Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 1. München 1899.

Bild:
<< vorherige Seite

Hellenische Kunst und Philosophie.
man das staatliche Leben der Ameisen zum Beispiel und sieht man,
durch welche kühne Raffinements die praktische Bewährung des ge-
sellschaftlichen Getriebes und das fehlerlose Ineinandergreifen aller
Teile bei ihnen bewirkt wird -- als Beispiel will ich einzig die Ab-
schaffung des unheilschwangeren Geschlechtstriebes bei einem grossen
Prozentsatz der Bevölkerung nennen, und zwar nicht durch Ver-
stümmelung, wie bei unserem elenden Notbehelf der Kastrierung,
sondern durch kluge Manipulation der befruchteten Keime, -- so
muss man gestehen, der staatliche Instinkt steht bei uns auf keiner
hohen Stufe; im Verhältnis zu manchen Tiergattungen sind wir
politische Pfuscher.1) Selbst in der besonderen Bethätigung der Ver-
nunft kann man wohl ein eigenartiges spezifisches Merkmal des
Menschen, kaum aber ein prinzipiell neues Naturphänomen erkennen.
Der Mensch im Naturzustand benützt seine überlegene Vernunft genau
so wie der Hirsch seine Schnellfüssigkeit, der Tiger seine Kraft, der
Elefant seine Schwere: sie ist ihm die vorzüglichste Waffe im Kampf
ums Dasein, sie ersetzt ihm Behendigkeit, Körpergrösse und so manches
andere, was ihm fehlt. Die Zeiten sind vorbei, wo man den Tieren
Vernunft abzusprechen sich erdreistete; nicht allein zeigen Affe, Hund
und alle höheren Tiere bewusste Überlegung und treffsicheres Urteil,
sondern dasselbe ist bei Insekten experimental nachgewiesen worden:
eine Bienenkolonie z. B. in ungewohnte, noch nie dagewesene Ver-
hältnisse versetzt, trifft neue Vorkehrungen, versucht dieses und jenes,
bis sie das Richtige gefunden hat.2) Kein Zweifel, dass, wenn wir das

1) Siehe Carl Vogt's amüsante: Untersuchungen über die Tierstaaten (1851).
-- In Brehm: Vom Nordpol zum Äquator (1890) findet man sehr bemerkens-
werte Mitteilungen über die Kriegsführung der Paviane; ihre Taktik wechselt je
nach der Bodenbeschaffenheit, sie verteilen sich in bestimmte Gruppen: Vorder-
treffen, Hintertreffen u. s. w., mehrere arbeiten zusammen, um einen grossen Fels-
block auf den Feind hinabzurollen, und vieles dergleichen mehr. -- Vielleicht das
staunenswerteste Gesellschaftsleben ist das der Gärtnerameisen aus Südamerika,
über die zuerst Belt: Naturalist in Nicaragua berichtete, dann der Deutsche Alfred
Möller; jetzt kann man diese Tiere im zoologischen Garten in London beob-
achten, wobei namentlich die Thätigkeit der grossköpfigen "Aufseher" leicht zu
verfolgen ist, wie sie sobald ein "Arbeiter" faulenzen will herzulaufen, und ihn
aufrütteln!
2) Vergl. Huber: Nouvelles observations sur les Abeilles, II. 198, u. s. W.
Die beste kürzeste neuere Zusammenfassung der entscheidendsten, hierher gehörigen
Thatsachen ist wohl die von J. G. Romanes: Essays on Instinct 1897; auch
dieser hervorragende Schüler Darwin's ist freilich immer wieder genötigt, auf die
Beobachtungsreihen der beiden Huber als auf die sinnreichsten und zuverlässigsten

Hellenische Kunst und Philosophie.
man das staatliche Leben der Ameisen zum Beispiel und sieht man,
durch welche kühne Raffinements die praktische Bewährung des ge-
sellschaftlichen Getriebes und das fehlerlose Ineinandergreifen aller
Teile bei ihnen bewirkt wird — als Beispiel will ich einzig die Ab-
schaffung des unheilschwangeren Geschlechtstriebes bei einem grossen
Prozentsatz der Bevölkerung nennen, und zwar nicht durch Ver-
stümmelung, wie bei unserem elenden Notbehelf der Kastrierung,
sondern durch kluge Manipulation der befruchteten Keime, — so
muss man gestehen, der staatliche Instinkt steht bei uns auf keiner
hohen Stufe; im Verhältnis zu manchen Tiergattungen sind wir
politische Pfuscher.1) Selbst in der besonderen Bethätigung der Ver-
nunft kann man wohl ein eigenartiges spezifisches Merkmal des
Menschen, kaum aber ein prinzipiell neues Naturphänomen erkennen.
Der Mensch im Naturzustand benützt seine überlegene Vernunft genau
so wie der Hirsch seine Schnellfüssigkeit, der Tiger seine Kraft, der
Elefant seine Schwere: sie ist ihm die vorzüglichste Waffe im Kampf
ums Dasein, sie ersetzt ihm Behendigkeit, Körpergrösse und so manches
andere, was ihm fehlt. Die Zeiten sind vorbei, wo man den Tieren
Vernunft abzusprechen sich erdreistete; nicht allein zeigen Affe, Hund
und alle höheren Tiere bewusste Überlegung und treffsicheres Urteil,
sondern dasselbe ist bei Insekten experimental nachgewiesen worden:
eine Bienenkolonie z. B. in ungewohnte, noch nie dagewesene Ver-
hältnisse versetzt, trifft neue Vorkehrungen, versucht dieses und jenes,
bis sie das Richtige gefunden hat.2) Kein Zweifel, dass, wenn wir das

1) Siehe Carl Vogt’s amüsante: Untersuchungen über die Tierstaaten (1851).
— In Brehm: Vom Nordpol zum Äquator (1890) findet man sehr bemerkens-
werte Mitteilungen über die Kriegsführung der Paviane; ihre Taktik wechselt je
nach der Bodenbeschaffenheit, sie verteilen sich in bestimmte Gruppen: Vorder-
treffen, Hintertreffen u. s. w., mehrere arbeiten zusammen, um einen grossen Fels-
block auf den Feind hinabzurollen, und vieles dergleichen mehr. — Vielleicht das
staunenswerteste Gesellschaftsleben ist das der Gärtnerameisen aus Südamerika,
über die zuerst Belt: Naturalist in Nicaragua berichtete, dann der Deutsche Alfred
Möller; jetzt kann man diese Tiere im zoologischen Garten in London beob-
achten, wobei namentlich die Thätigkeit der grossköpfigen »Aufseher« leicht zu
verfolgen ist, wie sie sobald ein »Arbeiter« faulenzen will herzulaufen, und ihn
aufrütteln!
2) Vergl. Huber: Nouvelles observations sur les Abeilles, II. 198, u. s. W.
Die beste kürzeste neuere Zusammenfassung der entscheidendsten, hierher gehörigen
Thatsachen ist wohl die von J. G. Romanes: Essays on Instinct 1897; auch
dieser hervorragende Schüler Darwin’s ist freilich immer wieder genötigt, auf die
Beobachtungsreihen der beiden Huber als auf die sinnreichsten und zuverlässigsten
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0080" n="57"/><fw place="top" type="header">Hellenische Kunst und Philosophie.</fw><lb/>
man das staatliche Leben der Ameisen zum Beispiel und sieht man,<lb/>
durch welche kühne Raffinements die praktische Bewährung des ge-<lb/>
sellschaftlichen Getriebes und das fehlerlose Ineinandergreifen aller<lb/>
Teile bei ihnen bewirkt wird &#x2014; als Beispiel will ich einzig die Ab-<lb/>
schaffung des unheilschwangeren Geschlechtstriebes bei einem grossen<lb/>
Prozentsatz der Bevölkerung nennen, und zwar nicht durch Ver-<lb/>
stümmelung, wie bei unserem elenden Notbehelf der Kastrierung,<lb/>
sondern durch kluge Manipulation der befruchteten Keime, &#x2014; so<lb/>
muss man gestehen, der staatliche Instinkt steht bei uns auf keiner<lb/>
hohen Stufe; im Verhältnis zu manchen Tiergattungen sind wir<lb/>
politische Pfuscher.<note place="foot" n="1)">Siehe Carl Vogt&#x2019;s amüsante: <hi rendition="#i">Untersuchungen über die Tierstaaten</hi> (1851).<lb/>
&#x2014; In Brehm: <hi rendition="#i">Vom Nordpol zum Äquator</hi> (1890) findet man sehr bemerkens-<lb/>
werte Mitteilungen über die Kriegsführung der Paviane; ihre Taktik wechselt je<lb/>
nach der Bodenbeschaffenheit, sie verteilen sich in bestimmte Gruppen: Vorder-<lb/>
treffen, Hintertreffen u. s. w., mehrere arbeiten zusammen, um einen grossen Fels-<lb/>
block auf den Feind hinabzurollen, und vieles dergleichen mehr. &#x2014; Vielleicht das<lb/>
staunenswerteste Gesellschaftsleben ist das der <hi rendition="#g">Gärtnerameisen</hi> aus Südamerika,<lb/>
über die zuerst Belt: <hi rendition="#i">Naturalist in Nicaragua</hi> berichtete, dann der Deutsche Alfred<lb/>
Möller; jetzt kann man diese Tiere im zoologischen Garten in London beob-<lb/>
achten, wobei namentlich die Thätigkeit der grossköpfigen »Aufseher« leicht zu<lb/>
verfolgen ist, wie sie sobald ein »Arbeiter« faulenzen will herzulaufen, und ihn<lb/>
aufrütteln!</note> Selbst in der besonderen Bethätigung der Ver-<lb/>
nunft kann man wohl ein eigenartiges spezifisches Merkmal des<lb/>
Menschen, kaum aber ein prinzipiell neues Naturphänomen erkennen.<lb/>
Der Mensch im Naturzustand benützt seine überlegene Vernunft genau<lb/>
so wie der Hirsch seine Schnellfüssigkeit, der Tiger seine Kraft, der<lb/>
Elefant seine Schwere: sie ist ihm die vorzüglichste Waffe im Kampf<lb/>
ums Dasein, sie ersetzt ihm Behendigkeit, Körpergrösse und so manches<lb/>
andere, was ihm fehlt. Die Zeiten sind vorbei, wo man den Tieren<lb/>
Vernunft abzusprechen sich erdreistete; nicht allein zeigen Affe, Hund<lb/>
und alle höheren Tiere bewusste Überlegung und treffsicheres Urteil,<lb/>
sondern dasselbe ist bei Insekten experimental nachgewiesen worden:<lb/>
eine Bienenkolonie z. B. in ungewohnte, noch nie dagewesene Ver-<lb/>
hältnisse versetzt, trifft neue Vorkehrungen, versucht dieses und jenes,<lb/>
bis sie das Richtige gefunden hat.<note xml:id="seg2pn_1_1" next="#seg2pn_1_2" place="foot" n="2)">Vergl. Huber: <hi rendition="#i">Nouvelles observations sur les Abeilles,</hi> II. 198, u. s. W.<lb/>
Die beste kürzeste neuere Zusammenfassung der entscheidendsten, hierher gehörigen<lb/>
Thatsachen ist wohl die von J. G. Romanes: <hi rendition="#i">Essays on Instinct</hi> 1897; auch<lb/>
dieser hervorragende Schüler Darwin&#x2019;s ist freilich immer wieder genötigt, auf die<lb/>
Beobachtungsreihen der beiden Huber als auf die sinnreichsten und zuverlässigsten</note> Kein Zweifel, dass, wenn wir das<lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[57/0080] Hellenische Kunst und Philosophie. man das staatliche Leben der Ameisen zum Beispiel und sieht man, durch welche kühne Raffinements die praktische Bewährung des ge- sellschaftlichen Getriebes und das fehlerlose Ineinandergreifen aller Teile bei ihnen bewirkt wird — als Beispiel will ich einzig die Ab- schaffung des unheilschwangeren Geschlechtstriebes bei einem grossen Prozentsatz der Bevölkerung nennen, und zwar nicht durch Ver- stümmelung, wie bei unserem elenden Notbehelf der Kastrierung, sondern durch kluge Manipulation der befruchteten Keime, — so muss man gestehen, der staatliche Instinkt steht bei uns auf keiner hohen Stufe; im Verhältnis zu manchen Tiergattungen sind wir politische Pfuscher. 1) Selbst in der besonderen Bethätigung der Ver- nunft kann man wohl ein eigenartiges spezifisches Merkmal des Menschen, kaum aber ein prinzipiell neues Naturphänomen erkennen. Der Mensch im Naturzustand benützt seine überlegene Vernunft genau so wie der Hirsch seine Schnellfüssigkeit, der Tiger seine Kraft, der Elefant seine Schwere: sie ist ihm die vorzüglichste Waffe im Kampf ums Dasein, sie ersetzt ihm Behendigkeit, Körpergrösse und so manches andere, was ihm fehlt. Die Zeiten sind vorbei, wo man den Tieren Vernunft abzusprechen sich erdreistete; nicht allein zeigen Affe, Hund und alle höheren Tiere bewusste Überlegung und treffsicheres Urteil, sondern dasselbe ist bei Insekten experimental nachgewiesen worden: eine Bienenkolonie z. B. in ungewohnte, noch nie dagewesene Ver- hältnisse versetzt, trifft neue Vorkehrungen, versucht dieses und jenes, bis sie das Richtige gefunden hat. 2) Kein Zweifel, dass, wenn wir das 1) Siehe Carl Vogt’s amüsante: Untersuchungen über die Tierstaaten (1851). — In Brehm: Vom Nordpol zum Äquator (1890) findet man sehr bemerkens- werte Mitteilungen über die Kriegsführung der Paviane; ihre Taktik wechselt je nach der Bodenbeschaffenheit, sie verteilen sich in bestimmte Gruppen: Vorder- treffen, Hintertreffen u. s. w., mehrere arbeiten zusammen, um einen grossen Fels- block auf den Feind hinabzurollen, und vieles dergleichen mehr. — Vielleicht das staunenswerteste Gesellschaftsleben ist das der Gärtnerameisen aus Südamerika, über die zuerst Belt: Naturalist in Nicaragua berichtete, dann der Deutsche Alfred Möller; jetzt kann man diese Tiere im zoologischen Garten in London beob- achten, wobei namentlich die Thätigkeit der grossköpfigen »Aufseher« leicht zu verfolgen ist, wie sie sobald ein »Arbeiter« faulenzen will herzulaufen, und ihn aufrütteln! 2) Vergl. Huber: Nouvelles observations sur les Abeilles, II. 198, u. s. W. Die beste kürzeste neuere Zusammenfassung der entscheidendsten, hierher gehörigen Thatsachen ist wohl die von J. G. Romanes: Essays on Instinct 1897; auch dieser hervorragende Schüler Darwin’s ist freilich immer wieder genötigt, auf die Beobachtungsreihen der beiden Huber als auf die sinnreichsten und zuverlässigsten

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen01_1899
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen01_1899/80
Zitationshilfe: Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 1. München 1899, S. 57. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen01_1899/80>, abgerufen am 24.11.2024.