Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899.Der Kampf. Christentums entschieden"1) -- Recht haben mag, dieses Christentumsich von dem des Völkerchaos von Hause aus wesentlich unter- scheidet. Es handelt sich gleichsam um Falten des Gehirns:2) was auch hineingelegt wird, es muss sich nach ihnen biegen und schmiegen. Gleichwie ein Boot, dem scheinbar einförmigen Elemente des Ozeans anvertraut, weit abweichende Wege wandern wird, je nachdem der eine Strom oder der andere es ergreift, ebenso legen dieselben Ideen in verschiedenen Köpfen verschiedene Bahnen zurück und geraten unter Himmelsstriche, die wenig Gemeinsames miteinander haben. Wie un- endlich bedeutungsvoll ist z. B. bei den alten Germanen der Glaube an ein "allgemeines, unabänderliches, vorausbestimmtes und voraus- bestimmendes Schicksal".3) Schon in dieser einen, allen Indoeuropäern gemeinsamen "Hirnfalte" liegt -- vielleicht neben manchem Aber- glauben -- die Gewähr einer reichen geistigen Entwickelung nach den verschiedensten Richtungen und auf genau bestimmten Wegen. In der Richtung des Idealismus wird der Glaube an ein Schicksal mit Natur- notwendigkeit zu einer Religion der Gnade führen, in der Richtung der Empirie zu streng induktiver Wissenschaft. Denn streng empirische Wissenschaft ist nicht, wie häufig behauptet wird, eine geborene Feindin aller Religion, noch weniger der Lehre Christi; sie hätte sich, wie wir sahen, mit Origenes vortrefflich vertragen, und im neunten Kapitel werde ich zeigen, dass Mechanismus und Idealismus Geschwister sind; Wissenschaft kann aber ohne den Begriff der lückenlosen Notwendigkeit nicht bestehen, und darum ist, wie selbst ein Renan zugeben muss: "jeder semitische Monotheismus von Hause aus ein Gegner aller physischen Wissenschaft".4) Das Judentum, sowie das unter römischem Einfluss entwickelte Christentum postulieren als Grunddogma die un- beschränkte schöpferische Willkür; daher der Antagonismus und der nie endende Kampf zwischen Kirche und Wissenschaft; bei den Indern bestand er nicht; den Germanen ist er nur künstlich aufgenötigt worden.5) Ebenso bedeutend ist die Thatsache, dass für die alten Germanen -- genau so wie bei den Indern und Griechen -- die sitt- liche Betrachtung sich nicht in die Frage nach Gut und Böse zu- 1) Geschichte der deutschen Sprache, 2. Aufl., S. iv und 550. 2) Vergl. S. 450. 3) A. a. O., 2. Auflage I, 191. Wozu man meine Ausführungen Kap. 3, S. 242 vergleichen möge. 4) Origines du Christianisme, VII, 638. 5) Siehe S. 407.
Der Kampf. Christentums entschieden«1) — Recht haben mag, dieses Christentumsich von dem des Völkerchaos von Hause aus wesentlich unter- scheidet. Es handelt sich gleichsam um Falten des Gehirns:2) was auch hineingelegt wird, es muss sich nach ihnen biegen und schmiegen. Gleichwie ein Boot, dem scheinbar einförmigen Elemente des Ozeans anvertraut, weit abweichende Wege wandern wird, je nachdem der eine Strom oder der andere es ergreift, ebenso legen dieselben Ideen in verschiedenen Köpfen verschiedene Bahnen zurück und geraten unter Himmelsstriche, die wenig Gemeinsames miteinander haben. Wie un- endlich bedeutungsvoll ist z. B. bei den alten Germanen der Glaube an ein »allgemeines, unabänderliches, vorausbestimmtes und voraus- bestimmendes Schicksal«.3) Schon in dieser einen, allen Indoeuropäern gemeinsamen »Hirnfalte« liegt — vielleicht neben manchem Aber- glauben — die Gewähr einer reichen geistigen Entwickelung nach den verschiedensten Richtungen und auf genau bestimmten Wegen. In der Richtung des Idealismus wird der Glaube an ein Schicksal mit Natur- notwendigkeit zu einer Religion der Gnade führen, in der Richtung der Empirie zu streng induktiver Wissenschaft. Denn streng empirische Wissenschaft ist nicht, wie häufig behauptet wird, eine geborene Feindin aller Religion, noch weniger der Lehre Christi; sie hätte sich, wie wir sahen, mit Origenes vortrefflich vertragen, und im neunten Kapitel werde ich zeigen, dass Mechanismus und Idealismus Geschwister sind; Wissenschaft kann aber ohne den Begriff der lückenlosen Notwendigkeit nicht bestehen, und darum ist, wie selbst ein Renan zugeben muss: »jeder semitische Monotheismus von Hause aus ein Gegner aller physischen Wissenschaft«.4) Das Judentum, sowie das unter römischem Einfluss entwickelte Christentum postulieren als Grunddogma die un- beschränkte schöpferische Willkür; daher der Antagonismus und der nie endende Kampf zwischen Kirche und Wissenschaft; bei den Indern bestand er nicht; den Germanen ist er nur künstlich aufgenötigt worden.5) Ebenso bedeutend ist die Thatsache, dass für die alten Germanen — genau so wie bei den Indern und Griechen — die sitt- liche Betrachtung sich nicht in die Frage nach Gut und Böse zu- 1) Geschichte der deutschen Sprache, 2. Aufl., S. iv und 550. 2) Vergl. S. 450. 3) A. a. O., 2. Auflage I, 191. Wozu man meine Ausführungen Kap. 3, S. 242 vergleichen möge. 4) Origines du Christianisme, VII, 638. 5) Siehe S. 407.
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Der Kampf.
Christentums entschieden« 1) — Recht haben mag, dieses Christentum
sich von dem des Völkerchaos von Hause aus wesentlich unter-
scheidet. Es handelt sich gleichsam um Falten des Gehirns: 2) was auch
hineingelegt wird, es muss sich nach ihnen biegen und schmiegen.
Gleichwie ein Boot, dem scheinbar einförmigen Elemente des Ozeans
anvertraut, weit abweichende Wege wandern wird, je nachdem der
eine Strom oder der andere es ergreift, ebenso legen dieselben Ideen in
verschiedenen Köpfen verschiedene Bahnen zurück und geraten unter
Himmelsstriche, die wenig Gemeinsames miteinander haben. Wie un-
endlich bedeutungsvoll ist z. B. bei den alten Germanen der Glaube
an ein »allgemeines, unabänderliches, vorausbestimmtes und voraus-
bestimmendes Schicksal«. 3) Schon in dieser einen, allen Indoeuropäern
gemeinsamen »Hirnfalte« liegt — vielleicht neben manchem Aber-
glauben — die Gewähr einer reichen geistigen Entwickelung nach den
verschiedensten Richtungen und auf genau bestimmten Wegen. In der
Richtung des Idealismus wird der Glaube an ein Schicksal mit Natur-
notwendigkeit zu einer Religion der Gnade führen, in der Richtung
der Empirie zu streng induktiver Wissenschaft. Denn streng empirische
Wissenschaft ist nicht, wie häufig behauptet wird, eine geborene Feindin
aller Religion, noch weniger der Lehre Christi; sie hätte sich, wie wir
sahen, mit Origenes vortrefflich vertragen, und im neunten Kapitel
werde ich zeigen, dass Mechanismus und Idealismus Geschwister sind;
Wissenschaft kann aber ohne den Begriff der lückenlosen Notwendigkeit
nicht bestehen, und darum ist, wie selbst ein Renan zugeben muss:
»jeder semitische Monotheismus von Hause aus ein Gegner aller
physischen Wissenschaft«. 4) Das Judentum, sowie das unter römischem
Einfluss entwickelte Christentum postulieren als Grunddogma die un-
beschränkte schöpferische Willkür; daher der Antagonismus und der
nie endende Kampf zwischen Kirche und Wissenschaft; bei den Indern
bestand er nicht; den Germanen ist er nur künstlich aufgenötigt
worden. 5) Ebenso bedeutend ist die Thatsache, dass für die alten
Germanen — genau so wie bei den Indern und Griechen — die sitt-
liche Betrachtung sich nicht in die Frage nach Gut und Böse zu-
1) Geschichte der deutschen Sprache, 2. Aufl., S. iv und 550.
2) Vergl. S. 450.
3) A. a. O., 2. Auflage I, 191. Wozu man meine Ausführungen Kap. 3,
S. 242 vergleichen möge.
4) Origines du Christianisme, VII, 638.
5) Siehe S. 407.
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