raben,<lb/>
die am Ende der Schlacht bei Kossovo auffliegen, um dem serbischen<lb/>
Volk seinen Untergang zu künden, mit Wotan&#x2019;s Raben verwandt<lb/>
sind, oder ob hier ein allgemeines indo-germanisches Motiv vorliegt,<lb/>
ein Überbleibsel der Naturmythen, eine Entlehnung, ein Zufall. Und<lb/>
so in Bezug au tausend Einzelheiten. Zum Glück liegt aber hier<lb/>
wie überall das wirklich Entscheidende jedem unbefangenen Auge<lb/>
offen. &#x2014; In der russischen Poesie findet man, wie es scheint, wenig<lb/>
mehr aus alter Zeit, ausser Sagen, Märchen und Liedern; doch auch<lb/>
hier zeigt die Melancholie einerseits und andrerseits das innige Ver-<lb/>
hältnis zur Natur, namentlich zur Tierwelt (Bodenstedt: <hi rendition="#i">Poetische<lb/>
Ukraine)</hi> Züge, die unverkennbar germanische Eigenart bekunden.</p><lb/>
            <p>Es ist nicht meine Absicht, diese Untersuchung noch weiter<lb/>
auszudehnen, der Raum, sowie mein Zweck verbieten es; die Kritik<lb/>
möge die Wahrheit dessen nachweisen, was untrügliches Gefühl jedem<lb/>
poetisch Empfindenden offenbaren wird, das ist ihr Amt. Dagegen<lb/>
muss ich jener zweiten Kundgebung innersten Seelenwesens noch er-<lb/>
wähnen, durch welche das germanische Element im Slaven deutlich<lb/>
hervortritt: ich meine die <hi rendition="#g">Religion.</hi></p><lb/>
            <p>Wohin wir blicken, sehen wir Ernst und Unabhängigkeit in<lb/>
religiösen Dingen die Slaven auszeichnen, namentlich in alter Zeit.<lb/>
Ein hervorstechender Zug dieser Religiosität ist ihr Durchdrungensein<lb/>
von vaterländischen Gefühlen. Schon im 9. Jahrhundert, noch ehe<lb/>
das Schisma zwischen Ost und West unwiderruflich geworden, sehen<lb/>
wir die Bulgaren behufs dogmatischer Fragen mit Rom und mit<lb/>
Konstantinopel gleich freundlich verkehren; was sie fordern, ist einzig<lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[474/0497] Die Erben. schliessen, dass die reiche Fülle poetischer Motive, welche alle auf Untergang, auf Tod, auf ewige Trennung der Liebenden gehen, nicht erst nach jener unglückseligen Schlacht, nicht erst unter dem ver- dummenden Regiment des Mohammedanismus entstand, sondern ein uraltes Erbstück ist, genau so wie der Nibelungen Not, »aller Leid Ende«, und nicht der Nibelungen Glück das deutsche Erbe war, und genau so wie keltische und fränkische Dichter hundert berühmte Sieger bei Seite liessen, um sich des obskuren besiegten Roland zu bemächtigen und an ihm uralte poetische Momente in halbhistorischer Verjüngung wieder aufleben zu lassen. Solche Dinge sind entscheidend. Und ebenso entscheidend ist die besondere Art, wie das Weib bei den Serben geschildert wird, so zart, mutig und keusch, auch die hervorragend grosse Rolle, welche die Dichtungen ihr zuweisen. Hin- gegen kann nur ein Fachgelehrter entscheiden, ob die beiden Raben, die am Ende der Schlacht bei Kossovo auffliegen, um dem serbischen Volk seinen Untergang zu künden, mit Wotan’s Raben verwandt sind, oder ob hier ein allgemeines indo-germanisches Motiv vorliegt, ein Überbleibsel der Naturmythen, eine Entlehnung, ein Zufall. Und so in Bezug au tausend Einzelheiten. Zum Glück liegt aber hier wie überall das wirklich Entscheidende jedem unbefangenen Auge offen. — In der russischen Poesie findet man, wie es scheint, wenig mehr aus alter Zeit, ausser Sagen, Märchen und Liedern; doch auch hier zeigt die Melancholie einerseits und andrerseits das innige Ver- hältnis zur Natur, namentlich zur Tierwelt (Bodenstedt: Poetische Ukraine) Züge, die unverkennbar germanische Eigenart bekunden. Es ist nicht meine Absicht, diese Untersuchung noch weiter auszudehnen, der Raum, sowie mein Zweck verbieten es; die Kritik möge die Wahrheit dessen nachweisen, was untrügliches Gefühl jedem poetisch Empfindenden offenbaren wird, das ist ihr Amt. Dagegen muss ich jener zweiten Kundgebung innersten Seelenwesens noch er- wähnen, durch welche das germanische Element im Slaven deutlich hervortritt: ich meine die Religion. Wohin wir blicken, sehen wir Ernst und Unabhängigkeit in religiösen Dingen die Slaven auszeichnen, namentlich in alter Zeit. Ein hervorstechender Zug dieser Religiosität ist ihr Durchdrungensein von vaterländischen Gefühlen. Schon im 9. Jahrhundert, noch ehe das Schisma zwischen Ost und West unwiderruflich geworden, sehen wir die Bulgaren behufs dogmatischer Fragen mit Rom und mit Konstantinopel gleich freundlich verkehren; was sie fordern, ist einzig

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen01_1899
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen01_1899/497
Zitationshilfe: Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 1. München 1899, S. 474. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen01_1899/497>, abgerufen am 22.11.2024.