Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 1. München 1899.Allgemeine Einleitung. weiten Bedeutung verstanden wissen will, welche nicht allein dieabstrakte Vernunftphilosophie, sondern die Naturphilosophie, die Religionsphilosophie und jedes andere zu der Höhe einer Weltanschauung sich erhebende Denken begriff. Soll das Wort Genie einen Sinn be- halten, so dürfen wir es nur auf Männer anwenden, die unser geistiges Besitztum durch schöpferische Erfindungen ihrer Phantasie dauernd be- reichert haben; dafür aber auf alle solche. Nicht allein die Ilias und der gefesselte Prometheus, nicht allein die Andacht zum Kreuze und Hamlet, auch Plato's Ideenwelt und Demokrit's Welt der Atome, Chandogya's tat-tvam-asi und das System des Himmels des Kopernikus sind Werke des unvergänglichen Genies; denn ebenso unzerstörbar wie Stoff und wie Kraft sind die Blitzstrahlen, welche aus dem Gehirn der mit Schöpferkraft begabten Männer hervorleuchten; die Generationen und die Völker spiegeln sie sich fortwährend gegenseitig zu, und, ver- blassen sie auch manchmal vorübergehend, von Neuem leuchten sie hell auf, sobald sie wieder auf ein schöpferisches Auge fallen. In unserem Jahrhundert hat man entdeckt, dass es in jenen Meerestiefen, zu denen das Sonnenlicht nicht dringt, Fische giebt, welche diese nächtige Welt auf elektrischem Wege erleuchten; ebenso wird die dunkle Nacht unserer menschlichen Erkenntnis durch die Fackel des Genies erhellt. Goethe zündete uns mit seinem Faust eine Fackel an, Kant eine andere mit seiner Vorstellung von der trans- cendentalen Idealität von Zeit und Raum: beide waren phantasie- mächtige Schöpfer, beide Genies. Der Schulstreit über den Königs- berger Denker, die Schlachten zwischen Kantianern und Antikantianern, dünken mich ebenso belangreich wie der Eifer der Faustkritiker: was sollen denn hier die logischen Tüfteleien? was bedeutet hier "Recht haben"? Selig diejenigen, welche Augen zum Sehen und Ohren zum Hören haben! Erfüllt uns das Studium des Gesteines, des Mooses, des mikroskopischen Infusoriums mit staunender Bewunderung, mit welcher Ehrfurcht müssen wir da nicht zu jenem höchsten Phänomen hinauf- blicken, welches die Natur uns darbietet, zum Genie! Noch eine prinzipiell nicht unwichtige Bemerkung muss ich hierVerall- Allgemeine Einleitung. weiten Bedeutung verstanden wissen will, welche nicht allein dieabstrakte Vernunftphilosophie, sondern die Naturphilosophie, die Religionsphilosophie und jedes andere zu der Höhe einer Weltanschauung sich erhebende Denken begriff. Soll das Wort Genie einen Sinn be- halten, so dürfen wir es nur auf Männer anwenden, die unser geistiges Besitztum durch schöpferische Erfindungen ihrer Phantasie dauernd be- reichert haben; dafür aber auf alle solche. Nicht allein die Ilias und der gefesselte Prometheus, nicht allein die Andacht zum Kreuze und Hamlet, auch Plato’s Ideenwelt und Demokrit’s Welt der Atome, Chandogya’s tat-tvam-asi und das System des Himmels des Kopernikus sind Werke des unvergänglichen Genies; denn ebenso unzerstörbar wie Stoff und wie Kraft sind die Blitzstrahlen, welche aus dem Gehirn der mit Schöpferkraft begabten Männer hervorleuchten; die Generationen und die Völker spiegeln sie sich fortwährend gegenseitig zu, und, ver- blassen sie auch manchmal vorübergehend, von Neuem leuchten sie hell auf, sobald sie wieder auf ein schöpferisches Auge fallen. In unserem Jahrhundert hat man entdeckt, dass es in jenen Meerestiefen, zu denen das Sonnenlicht nicht dringt, Fische giebt, welche diese nächtige Welt auf elektrischem Wege erleuchten; ebenso wird die dunkle Nacht unserer menschlichen Erkenntnis durch die Fackel des Genies erhellt. Goethe zündete uns mit seinem Faust eine Fackel an, Kant eine andere mit seiner Vorstellung von der trans- cendentalen Idealität von Zeit und Raum: beide waren phantasie- mächtige Schöpfer, beide Genies. Der Schulstreit über den Königs- berger Denker, die Schlachten zwischen Kantianern und Antikantianern, dünken mich ebenso belangreich wie der Eifer der Faustkritiker: was sollen denn hier die logischen Tüfteleien? was bedeutet hier »Recht haben«? Selig diejenigen, welche Augen zum Sehen und Ohren zum Hören haben! Erfüllt uns das Studium des Gesteines, des Mooses, des mikroskopischen Infusoriums mit staunender Bewunderung, mit welcher Ehrfurcht müssen wir da nicht zu jenem höchsten Phänomen hinauf- blicken, welches die Natur uns darbietet, zum Genie! 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Allgemeine Einleitung.
weiten Bedeutung verstanden wissen will, welche nicht allein die
abstrakte Vernunftphilosophie, sondern die Naturphilosophie, die
Religionsphilosophie und jedes andere zu der Höhe einer Weltanschauung
sich erhebende Denken begriff. Soll das Wort Genie einen Sinn be-
halten, so dürfen wir es nur auf Männer anwenden, die unser geistiges
Besitztum durch schöpferische Erfindungen ihrer Phantasie dauernd be-
reichert haben; dafür aber auf alle solche. Nicht allein die Ilias und
der gefesselte Prometheus, nicht allein die Andacht zum Kreuze und
Hamlet, auch Plato’s Ideenwelt und Demokrit’s Welt der Atome,
Chandogya’s tat-tvam-asi und das System des Himmels des Kopernikus
sind Werke des unvergänglichen Genies; denn ebenso unzerstörbar wie
Stoff und wie Kraft sind die Blitzstrahlen, welche aus dem Gehirn der
mit Schöpferkraft begabten Männer hervorleuchten; die Generationen
und die Völker spiegeln sie sich fortwährend gegenseitig zu, und, ver-
blassen sie auch manchmal vorübergehend, von Neuem leuchten sie
hell auf, sobald sie wieder auf ein schöpferisches Auge fallen. In
unserem Jahrhundert hat man entdeckt, dass es in jenen Meerestiefen,
zu denen das Sonnenlicht nicht dringt, Fische giebt, welche diese
nächtige Welt auf elektrischem Wege erleuchten; ebenso wird die
dunkle Nacht unserer menschlichen Erkenntnis durch die Fackel
des Genies erhellt. Goethe zündete uns mit seinem Faust eine
Fackel an, Kant eine andere mit seiner Vorstellung von der trans-
cendentalen Idealität von Zeit und Raum: beide waren phantasie-
mächtige Schöpfer, beide Genies. Der Schulstreit über den Königs-
berger Denker, die Schlachten zwischen Kantianern und Antikantianern,
dünken mich ebenso belangreich wie der Eifer der Faustkritiker: was
sollen denn hier die logischen Tüfteleien? was bedeutet hier »Recht
haben«? Selig diejenigen, welche Augen zum Sehen und Ohren zum
Hören haben! Erfüllt uns das Studium des Gesteines, des Mooses, des
mikroskopischen Infusoriums mit staunender Bewunderung, mit welcher
Ehrfurcht müssen wir da nicht zu jenem höchsten Phänomen hinauf-
blicken, welches die Natur uns darbietet, zum Genie!
Noch eine prinzipiell nicht unwichtige Bemerkung muss ich hier
anknüpfen. Sollen uns auch die allgemeinen Tendenzen, nicht die Er-
eignisse und die Personen vorzüglich beschäftigen, so darf dabei die
Gefahr zu weit gehender Verallgemeinerungen nicht aus dem Auge
verloren werden. Zu einem voreiligen Summieren sind wir nur allzu
geneigt. Das zeigt sich in der Art und Weise, wie man unserem
Jahrhundert eine Etikette um den Hals zu hängen pflegt, wogegen es
Verall-
gemeinerungen.
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