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Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 1. München 1899.

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Das Erbe der alten Welt.
ungsarbeiten an dessen Werken abgegeben -- was eine fast wider-
sinnige Annahme wäre -- so lehrt uns die Geschichte aller Kunst,
dass echte Persönlichkeit jeder Nachahmung trotzt; je weiter aber die
kritischen Untersuchungen dieses Jahrhunderts gediehen, umsomehr
musste jeder fähige Forscher einsehen, dass selbst die bedeutendsten
Nachahmer, Ergänzer, Wiederhersteller der Epen des Homer sich alle
von ihm dadurch unterschieden, dass kein einziger an sein überragendes
Genie auch nur entfernt heranreichte. Verunstaltet durch zahllose
Missverständnisse, Schreibfehler, noch mehr durch die vermeintlichen
Verbesserungen des unausrottbaren Geschlechtes der Besserwisser und
durch die Interpolationen gutmeinender Epigonen, zeugten diese Ge-
dichte, gerade je deutlicher die Buntscheckigkeit ihrer heutigen Gestalt

Voraussetzungen, von denen die Vertreter der Liedertheorie ausgehen, erweisen
sich bei näherer Prüfung, namentlich wenn man die Homerischen Gedichte im
Zusammenhange mit der gesamten Entwickelung der epischen Poesie betrachtet,
als durchaus unhaltbar. Diese Theorie konnte nur von denen aufgestellt werden,
welche das Homerische Epos ganz gesondert von seiner Umgebung und ohne
alle Rücksicht auf die Geschichte der griechischen Litteratur ihrer zersetzenden
Kritik unterwarfen" (I, 525). Man lese auch namentlich seinen Nachweis, dass
der Gebrauch der Schrift zu Homer's Zeiten üblich war, und dass sowohl
innere wie äussere Gründe dafür zeugen, dass Homer seine Dichtungen auch
thatsächlich schriftlich hinterlassen hat (I, 527 ff.). Dass es gerade den Kritikern
häufig an Kritik fehlt und zwar bereits seit der alexandrinischen Zeit, zeigt Bergk
überzeugend; ihre Thätigkeit gipfelt nach ihm in "unheilvoller Verwirrung".
Und da möchte ich noch aus einem anderen streng philologischen Werke,
Flach: Geschichte der griechischen Lyrik, eine treffliche, hierher gehörige Be-
merkung anführen: "Hiermit hängt wieder eine moderne Zweifelsucht zu-
sammen, welche die Aufgabe der Philologie den alten Überlieferungen gegenüber
in die Worte zu kleiden scheint: Ich glaube es nicht. Es versteht sich von selbst,
dass bei einem Verfahren dieser Art nichts Positives gewonnen wird, sondern
dass es im Gegenteil nur den Beweis einer gewissen geistigen Impotenz
liefert,
welche sich damit begnügt, destruktive Tendenzen zu verfolgen und
der heutigen wissenschaftlichen Richtung ihren deutlichen Stempel
aufgeprägt hat
" (II, S. v). Um so eifriger suchen wir in der Masse der mehr
oder weniger Impotenten nach den hervorragenden Geistern, gleichviel welcher
Schule sie angehören. Und da möchte ich -- um diese all zu lange Anmerkung
nicht noch länger hinauszuziehen -- vor allem auf Erwin Rohde verweisen,
dessen Bücher Der griechische Roman (1876) und Psyche (1894), zu jener
Gattung rein gelehrter, philologischer Werke gehören, welche jedem, auch dem
Ungelehrten, eine reiche Ernte bieten, da sie ähnlich wie z. B. die Werke
Grimm's, Burnouf's und Earle's, durch ihre überall durchschimmernde, oft auch
hindurchbrechende innere Bedeutung das fachliche Interesse zu einem sachlichen
umwandeln; dies ist der Prüfstein wahrer Bedeutung.

Das Erbe der alten Welt.
ungsarbeiten an dessen Werken abgegeben — was eine fast wider-
sinnige Annahme wäre — so lehrt uns die Geschichte aller Kunst,
dass echte Persönlichkeit jeder Nachahmung trotzt; je weiter aber die
kritischen Untersuchungen dieses Jahrhunderts gediehen, umsomehr
musste jeder fähige Forscher einsehen, dass selbst die bedeutendsten
Nachahmer, Ergänzer, Wiederhersteller der Epen des Homer sich alle
von ihm dadurch unterschieden, dass kein einziger an sein überragendes
Genie auch nur entfernt heranreichte. Verunstaltet durch zahllose
Missverständnisse, Schreibfehler, noch mehr durch die vermeintlichen
Verbesserungen des unausrottbaren Geschlechtes der Besserwisser und
durch die Interpolationen gutmeinender Epigonen, zeugten diese Ge-
dichte, gerade je deutlicher die Buntscheckigkeit ihrer heutigen Gestalt

Voraussetzungen, von denen die Vertreter der Liedertheorie ausgehen, erweisen
sich bei näherer Prüfung, namentlich wenn man die Homerischen Gedichte im
Zusammenhange mit der gesamten Entwickelung der epischen Poesie betrachtet,
als durchaus unhaltbar. Diese Theorie konnte nur von denen aufgestellt werden,
welche das Homerische Epos ganz gesondert von seiner Umgebung und ohne
alle Rücksicht auf die Geschichte der griechischen Litteratur ihrer zersetzenden
Kritik unterwarfen« (I, 525). Man lese auch namentlich seinen Nachweis, dass
der Gebrauch der Schrift zu Homer’s Zeiten üblich war, und dass sowohl
innere wie äussere Gründe dafür zeugen, dass Homer seine Dichtungen auch
thatsächlich schriftlich hinterlassen hat (I, 527 ff.). Dass es gerade den Kritikern
häufig an Kritik fehlt und zwar bereits seit der alexandrinischen Zeit, zeigt Bergk
überzeugend; ihre Thätigkeit gipfelt nach ihm in »unheilvoller Verwirrung«.
Und da möchte ich noch aus einem anderen streng philologischen Werke,
Flach: Geschichte der griechischen Lyrik, eine treffliche, hierher gehörige Be-
merkung anführen: »Hiermit hängt wieder eine moderne Zweifelsucht zu-
sammen, welche die Aufgabe der Philologie den alten Überlieferungen gegenüber
in die Worte zu kleiden scheint: Ich glaube es nicht. Es versteht sich von selbst,
dass bei einem Verfahren dieser Art nichts Positives gewonnen wird, sondern
dass es im Gegenteil nur den Beweis einer gewissen geistigen Impotenz
liefert,
welche sich damit begnügt, destruktive Tendenzen zu verfolgen und
der heutigen wissenschaftlichen Richtung ihren deutlichen Stempel
aufgeprägt hat
« (II, S. v). Um so eifriger suchen wir in der Masse der mehr
oder weniger Impotenten nach den hervorragenden Geistern, gleichviel welcher
Schule sie angehören. Und da möchte ich — um diese all zu lange Anmerkung
nicht noch länger hinauszuziehen — vor allem auf Erwin Rohde verweisen,
dessen Bücher Der griechische Roman (1876) und Psyche (1894), zu jener
Gattung rein gelehrter, philologischer Werke gehören, welche jedem, auch dem
Ungelehrten, eine reiche Ernte bieten, da sie ähnlich wie z. B. die Werke
Grimm’s, Burnouf’s und Earle’s, durch ihre überall durchschimmernde, oft auch
hindurchbrechende innere Bedeutung das fachliche Interesse zu einem sachlichen
umwandeln; dies ist der Prüfstein wahrer Bedeutung.
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[66/0089] Das Erbe der alten Welt. ungsarbeiten an dessen Werken abgegeben — was eine fast wider- sinnige Annahme wäre — so lehrt uns die Geschichte aller Kunst, dass echte Persönlichkeit jeder Nachahmung trotzt; je weiter aber die kritischen Untersuchungen dieses Jahrhunderts gediehen, umsomehr musste jeder fähige Forscher einsehen, dass selbst die bedeutendsten Nachahmer, Ergänzer, Wiederhersteller der Epen des Homer sich alle von ihm dadurch unterschieden, dass kein einziger an sein überragendes Genie auch nur entfernt heranreichte. Verunstaltet durch zahllose Missverständnisse, Schreibfehler, noch mehr durch die vermeintlichen Verbesserungen des unausrottbaren Geschlechtes der Besserwisser und durch die Interpolationen gutmeinender Epigonen, zeugten diese Ge- dichte, gerade je deutlicher die Buntscheckigkeit ihrer heutigen Gestalt 1) 1) Voraussetzungen, von denen die Vertreter der Liedertheorie ausgehen, erweisen sich bei näherer Prüfung, namentlich wenn man die Homerischen Gedichte im Zusammenhange mit der gesamten Entwickelung der epischen Poesie betrachtet, als durchaus unhaltbar. Diese Theorie konnte nur von denen aufgestellt werden, welche das Homerische Epos ganz gesondert von seiner Umgebung und ohne alle Rücksicht auf die Geschichte der griechischen Litteratur ihrer zersetzenden Kritik unterwarfen« (I, 525). Man lese auch namentlich seinen Nachweis, dass der Gebrauch der Schrift zu Homer’s Zeiten üblich war, und dass sowohl innere wie äussere Gründe dafür zeugen, dass Homer seine Dichtungen auch thatsächlich schriftlich hinterlassen hat (I, 527 ff.). Dass es gerade den Kritikern häufig an Kritik fehlt und zwar bereits seit der alexandrinischen Zeit, zeigt Bergk überzeugend; ihre Thätigkeit gipfelt nach ihm in »unheilvoller Verwirrung«. Und da möchte ich noch aus einem anderen streng philologischen Werke, Flach: Geschichte der griechischen Lyrik, eine treffliche, hierher gehörige Be- merkung anführen: »Hiermit hängt wieder eine moderne Zweifelsucht zu- sammen, welche die Aufgabe der Philologie den alten Überlieferungen gegenüber in die Worte zu kleiden scheint: Ich glaube es nicht. Es versteht sich von selbst, dass bei einem Verfahren dieser Art nichts Positives gewonnen wird, sondern dass es im Gegenteil nur den Beweis einer gewissen geistigen Impotenz liefert, welche sich damit begnügt, destruktive Tendenzen zu verfolgen und der heutigen wissenschaftlichen Richtung ihren deutlichen Stempel aufgeprägt hat« (II, S. v). Um so eifriger suchen wir in der Masse der mehr oder weniger Impotenten nach den hervorragenden Geistern, gleichviel welcher Schule sie angehören. Und da möchte ich — um diese all zu lange Anmerkung nicht noch länger hinauszuziehen — vor allem auf Erwin Rohde verweisen, dessen Bücher Der griechische Roman (1876) und Psyche (1894), zu jener Gattung rein gelehrter, philologischer Werke gehören, welche jedem, auch dem Ungelehrten, eine reiche Ernte bieten, da sie ähnlich wie z. B. die Werke Grimm’s, Burnouf’s und Earle’s, durch ihre überall durchschimmernde, oft auch hindurchbrechende innere Bedeutung das fachliche Interesse zu einem sachlichen umwandeln; dies ist der Prüfstein wahrer Bedeutung.

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Zitationshilfe: Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 1. München 1899, S. 66. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen01_1899/89>, abgerufen am 15.05.2024.