Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 1. München 1899.Hellenische Kunst und Philosophie. verdiente, wenn ich mich so ausdrücken darf. Heutzutage unter-scheiden alle Ethnographen und Anthropologen scharf zwischen Moral und Religion, und erkennen an, dass beide in einem gewissen Sinne von einander unabhängig sind; es wäre ebenso nützlich, wenn man zwischen Kultur und Civilisation scharf zu unterscheiden lernte. Eine hochentwickelte Civilisation ist mit einer rudimentären Kultur verein- bar: Rom zum Beispiel zeigt eine bewundernswerte Civilisation bei sehr geringer, durchaus unorigineller Kultur. Athen dagegen weist (bei seinen freien Bürgern) eine Kulturstufe auf, gegen welche wir Europäer des 19. Jahrhunderts in mancher Beziehung noch immer Barbaren sind, verbunden mit einer Civilisation, welche wir vollauf berechtigt sind, als eine im Verhältnis zu der unsrigen wirklich barbarische zu bezeichnen.1) Verglichen mit allen anderen Erscheinungen der Geschichte, stellt das Griechentum eine überschwänglich reiche Blüte des Menschengeistes dar, und die Ursache davon ist, dass seine gesamte Kultur auf einer künstlerischen Grundlage ruht. Das freischöpferische Werk menschlicher Phantasie war bei den Hellenen der Ausgangspunkt ihres so unendlich reichen Lebens: Sprache, Religion, Politik, Philosophie, Wissenschaft (selbst Mathematik!), Geschichtsschreibung und Erdkunde, alle Formen der Dichtung in Worten und in Tönen, das ganze öffentliche Leben und das ganze innere Leben des Einzelnen -- Alles strahlt von diesem Werk aus, und Alles findet sich in ihm wie in einem zugleich figürlichen und organischen Mittelpunkt wieder, einem Mittelpunkt, der das Fremdartigste an Charakteren, Interessen, Bestrebungen zu einer lebendigen, bewussten Einheit verknüpft. In diesem Mittelpunkt steht Homer. Dass man an dem Dasein des Dichters Homer hat zweifelnHomer. 1) Ein treffliches Beispiel liefern die Indoarier in ihrer Urheimat, wo die
Ausbildung einer "alle anderen übertreffenden, vollendet einheitlichen, wunderbar durchgebildeten Sprache", abgesehen von anderen geistigen Thaten, eine hohe Kultur bedeutete, diese Menschen aber nichtsdestoweniger ein fast nackend ein- hergehendes Hirtenvolk waren, das weder Städte noch Metall kannte! (Siehe namentlich Jhering: Vorgeschichte der Indoeuropäer, S. 2.) Für eine genaue Unterscheidung zwischen Wissen, Civilisation und Kultur verweise ich auf das neunte Kapitel meines vorliegenden Werkes und auf die darin enthaltene Über- sichtstafel. Hellenische Kunst und Philosophie. verdiente, wenn ich mich so ausdrücken darf. Heutzutage unter-scheiden alle Ethnographen und Anthropologen scharf zwischen Moral und Religion, und erkennen an, dass beide in einem gewissen Sinne von einander unabhängig sind; es wäre ebenso nützlich, wenn man zwischen Kultur und Civilisation scharf zu unterscheiden lernte. Eine hochentwickelte Civilisation ist mit einer rudimentären Kultur verein- bar: Rom zum Beispiel zeigt eine bewundernswerte Civilisation bei sehr geringer, durchaus unorigineller Kultur. Athen dagegen weist (bei seinen freien Bürgern) eine Kulturstufe auf, gegen welche wir Europäer des 19. Jahrhunderts in mancher Beziehung noch immer Barbaren sind, verbunden mit einer Civilisation, welche wir vollauf berechtigt sind, als eine im Verhältnis zu der unsrigen wirklich barbarische zu bezeichnen.1) Verglichen mit allen anderen Erscheinungen der Geschichte, stellt das Griechentum eine überschwänglich reiche Blüte des Menschengeistes dar, und die Ursache davon ist, dass seine gesamte Kultur auf einer künstlerischen Grundlage ruht. Das freischöpferische Werk menschlicher Phantasie war bei den Hellenen der Ausgangspunkt ihres so unendlich reichen Lebens: Sprache, Religion, Politik, Philosophie, Wissenschaft (selbst Mathematik!), Geschichtsschreibung und Erdkunde, alle Formen der Dichtung in Worten und in Tönen, das ganze öffentliche Leben und das ganze innere Leben des Einzelnen — Alles strahlt von diesem Werk aus, und Alles findet sich in ihm wie in einem zugleich figürlichen und organischen Mittelpunkt wieder, einem Mittelpunkt, der das Fremdartigste an Charakteren, Interessen, Bestrebungen zu einer lebendigen, bewussten Einheit verknüpft. In diesem Mittelpunkt steht Homer. Dass man an dem Dasein des Dichters Homer hat zweifelnHomer. 1) Ein treffliches Beispiel liefern die Indoarier in ihrer Urheimat, wo die
Ausbildung einer »alle anderen übertreffenden, vollendet einheitlichen, wunderbar durchgebildeten Sprache«, abgesehen von anderen geistigen Thaten, eine hohe Kultur bedeutete, diese Menschen aber nichtsdestoweniger ein fast nackend ein- hergehendes Hirtenvolk waren, das weder Städte noch Metall kannte! (Siehe namentlich Jhering: Vorgeschichte der Indoeuropäer, S. 2.) Für eine genaue Unterscheidung zwischen Wissen, Civilisation und Kultur verweise ich auf das neunte Kapitel meines vorliegenden Werkes und auf die darin enthaltene Über- sichtstafel. <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <p><pb facs="#f0086" n="63"/><fw place="top" type="header">Hellenische Kunst und Philosophie.</fw><lb/> verdiente, wenn ich mich so ausdrücken darf. Heutzutage unter-<lb/> scheiden alle Ethnographen und Anthropologen scharf zwischen Moral<lb/> und Religion, und erkennen an, dass beide in einem gewissen Sinne<lb/> von einander unabhängig sind; es wäre ebenso nützlich, wenn man<lb/> zwischen Kultur und Civilisation scharf zu unterscheiden lernte. Eine<lb/> hochentwickelte Civilisation ist mit einer rudimentären Kultur verein-<lb/> bar: Rom zum Beispiel zeigt eine bewundernswerte Civilisation bei<lb/> sehr geringer, durchaus unorigineller Kultur. Athen dagegen weist (bei<lb/> seinen freien Bürgern) eine Kulturstufe auf, gegen welche wir Europäer<lb/> des 19. Jahrhunderts in mancher Beziehung noch immer Barbaren<lb/> sind, verbunden mit einer Civilisation, welche wir vollauf berechtigt<lb/> sind, als eine im Verhältnis zu der unsrigen wirklich barbarische<lb/> zu bezeichnen.<note place="foot" n="1)">Ein treffliches Beispiel liefern die Indoarier in ihrer Urheimat, wo die<lb/> Ausbildung einer »alle anderen übertreffenden, vollendet einheitlichen, wunderbar<lb/> durchgebildeten Sprache«, abgesehen von anderen geistigen Thaten, eine hohe<lb/> Kultur bedeutete, diese Menschen aber nichtsdestoweniger ein fast nackend ein-<lb/> hergehendes Hirtenvolk waren, das weder Städte noch Metall kannte! (Siehe<lb/> namentlich Jhering: <hi rendition="#i">Vorgeschichte der Indoeuropäer,</hi> S. 2.) Für eine genaue<lb/> Unterscheidung zwischen Wissen, Civilisation und Kultur verweise ich auf das<lb/> neunte Kapitel meines vorliegenden Werkes und auf die darin enthaltene Über-<lb/> sichtstafel.</note> Verglichen mit allen anderen Erscheinungen der<lb/> Geschichte, stellt das Griechentum eine überschwänglich reiche Blüte<lb/> des Menschengeistes dar, und die Ursache davon ist, dass <hi rendition="#g">seine<lb/> gesamte Kultur auf einer künstlerischen Grundlage ruht.</hi><lb/> Das freischöpferische Werk menschlicher Phantasie war bei den Hellenen<lb/> der Ausgangspunkt ihres so unendlich reichen Lebens: Sprache,<lb/> Religion, Politik, Philosophie, Wissenschaft (selbst Mathematik!),<lb/> Geschichtsschreibung und Erdkunde, alle Formen der Dichtung in<lb/> Worten und in Tönen, das ganze öffentliche Leben und das ganze<lb/> innere Leben des Einzelnen — Alles strahlt von diesem Werk aus,<lb/> und Alles findet sich in ihm wie in einem zugleich figürlichen<lb/> und organischen Mittelpunkt wieder, einem Mittelpunkt, der das<lb/> Fremdartigste an Charakteren, Interessen, Bestrebungen zu einer<lb/> lebendigen, bewussten Einheit verknüpft. In diesem Mittelpunkt<lb/> steht <hi rendition="#g">Homer.</hi></p><lb/> <p>Dass man an dem Dasein des Dichters Homer hat zweifeln<note place="right">Homer.</note><lb/> können, wird späteren Geschlechtern keine sehr günstige Vorstellung<lb/> von der geistigen Schärfe unserer Epoche geben. Es sind gerade<lb/></p> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [63/0086]
Hellenische Kunst und Philosophie.
verdiente, wenn ich mich so ausdrücken darf. Heutzutage unter-
scheiden alle Ethnographen und Anthropologen scharf zwischen Moral
und Religion, und erkennen an, dass beide in einem gewissen Sinne
von einander unabhängig sind; es wäre ebenso nützlich, wenn man
zwischen Kultur und Civilisation scharf zu unterscheiden lernte. Eine
hochentwickelte Civilisation ist mit einer rudimentären Kultur verein-
bar: Rom zum Beispiel zeigt eine bewundernswerte Civilisation bei
sehr geringer, durchaus unorigineller Kultur. Athen dagegen weist (bei
seinen freien Bürgern) eine Kulturstufe auf, gegen welche wir Europäer
des 19. Jahrhunderts in mancher Beziehung noch immer Barbaren
sind, verbunden mit einer Civilisation, welche wir vollauf berechtigt
sind, als eine im Verhältnis zu der unsrigen wirklich barbarische
zu bezeichnen. 1) Verglichen mit allen anderen Erscheinungen der
Geschichte, stellt das Griechentum eine überschwänglich reiche Blüte
des Menschengeistes dar, und die Ursache davon ist, dass seine
gesamte Kultur auf einer künstlerischen Grundlage ruht.
Das freischöpferische Werk menschlicher Phantasie war bei den Hellenen
der Ausgangspunkt ihres so unendlich reichen Lebens: Sprache,
Religion, Politik, Philosophie, Wissenschaft (selbst Mathematik!),
Geschichtsschreibung und Erdkunde, alle Formen der Dichtung in
Worten und in Tönen, das ganze öffentliche Leben und das ganze
innere Leben des Einzelnen — Alles strahlt von diesem Werk aus,
und Alles findet sich in ihm wie in einem zugleich figürlichen
und organischen Mittelpunkt wieder, einem Mittelpunkt, der das
Fremdartigste an Charakteren, Interessen, Bestrebungen zu einer
lebendigen, bewussten Einheit verknüpft. In diesem Mittelpunkt
steht Homer.
Dass man an dem Dasein des Dichters Homer hat zweifeln
können, wird späteren Geschlechtern keine sehr günstige Vorstellung
von der geistigen Schärfe unserer Epoche geben. Es sind gerade
Homer.
1) Ein treffliches Beispiel liefern die Indoarier in ihrer Urheimat, wo die
Ausbildung einer »alle anderen übertreffenden, vollendet einheitlichen, wunderbar
durchgebildeten Sprache«, abgesehen von anderen geistigen Thaten, eine hohe
Kultur bedeutete, diese Menschen aber nichtsdestoweniger ein fast nackend ein-
hergehendes Hirtenvolk waren, das weder Städte noch Metall kannte! (Siehe
namentlich Jhering: Vorgeschichte der Indoeuropäer, S. 2.) Für eine genaue
Unterscheidung zwischen Wissen, Civilisation und Kultur verweise ich auf das
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