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Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 1. München 1899.

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Die Erben.
die Germanen an Treue!"1) Über diesen grossen grundlegenden
Charakterzug der Treue in seiner geschichtlichen Bedeutung hat Karl
Lamprecht so schöne Worte geschrieben, dass ich mir einen Vorwurf
daraus machen müsste, wollte ich sie hier nicht abschreiben. Er hat
soeben von dem "Gefolge" gesprochen, welches in dem altdeutschen
Staate seinem Häuptling Treue bis in den Tod schuldete und bewährte,
und fährt dann fort: "Es ist einer der grossartigsten Züge spezifisch
germanischer Lebensauffassung,
welcher in der Bildung dieser
Gefolge mitspricht, der Zug der Treue. Unverstanden dem Römer,
unerlässlich dem Germanen, bestand es schon damals, jenes ewig
wiederkehrende deutsche Bedürfnis engster persönlicher Aneinander-
kettung, vollen Aufgehens ineinander, gänzlichen Austausches aller
Strebungen und Schicksale: das Bedürfnis der Treue. Die Treue war
unseren Altvordern nie eine besondere Tugend, sie war der Lebens-
odem alles Guten und Grossen: auf ihr beruhte der Lehensstaat des
früheren, auf ihr das Genossenschaftswesen des späteren Mittelalters,
und wer wollte sich die militärische Monarchie der Gegenwart denken
ohne Treue? -- -- -- Man sang nicht bloss von der Treue, man
lebte in ihr. Das Gefolge der Frankenkönige, die Hofgesellschaft der
grossen Karlinge, die staatsmännische und kriegerische Umgebung
unserer mittelalterlichen Kaiser, das Personal der Zentralverwaltungen
unserer Fürsten seit dem 14. und 15. Jahrhundert sind nichts als
Umformungen des alten germanischen Gedankens. Denn darin beruhte
die wundersame Lebenskraft der Einrichtung, dass sie nicht in wandel-
bare politische oder auch moralische Grundlagen ihre Wurzeln senkte,
sondern in dem Urgrund wurzelte germanischen Wesens selbst, in
dem Bedürfnis der Treue".2)

Lamprecht hat, glaube ich, an dieser Stelle, so wahr und schön
auch Alles ist, was er sagt, den "Urgrund" doch nicht vollkommen
aufgedeckt. Die Treue, wenngleich sie einen unterscheidenden Zug
den Mestizenvölkern gegenüber bildet, ist nicht ohne weiteres ein
spezifisch germanischer Zug. Treue findet man bei fast allen rein-
gezüchteten Rassen, nirgends mehr z. B. als bei Negern, und -- ich
frage es -- welcher Mensch vermöchte in der Bewährung der Treue
Höheres zu leisten als der edle Hund? Nein, um jenen "Urgrund
germanischen Wesens" aufzudecken, muss man zeigen, welcher Art

1) Tacitus: Annalen, XIII, 54.
2) Deutsche Geschichte, 2. Auflage, I, 136.

Die Erben.
die Germanen an Treue!«1) Über diesen grossen grundlegenden
Charakterzug der Treue in seiner geschichtlichen Bedeutung hat Karl
Lamprecht so schöne Worte geschrieben, dass ich mir einen Vorwurf
daraus machen müsste, wollte ich sie hier nicht abschreiben. Er hat
soeben von dem »Gefolge« gesprochen, welches in dem altdeutschen
Staate seinem Häuptling Treue bis in den Tod schuldete und bewährte,
und fährt dann fort: »Es ist einer der grossartigsten Züge spezifisch
germanischer Lebensauffassung,
welcher in der Bildung dieser
Gefolge mitspricht, der Zug der Treue. Unverstanden dem Römer,
unerlässlich dem Germanen, bestand es schon damals, jenes ewig
wiederkehrende deutsche Bedürfnis engster persönlicher Aneinander-
kettung, vollen Aufgehens ineinander, gänzlichen Austausches aller
Strebungen und Schicksale: das Bedürfnis der Treue. Die Treue war
unseren Altvordern nie eine besondere Tugend, sie war der Lebens-
odem alles Guten und Grossen: auf ihr beruhte der Lehensstaat des
früheren, auf ihr das Genossenschaftswesen des späteren Mittelalters,
und wer wollte sich die militärische Monarchie der Gegenwart denken
ohne Treue? — — — Man sang nicht bloss von der Treue, man
lebte in ihr. Das Gefolge der Frankenkönige, die Hofgesellschaft der
grossen Karlinge, die staatsmännische und kriegerische Umgebung
unserer mittelalterlichen Kaiser, das Personal der Zentralverwaltungen
unserer Fürsten seit dem 14. und 15. Jahrhundert sind nichts als
Umformungen des alten germanischen Gedankens. Denn darin beruhte
die wundersame Lebenskraft der Einrichtung, dass sie nicht in wandel-
bare politische oder auch moralische Grundlagen ihre Wurzeln senkte,
sondern in dem Urgrund wurzelte germanischen Wesens selbst, in
dem Bedürfnis der Treue«.2)

Lamprecht hat, glaube ich, an dieser Stelle, so wahr und schön
auch Alles ist, was er sagt, den »Urgrund« doch nicht vollkommen
aufgedeckt. Die Treue, wenngleich sie einen unterscheidenden Zug
den Mestizenvölkern gegenüber bildet, ist nicht ohne weiteres ein
spezifisch germanischer Zug. Treue findet man bei fast allen rein-
gezüchteten Rassen, nirgends mehr z. B. als bei Negern, und — ich
frage es — welcher Mensch vermöchte in der Bewährung der Treue
Höheres zu leisten als der edle Hund? Nein, um jenen »Urgrund
germanischen Wesens« aufzudecken, muss man zeigen, welcher Art

1) Tacitus: Annalen, XIII, 54.
2) Deutsche Geschichte, 2. Auflage, I, 136.
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[506/0529] Die Erben. die Germanen an Treue!« 1) Über diesen grossen grundlegenden Charakterzug der Treue in seiner geschichtlichen Bedeutung hat Karl Lamprecht so schöne Worte geschrieben, dass ich mir einen Vorwurf daraus machen müsste, wollte ich sie hier nicht abschreiben. Er hat soeben von dem »Gefolge« gesprochen, welches in dem altdeutschen Staate seinem Häuptling Treue bis in den Tod schuldete und bewährte, und fährt dann fort: »Es ist einer der grossartigsten Züge spezifisch germanischer Lebensauffassung, welcher in der Bildung dieser Gefolge mitspricht, der Zug der Treue. Unverstanden dem Römer, unerlässlich dem Germanen, bestand es schon damals, jenes ewig wiederkehrende deutsche Bedürfnis engster persönlicher Aneinander- kettung, vollen Aufgehens ineinander, gänzlichen Austausches aller Strebungen und Schicksale: das Bedürfnis der Treue. Die Treue war unseren Altvordern nie eine besondere Tugend, sie war der Lebens- odem alles Guten und Grossen: auf ihr beruhte der Lehensstaat des früheren, auf ihr das Genossenschaftswesen des späteren Mittelalters, und wer wollte sich die militärische Monarchie der Gegenwart denken ohne Treue? — — — Man sang nicht bloss von der Treue, man lebte in ihr. Das Gefolge der Frankenkönige, die Hofgesellschaft der grossen Karlinge, die staatsmännische und kriegerische Umgebung unserer mittelalterlichen Kaiser, das Personal der Zentralverwaltungen unserer Fürsten seit dem 14. und 15. Jahrhundert sind nichts als Umformungen des alten germanischen Gedankens. Denn darin beruhte die wundersame Lebenskraft der Einrichtung, dass sie nicht in wandel- bare politische oder auch moralische Grundlagen ihre Wurzeln senkte, sondern in dem Urgrund wurzelte germanischen Wesens selbst, in dem Bedürfnis der Treue«. 2) Lamprecht hat, glaube ich, an dieser Stelle, so wahr und schön auch Alles ist, was er sagt, den »Urgrund« doch nicht vollkommen aufgedeckt. Die Treue, wenngleich sie einen unterscheidenden Zug den Mestizenvölkern gegenüber bildet, ist nicht ohne weiteres ein spezifisch germanischer Zug. Treue findet man bei fast allen rein- gezüchteten Rassen, nirgends mehr z. B. als bei Negern, und — ich frage es — welcher Mensch vermöchte in der Bewährung der Treue Höheres zu leisten als der edle Hund? Nein, um jenen »Urgrund germanischen Wesens« aufzudecken, muss man zeigen, welcher Art 1) Tacitus: Annalen, XIII, 54. 2) Deutsche Geschichte, 2. Auflage, I, 136.

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Zitationshilfe: Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 1. München 1899, S. 506. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen01_1899/529>, abgerufen am 24.11.2024.