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Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 1. München 1899.

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Die Erben.
dieses Punktes vorzügliche Dienste leisten wird. -- Herr Paul Leroy-
Beaulieu, weit und breit als Ökonomiker, Soziolog, Mitarbeiter der
Revue des Deux Mondes etc. bekannt, schrieb vor einigen Jahren
ein Buch, betitelt Israel chez les nations, in welchem er -- ich glaube
durch falsch verstandene Humanität dazu verleitet -- den Juden die
Schmach anthat, zu behaupten, sie existierten gar nicht; sie hätten
sich so früh, so unaufhörlich, so massenhaft mit allerhand Volk ver-
mischt, dass ihre angebliche Nation jetzt nur noch eine Ollapodrida
aller Menschengattungen sei. Ob Leroy-Beaulieu dies selber ernstlich
glaubt, weiss ich nicht, denn er hatte vor Allem die Bekehrung
blutdürstiger Antisemiten im Auge und wähnte offenbar, unser musi-
kalisches, in Potpourris verliebtes Jahrhundert durch seine Schilderung
zu bezaubern. Jedenfalls wurde er viel gelesen und viel citiert; die
Meisten lasen ihn aber nur bis dahin, wo er dargethan hat, es gäbe
keine Juden; eine weitere Bemühung hielten sie natürlich für über-
flüssig. Schade, denn im folgenden Kapitel hätten sie eine reizende
Anekdote gefunden, die Leroy-Beaulieu als unlösbares Problem zum
Besten giebt:1) wie nämlich seine Enkelin, eine junge Dame im vierten
Lebensjahr, die also gewiss von Rassen und Religion nichts weiss,
stets und ausnahmslos jämmerlich zu heulen anhebt, sobald im Jardin
du Luxembourg
ein Jude oder eine Jüdin in ihre Nähe kommt; und
zwar sollen die gepflogenen Erhebungen zu der Überzeugung geführt
haben, dass dieses an Erfahrung noch so bettelarme kleine Wesen
sich nie täuscht! Herr Leroy-Beaulieu, der berühmte Gelehrte, weiss
nicht einen Juden von einem Nichtjuden zu unterscheiden; das Kind,
das kaum erst sprechen kann, weiss es. Ist das nicht eine trost-
reiche Erfahrung? Mich dünkt, sie wiegt einen ganzen anthropo-
logischen Kongress, oder zum mindesten einen ganzen Vortrag des
Herrn Professor Kollmann auf. Es giebt doch noch etwas auf der
Welt ausser Kompass und Metermass. Wo der Gelehrte mit seinen
künstlichen Konstruktionen versagt, kann ein einziger unbefangener
Blick die Wahrheit wie ein Sonnenstrahl aufhellen.

Und was kein Verstand der Verständigen sieht,
Das übet in Einfalt ein kindlich Gemüt.
1) In dem aus Artikeln der Revue des Deux Mondes zusammengesetzten Buche
ist es mir nicht gelungen, die Anekdote wiederzufinden; vielleicht hat sie der
Autor inzwischen unterdrückt.

Die Erben.
dieses Punktes vorzügliche Dienste leisten wird. — Herr Paul Leroy-
Beaulieu, weit und breit als Ökonomiker, Soziolog, Mitarbeiter der
Revue des Deux Mondes etc. bekannt, schrieb vor einigen Jahren
ein Buch, betitelt Israël chez les nations, in welchem er — ich glaube
durch falsch verstandene Humanität dazu verleitet — den Juden die
Schmach anthat, zu behaupten, sie existierten gar nicht; sie hätten
sich so früh, so unaufhörlich, so massenhaft mit allerhand Volk ver-
mischt, dass ihre angebliche Nation jetzt nur noch eine Ollapodrida
aller Menschengattungen sei. Ob Leroy-Beaulieu dies selber ernstlich
glaubt, weiss ich nicht, denn er hatte vor Allem die Bekehrung
blutdürstiger Antisemiten im Auge und wähnte offenbar, unser musi-
kalisches, in Potpourris verliebtes Jahrhundert durch seine Schilderung
zu bezaubern. Jedenfalls wurde er viel gelesen und viel citiert; die
Meisten lasen ihn aber nur bis dahin, wo er dargethan hat, es gäbe
keine Juden; eine weitere Bemühung hielten sie natürlich für über-
flüssig. Schade, denn im folgenden Kapitel hätten sie eine reizende
Anekdote gefunden, die Leroy-Beaulieu als unlösbares Problem zum
Besten giebt:1) wie nämlich seine Enkelin, eine junge Dame im vierten
Lebensjahr, die also gewiss von Rassen und Religion nichts weiss,
stets und ausnahmslos jämmerlich zu heulen anhebt, sobald im Jardin
du Luxembourg
ein Jude oder eine Jüdin in ihre Nähe kommt; und
zwar sollen die gepflogenen Erhebungen zu der Überzeugung geführt
haben, dass dieses an Erfahrung noch so bettelarme kleine Wesen
sich nie täuscht! Herr Leroy-Beaulieu, der berühmte Gelehrte, weiss
nicht einen Juden von einem Nichtjuden zu unterscheiden; das Kind,
das kaum erst sprechen kann, weiss es. Ist das nicht eine trost-
reiche Erfahrung? Mich dünkt, sie wiegt einen ganzen anthropo-
logischen Kongress, oder zum mindesten einen ganzen Vortrag des
Herrn Professor Kollmann auf. Es giebt doch noch etwas auf der
Welt ausser Kompass und Metermass. Wo der Gelehrte mit seinen
künstlichen Konstruktionen versagt, kann ein einziger unbefangener
Blick die Wahrheit wie ein Sonnenstrahl aufhellen.

Und was kein Verstand der Verständigen sieht,
Das übet in Einfalt ein kindlich Gemüt.
1) In dem aus Artikeln der Revue des Deux Mondes zusammengesetzten Buche
ist es mir nicht gelungen, die Anekdote wiederzufinden; vielleicht hat sie der
Autor inzwischen unterdrückt.
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[498/0521] Die Erben. dieses Punktes vorzügliche Dienste leisten wird. — Herr Paul Leroy- Beaulieu, weit und breit als Ökonomiker, Soziolog, Mitarbeiter der Revue des Deux Mondes etc. bekannt, schrieb vor einigen Jahren ein Buch, betitelt Israël chez les nations, in welchem er — ich glaube durch falsch verstandene Humanität dazu verleitet — den Juden die Schmach anthat, zu behaupten, sie existierten gar nicht; sie hätten sich so früh, so unaufhörlich, so massenhaft mit allerhand Volk ver- mischt, dass ihre angebliche Nation jetzt nur noch eine Ollapodrida aller Menschengattungen sei. Ob Leroy-Beaulieu dies selber ernstlich glaubt, weiss ich nicht, denn er hatte vor Allem die Bekehrung blutdürstiger Antisemiten im Auge und wähnte offenbar, unser musi- kalisches, in Potpourris verliebtes Jahrhundert durch seine Schilderung zu bezaubern. Jedenfalls wurde er viel gelesen und viel citiert; die Meisten lasen ihn aber nur bis dahin, wo er dargethan hat, es gäbe keine Juden; eine weitere Bemühung hielten sie natürlich für über- flüssig. Schade, denn im folgenden Kapitel hätten sie eine reizende Anekdote gefunden, die Leroy-Beaulieu als unlösbares Problem zum Besten giebt: 1) wie nämlich seine Enkelin, eine junge Dame im vierten Lebensjahr, die also gewiss von Rassen und Religion nichts weiss, stets und ausnahmslos jämmerlich zu heulen anhebt, sobald im Jardin du Luxembourg ein Jude oder eine Jüdin in ihre Nähe kommt; und zwar sollen die gepflogenen Erhebungen zu der Überzeugung geführt haben, dass dieses an Erfahrung noch so bettelarme kleine Wesen sich nie täuscht! Herr Leroy-Beaulieu, der berühmte Gelehrte, weiss nicht einen Juden von einem Nichtjuden zu unterscheiden; das Kind, das kaum erst sprechen kann, weiss es. Ist das nicht eine trost- reiche Erfahrung? Mich dünkt, sie wiegt einen ganzen anthropo- logischen Kongress, oder zum mindesten einen ganzen Vortrag des Herrn Professor Kollmann auf. Es giebt doch noch etwas auf der Welt ausser Kompass und Metermass. Wo der Gelehrte mit seinen künstlichen Konstruktionen versagt, kann ein einziger unbefangener Blick die Wahrheit wie ein Sonnenstrahl aufhellen. Und was kein Verstand der Verständigen sieht, Das übet in Einfalt ein kindlich Gemüt. 1) In dem aus Artikeln der Revue des Deux Mondes zusammengesetzten Buche ist es mir nicht gelungen, die Anekdote wiederzufinden; vielleicht hat sie der Autor inzwischen unterdrückt.

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Zitationshilfe: Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 1. München 1899, S. 498. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen01_1899/521>, abgerufen am 24.11.2024.