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Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 1. München 1899.

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Hellenische Kunst und Philosophie.
nicht erschöpft. Denn die "Schönheit" (jene frei umgeschaffene,
neue Welt) ist nicht allein ein Gegenstand; in ihr spiegelt sich viel-
mehr auch "ein Zustand unseres Subjekts" wieder: "Die Schönheit
ist zwar Form, weil wir sie betrachten; zugleich aber ist sie Leben,
weil wir sie fühlen. Mit einem Wort: sie ist zugleich unser Zustand
und unsere That".1) Künstlerisch zu empfinden, künstlerisch zu
denken bezeichnet also einen besonderen Zustand des Menschen
überhaupt; es ist eine Stimmung, oder vielmehr eine Gesinnung -- --
noch besser vielleicht ein latenter Kraftvorrat, der sich im Leben des
einzelnen Menschen wie auch im Leben eines ganzen Volkes überall,
auch dort, wo Kunst und Wissenschaft und Philosophie nicht un-
mittelbar beteiligt sind, "befreiend", "umschaffend", "reinigend"
bethätigen muss. Oder auch, um uns dieses Verhältnis von einer
anderen Seite aus vorzuführen, können wir -- und zwar wiederum
mit Schiller2) -- sagen: "Aus einem glücklichen Instrumente wurde
der Mensch ein unglücklicher Künstler". Das ist jene Tragik, von
der ich in den einleitenden Worten sprach.

Man wird, glaube ich, zugeben müssen, dass diese deutsche
Auffassung des "Menschwerdens" tiefer geht, dass sie mehr umfasst
und ein helleres Licht auf die zu erstrebende Zukunft der Mensch-
heit wirft, als jede engwissenschaftliche oder rein utilitaristische.
Wie dem auch sei, Eines ist sicher: ob einer solchen Auffassung
unbedingte Gültigkeit zukomme, oder nur bedingte, für eine Be-
trachtung der hellenischen Welt und die sichere Aufdeckung ihres
Lebensprinzips, thut sie unvergleichliche Dienste; denn, mag sie auch
in dieser bewussten Formulierung eine charakteristisch-deutsche Auf-
fassung sein, im letzten Grunde führt sie auf hellenische Kunst und
auf hellenische Philosophie (welche die Naturwissenschaft umschloss)
zurück, sie bezeugt, dass das Hellenentum nicht allein äusserlich und
geschichtlich, sondern auch innerlich und Zukunft gestaltend in unserem
Jahrhundert noch weiter lebte.3)

1) Vergl. Ästhetische Erziehung, Bf. 3, 25, 26. Näheres hier, Kap. 9, Abschn. 7.
2) Vergl. Etwas über die erste Menschengesellschaft, Abschnitt 1.
3) Um Missverständnissen vorzubeugen, will ich erwähnen, dass ich hier
am Anfang meines Buches mich des einfacheren Verständnisses halber ohne
weitere Kritik an Schiller angeschlossen habe; erst im Schlusskapitel kann ich
meine Anschauung begründen, dass bei uns Germanen, im Unterschied von den
Hellenen, der Angelpunkt des "Menschwerdens" nicht in der Kunst, sondern in
der Religion zu suchen ist -- was aber Schiller's Auffassung von Kunst gegen-
über nicht eine Abweichung, sondern nur eine Schattierung bedeutet.

Hellenische Kunst und Philosophie.
nicht erschöpft. Denn die »Schönheit« (jene frei umgeschaffene,
neue Welt) ist nicht allein ein Gegenstand; in ihr spiegelt sich viel-
mehr auch »ein Zustand unseres Subjekts« wieder: »Die Schönheit
ist zwar Form, weil wir sie betrachten; zugleich aber ist sie Leben,
weil wir sie fühlen. Mit einem Wort: sie ist zugleich unser Zustand
und unsere That«.1) Künstlerisch zu empfinden, künstlerisch zu
denken bezeichnet also einen besonderen Zustand des Menschen
überhaupt; es ist eine Stimmung, oder vielmehr eine Gesinnung — —
noch besser vielleicht ein latenter Kraftvorrat, der sich im Leben des
einzelnen Menschen wie auch im Leben eines ganzen Volkes überall,
auch dort, wo Kunst und Wissenschaft und Philosophie nicht un-
mittelbar beteiligt sind, »befreiend«, »umschaffend«, »reinigend«
bethätigen muss. Oder auch, um uns dieses Verhältnis von einer
anderen Seite aus vorzuführen, können wir — und zwar wiederum
mit Schiller2) — sagen: »Aus einem glücklichen Instrumente wurde
der Mensch ein unglücklicher Künstler«. Das ist jene Tragik, von
der ich in den einleitenden Worten sprach.

Man wird, glaube ich, zugeben müssen, dass diese deutsche
Auffassung des »Menschwerdens« tiefer geht, dass sie mehr umfasst
und ein helleres Licht auf die zu erstrebende Zukunft der Mensch-
heit wirft, als jede engwissenschaftliche oder rein utilitaristische.
Wie dem auch sei, Eines ist sicher: ob einer solchen Auffassung
unbedingte Gültigkeit zukomme, oder nur bedingte, für eine Be-
trachtung der hellenischen Welt und die sichere Aufdeckung ihres
Lebensprinzips, thut sie unvergleichliche Dienste; denn, mag sie auch
in dieser bewussten Formulierung eine charakteristisch-deutsche Auf-
fassung sein, im letzten Grunde führt sie auf hellenische Kunst und
auf hellenische Philosophie (welche die Naturwissenschaft umschloss)
zurück, sie bezeugt, dass das Hellenentum nicht allein äusserlich und
geschichtlich, sondern auch innerlich und Zukunft gestaltend in unserem
Jahrhundert noch weiter lebte.3)

1) Vergl. Ästhetische Erziehung, Bf. 3, 25, 26. Näheres hier, Kap. 9, Abschn. 7.
2) Vergl. Etwas über die erste Menschengesellschaft, Abschnitt 1.
3) Um Missverständnissen vorzubeugen, will ich erwähnen, dass ich hier
am Anfang meines Buches mich des einfacheren Verständnisses halber ohne
weitere Kritik an Schiller angeschlossen habe; erst im Schlusskapitel kann ich
meine Anschauung begründen, dass bei uns Germanen, im Unterschied von den
Hellenen, der Angelpunkt des »Menschwerdens« nicht in der Kunst, sondern in
der Religion zu suchen ist — was aber Schiller’s Auffassung von Kunst gegen-
über nicht eine Abweichung, sondern nur eine Schattierung bedeutet.
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[55/0078] Hellenische Kunst und Philosophie. nicht erschöpft. Denn die »Schönheit« (jene frei umgeschaffene, neue Welt) ist nicht allein ein Gegenstand; in ihr spiegelt sich viel- mehr auch »ein Zustand unseres Subjekts« wieder: »Die Schönheit ist zwar Form, weil wir sie betrachten; zugleich aber ist sie Leben, weil wir sie fühlen. Mit einem Wort: sie ist zugleich unser Zustand und unsere That«. 1) Künstlerisch zu empfinden, künstlerisch zu denken bezeichnet also einen besonderen Zustand des Menschen überhaupt; es ist eine Stimmung, oder vielmehr eine Gesinnung — — noch besser vielleicht ein latenter Kraftvorrat, der sich im Leben des einzelnen Menschen wie auch im Leben eines ganzen Volkes überall, auch dort, wo Kunst und Wissenschaft und Philosophie nicht un- mittelbar beteiligt sind, »befreiend«, »umschaffend«, »reinigend« bethätigen muss. Oder auch, um uns dieses Verhältnis von einer anderen Seite aus vorzuführen, können wir — und zwar wiederum mit Schiller 2) — sagen: »Aus einem glücklichen Instrumente wurde der Mensch ein unglücklicher Künstler«. Das ist jene Tragik, von der ich in den einleitenden Worten sprach. Man wird, glaube ich, zugeben müssen, dass diese deutsche Auffassung des »Menschwerdens« tiefer geht, dass sie mehr umfasst und ein helleres Licht auf die zu erstrebende Zukunft der Mensch- heit wirft, als jede engwissenschaftliche oder rein utilitaristische. Wie dem auch sei, Eines ist sicher: ob einer solchen Auffassung unbedingte Gültigkeit zukomme, oder nur bedingte, für eine Be- trachtung der hellenischen Welt und die sichere Aufdeckung ihres Lebensprinzips, thut sie unvergleichliche Dienste; denn, mag sie auch in dieser bewussten Formulierung eine charakteristisch-deutsche Auf- fassung sein, im letzten Grunde führt sie auf hellenische Kunst und auf hellenische Philosophie (welche die Naturwissenschaft umschloss) zurück, sie bezeugt, dass das Hellenentum nicht allein äusserlich und geschichtlich, sondern auch innerlich und Zukunft gestaltend in unserem Jahrhundert noch weiter lebte. 3) 1) Vergl. Ästhetische Erziehung, Bf. 3, 25, 26. Näheres hier, Kap. 9, Abschn. 7. 2) Vergl. Etwas über die erste Menschengesellschaft, Abschnitt 1. 3) Um Missverständnissen vorzubeugen, will ich erwähnen, dass ich hier am Anfang meines Buches mich des einfacheren Verständnisses halber ohne weitere Kritik an Schiller angeschlossen habe; erst im Schlusskapitel kann ich meine Anschauung begründen, dass bei uns Germanen, im Unterschied von den Hellenen, der Angelpunkt des »Menschwerdens« nicht in der Kunst, sondern in der Religion zu suchen ist — was aber Schiller’s Auffassung von Kunst gegen- über nicht eine Abweichung, sondern nur eine Schattierung bedeutet.

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Zitationshilfe: Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 1. München 1899, S. 55. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen01_1899/78>, abgerufen am 24.11.2024.