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Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 1. München 1899.

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Das Erbe der alten Welt.
überall ähnliches finden. Die im Verhältnis enorme Entwicklung des
menschlichen Gehirns1) bildet also für uns doch nur eine relative
Überlegenheit. Nicht als ein Gott wandelt der Mensch auf Erden,
sondern als ein Geschöpf unter anderen Geschöpfen, vielleicht wäre
es kaum Übertreibung, zu sagen, als ein primus inter pares, denn
es ist schwer einzusehen, warum höhere Differenzierung, mit ihren
zahllosen Nachteilen, ohne weiteres als höhere "Vollkommenheit" be-
trachtet werden sollte; die relative Vollkommenheit eines Organismus
wäre, dünkt mich, durch seine Angemessenheit für gegebene Ver-
hältnisse zu bestimmen. Durch alle Fasern seines Wesens hängt der
Mensch organisch mit seiner Umgebung eng zusammen; das alles
ist Blut von seinem Blut; denkt man ihn hinweg aus der Natur, so
ist er ein Bruchstück, ein Torso, ein entwurzelter Stamm.

Was zeichnet nun den Menschen vor den anderen Wesen aus?
Mancher wird antworten: seine Erfindungskraft; das Werkzeug ist
es, wodurch er sich als Fürst unter den Tieren dokumentiert. Er
bleibt jedoch damit noch immer ein Tier unter Tieren: nicht bloss
der Anthropoid, auch der gewöhnliche Affe erfindet einfachere Werk-
zeuge, (worüber Jeder sich in Brehm's Tierleben informieren kann),
und der Elephant ist, wenn vielleicht nicht in der Erfindung, so doch
im Gebrauch der Werkzeuge ein wahrer Meister (siehe Romanes: Die
geistige Entwickelung im Tierreich,
S. 389 u. s. w.). Die sinnreichste
Dynamomaschine erhebt den Menschen nicht um einen Zoll über die
allen Wesen gemeinsame Erdoberfläche; alles derartige bedeutet ledig-
lich eine neue Ansammlung von Kraft in dem Kampf ums Dasein;
der Mensch wird dadurch gewissermassen ein höher potenziertes Tier.
Er beleuchtet sich mit Talgkerzen oder mit Öl, oder mit Gas, oder
elektrisch, anstatt schlafen zu gehen; damit gewinnt er Zeit und das
heisst Leistungsfähigkeit; es giebt aber ebenfalls zahllose Tiere, die
sich beleuchten, manche durch Phosphorescenz, andere (namentlich
die Tiefseefische) elektrisch2); wir reisen auf dem Zweirad, mit der

1) Bekanntlich hat Aristoteles sich hier, wie so oft, gründlich geirrt: der
Mensch besitzt weder absolut noch relativ (d. h. im Verhältnis zum Körpergewicht)
das grösste Gehirn; die Überlegenheit dieses Apparates bei ihm ist in anderen Dingen
begründet (siehe Ranke: Der Mensch, zweite Ausgabe I., S. 551 und S. 542 f.).
2) Emin Pascha und Stanley berichten über Schimpansen, welche nachts
mit Fackeln auf ihre Raubzüge ausziehen! Mit Romanes wird man gut thun,
bis auf weiteres diese Thatsache zu bezweifeln: Stanley hat es nicht selbst gesehen
und Emin Pascha war überaus kurzsichtig. Sollten die Affen wirklich die Kunst,

Das Erbe der alten Welt.
überall ähnliches finden. Die im Verhältnis enorme Entwicklung des
menschlichen Gehirns1) bildet also für uns doch nur eine relative
Überlegenheit. Nicht als ein Gott wandelt der Mensch auf Erden,
sondern als ein Geschöpf unter anderen Geschöpfen, vielleicht wäre
es kaum Übertreibung, zu sagen, als ein primus inter pares, denn
es ist schwer einzusehen, warum höhere Differenzierung, mit ihren
zahllosen Nachteilen, ohne weiteres als höhere »Vollkommenheit« be-
trachtet werden sollte; die relative Vollkommenheit eines Organismus
wäre, dünkt mich, durch seine Angemessenheit für gegebene Ver-
hältnisse zu bestimmen. Durch alle Fasern seines Wesens hängt der
Mensch organisch mit seiner Umgebung eng zusammen; das alles
ist Blut von seinem Blut; denkt man ihn hinweg aus der Natur, so
ist er ein Bruchstück, ein Torso, ein entwurzelter Stamm.

Was zeichnet nun den Menschen vor den anderen Wesen aus?
Mancher wird antworten: seine Erfindungskraft; das Werkzeug ist
es, wodurch er sich als Fürst unter den Tieren dokumentiert. Er
bleibt jedoch damit noch immer ein Tier unter Tieren: nicht bloss
der Anthropoid, auch der gewöhnliche Affe erfindet einfachere Werk-
zeuge, (worüber Jeder sich in Brehm’s Tierleben informieren kann),
und der Elephant ist, wenn vielleicht nicht in der Erfindung, so doch
im Gebrauch der Werkzeuge ein wahrer Meister (siehe Romanes: Die
geistige Entwickelung im Tierreich,
S. 389 u. s. w.). Die sinnreichste
Dynamomaschine erhebt den Menschen nicht um einen Zoll über die
allen Wesen gemeinsame Erdoberfläche; alles derartige bedeutet ledig-
lich eine neue Ansammlung von Kraft in dem Kampf ums Dasein;
der Mensch wird dadurch gewissermassen ein höher potenziertes Tier.
Er beleuchtet sich mit Talgkerzen oder mit Öl, oder mit Gas, oder
elektrisch, anstatt schlafen zu gehen; damit gewinnt er Zeit und das
heisst Leistungsfähigkeit; es giebt aber ebenfalls zahllose Tiere, die
sich beleuchten, manche durch Phosphorescenz, andere (namentlich
die Tiefseefische) elektrisch2); wir reisen auf dem Zweirad, mit der

1) Bekanntlich hat Aristoteles sich hier, wie so oft, gründlich geirrt: der
Mensch besitzt weder absolut noch relativ (d. h. im Verhältnis zum Körpergewicht)
das grösste Gehirn; die Überlegenheit dieses Apparates bei ihm ist in anderen Dingen
begründet (siehe Ranke: Der Mensch, zweite Ausgabe I., S. 551 und S. 542 f.).
2) Emin Pascha und Stanley berichten über Schimpansen, welche nachts
mit Fackeln auf ihre Raubzüge ausziehen! Mit Romanes wird man gut thun,
bis auf weiteres diese Thatsache zu bezweifeln: Stanley hat es nicht selbst gesehen
und Emin Pascha war überaus kurzsichtig. Sollten die Affen wirklich die Kunst,
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[60/0083] Das Erbe der alten Welt. überall ähnliches finden. Die im Verhältnis enorme Entwicklung des menschlichen Gehirns 1) bildet also für uns doch nur eine relative Überlegenheit. Nicht als ein Gott wandelt der Mensch auf Erden, sondern als ein Geschöpf unter anderen Geschöpfen, vielleicht wäre es kaum Übertreibung, zu sagen, als ein primus inter pares, denn es ist schwer einzusehen, warum höhere Differenzierung, mit ihren zahllosen Nachteilen, ohne weiteres als höhere »Vollkommenheit« be- trachtet werden sollte; die relative Vollkommenheit eines Organismus wäre, dünkt mich, durch seine Angemessenheit für gegebene Ver- hältnisse zu bestimmen. Durch alle Fasern seines Wesens hängt der Mensch organisch mit seiner Umgebung eng zusammen; das alles ist Blut von seinem Blut; denkt man ihn hinweg aus der Natur, so ist er ein Bruchstück, ein Torso, ein entwurzelter Stamm. Was zeichnet nun den Menschen vor den anderen Wesen aus? Mancher wird antworten: seine Erfindungskraft; das Werkzeug ist es, wodurch er sich als Fürst unter den Tieren dokumentiert. Er bleibt jedoch damit noch immer ein Tier unter Tieren: nicht bloss der Anthropoid, auch der gewöhnliche Affe erfindet einfachere Werk- zeuge, (worüber Jeder sich in Brehm’s Tierleben informieren kann), und der Elephant ist, wenn vielleicht nicht in der Erfindung, so doch im Gebrauch der Werkzeuge ein wahrer Meister (siehe Romanes: Die geistige Entwickelung im Tierreich, S. 389 u. s. w.). Die sinnreichste Dynamomaschine erhebt den Menschen nicht um einen Zoll über die allen Wesen gemeinsame Erdoberfläche; alles derartige bedeutet ledig- lich eine neue Ansammlung von Kraft in dem Kampf ums Dasein; der Mensch wird dadurch gewissermassen ein höher potenziertes Tier. Er beleuchtet sich mit Talgkerzen oder mit Öl, oder mit Gas, oder elektrisch, anstatt schlafen zu gehen; damit gewinnt er Zeit und das heisst Leistungsfähigkeit; es giebt aber ebenfalls zahllose Tiere, die sich beleuchten, manche durch Phosphorescenz, andere (namentlich die Tiefseefische) elektrisch 2); wir reisen auf dem Zweirad, mit der 1) Bekanntlich hat Aristoteles sich hier, wie so oft, gründlich geirrt: der Mensch besitzt weder absolut noch relativ (d. h. im Verhältnis zum Körpergewicht) das grösste Gehirn; die Überlegenheit dieses Apparates bei ihm ist in anderen Dingen begründet (siehe Ranke: Der Mensch, zweite Ausgabe I., S. 551 und S. 542 f.). 2) Emin Pascha und Stanley berichten über Schimpansen, welche nachts mit Fackeln auf ihre Raubzüge ausziehen! Mit Romanes wird man gut thun, bis auf weiteres diese Thatsache zu bezweifeln: Stanley hat es nicht selbst gesehen und Emin Pascha war überaus kurzsichtig. Sollten die Affen wirklich die Kunst,

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Zitationshilfe: Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 1. München 1899, S. 60. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen01_1899/83>, abgerufen am 15.05.2024.