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Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899.

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Staat.
mochte er sonst auch denken und beabsichtigen was er wollte, ge-
nötigt war sich zu richten. Auch ist die übliche Lehre, hier habe
eine Entwickelung stattgefunden, der kirchliche Ehrgeiz sei nach und
nach immer umfassender geworden, nicht wohlbegründet, nicht
wenigstens in dem heutigen flachen Verstand, wonach durch Evolution
aus einem X ein U wird; eine Entfaltung hat es gegeben, ein An-
schmiegen an Zeitverhältnisse u. s. w., doch handelte Karl der Grosse
nach genau denselben Prinzipien wie Theodosius und stand Pius IX.
auf genau demselben Boden wie Bonifaz VIII. Weit weniger noch
postuliere ich ein bewusstes Erstreben nationaler Bildungen. Die spät-
römische Idee einer Universaltheokratie konnte allenfalls von ausserordent-
lichen Männern bis ins Einzelne ausgedacht werden, denn sie beruhte auf
einem vorhandenen Imperium, an das sie unmittelbar anknüpfte und auf
der festgegründeten jüdischen Theokratie, aus der sie sich lückenlos her-
leitete; wie sollte man dagegen an ein Frankreich, ein Deutschland,
ein Spanien gedacht haben, ehe sie da waren? Hier handelte es sich
um schöpferische Neubildungen, die auch heute Sprossen treiben und
noch ferner treiben werden, solange es Leben giebt. Unter unseren
Augen finden Verschiebungen des Nationalbewusstseins statt, und noch
jetzt können wir das Nationalitäten bildende Prinzip überall am Werke
betrachten, wo der sogenannte Partikularismus sich regt: wenn der Bayer
den Preussen nicht leiden mag und der Schwabe mit einer gelinden
Geringschätzung auf Beide herabblickt, wenn der Schotte von "seinen
Landsleuten" spricht, um sie vom Engländer zu unterscheiden, und
der Einwohner von Massachusetts den Yankee vom Staate New-York
als ein nicht ganz so vollendetes Wesen wie er selber ist, betrachtet,
wenn örtliche Sitte, örtlicher Brauch, unausrottbare, durch keine Gesetz-
gebung ganz zu tilgende örtliche Rechtsgewohnheiten einen Gau vom
anderen scheiden -- -- -- so haben wir in allen diesen Dingen
Symptome eines lebendigen Individualismus zu erblicken, Symptome
der Fähigkeit eines Volkes, sich seiner Eigenart im Gegensatz zu der
Anderer bewusst zu werden, der Fähigkeit zu organischer Neubildung.
Schüfe der Gang der Geschichte die äusseren Bedingungen dazu, wir
Germanen brächten noch ein Dutzend neue, charakteristisch unter-
schiedene Nationen hervor. In Frankreich wurde inzwischen diese
schöpferische Beanlagung durch die fortschreitende "Romanisierung"
geschwächt, ausserdem durch den Fuss des rohen Korsen fast ganz
zertreten; in Russland ist sie infolge des Vorwaltens untergeordneten,
ungermanischen Blutes verschwunden, trotzdem früher unsere echten

Staat.
mochte er sonst auch denken und beabsichtigen was er wollte, ge-
nötigt war sich zu richten. Auch ist die übliche Lehre, hier habe
eine Entwickelung stattgefunden, der kirchliche Ehrgeiz sei nach und
nach immer umfassender geworden, nicht wohlbegründet, nicht
wenigstens in dem heutigen flachen Verstand, wonach durch Evolution
aus einem X ein U wird; eine Entfaltung hat es gegeben, ein An-
schmiegen an Zeitverhältnisse u. s. w., doch handelte Karl der Grosse
nach genau denselben Prinzipien wie Theodosius und stand Pius IX.
auf genau demselben Boden wie Bonifaz VIII. Weit weniger noch
postuliere ich ein bewusstes Erstreben nationaler Bildungen. Die spät-
römische Idee einer Universaltheokratie konnte allenfalls von ausserordent-
lichen Männern bis ins Einzelne ausgedacht werden, denn sie beruhte auf
einem vorhandenen Imperium, an das sie unmittelbar anknüpfte und auf
der festgegründeten jüdischen Theokratie, aus der sie sich lückenlos her-
leitete; wie sollte man dagegen an ein Frankreich, ein Deutschland,
ein Spanien gedacht haben, ehe sie da waren? Hier handelte es sich
um schöpferische Neubildungen, die auch heute Sprossen treiben und
noch ferner treiben werden, solange es Leben giebt. Unter unseren
Augen finden Verschiebungen des Nationalbewusstseins statt, und noch
jetzt können wir das Nationalitäten bildende Prinzip überall am Werke
betrachten, wo der sogenannte Partikularismus sich regt: wenn der Bayer
den Preussen nicht leiden mag und der Schwabe mit einer gelinden
Geringschätzung auf Beide herabblickt, wenn der Schotte von »seinen
Landsleuten« spricht, um sie vom Engländer zu unterscheiden, und
der Einwohner von Massachusetts den Yankee vom Staate New-York
als ein nicht ganz so vollendetes Wesen wie er selber ist, betrachtet,
wenn örtliche Sitte, örtlicher Brauch, unausrottbare, durch keine Gesetz-
gebung ganz zu tilgende örtliche Rechtsgewohnheiten einen Gau vom
anderen scheiden — — — so haben wir in allen diesen Dingen
Symptome eines lebendigen Individualismus zu erblicken, Symptome
der Fähigkeit eines Volkes, sich seiner Eigenart im Gegensatz zu der
Anderer bewusst zu werden, der Fähigkeit zu organischer Neubildung.
Schüfe der Gang der Geschichte die äusseren Bedingungen dazu, wir
Germanen brächten noch ein Dutzend neue, charakteristisch unter-
schiedene Nationen hervor. In Frankreich wurde inzwischen diese
schöpferische Beanlagung durch die fortschreitende »Romanisierung«
geschwächt, ausserdem durch den Fuss des rohen Korsen fast ganz
zertreten; in Russland ist sie infolge des Vorwaltens untergeordneten,
ungermanischen Blutes verschwunden, trotzdem früher unsere echten

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[661/0140] Staat. mochte er sonst auch denken und beabsichtigen was er wollte, ge- nötigt war sich zu richten. Auch ist die übliche Lehre, hier habe eine Entwickelung stattgefunden, der kirchliche Ehrgeiz sei nach und nach immer umfassender geworden, nicht wohlbegründet, nicht wenigstens in dem heutigen flachen Verstand, wonach durch Evolution aus einem X ein U wird; eine Entfaltung hat es gegeben, ein An- schmiegen an Zeitverhältnisse u. s. w., doch handelte Karl der Grosse nach genau denselben Prinzipien wie Theodosius und stand Pius IX. auf genau demselben Boden wie Bonifaz VIII. Weit weniger noch postuliere ich ein bewusstes Erstreben nationaler Bildungen. Die spät- römische Idee einer Universaltheokratie konnte allenfalls von ausserordent- lichen Männern bis ins Einzelne ausgedacht werden, denn sie beruhte auf einem vorhandenen Imperium, an das sie unmittelbar anknüpfte und auf der festgegründeten jüdischen Theokratie, aus der sie sich lückenlos her- leitete; wie sollte man dagegen an ein Frankreich, ein Deutschland, ein Spanien gedacht haben, ehe sie da waren? Hier handelte es sich um schöpferische Neubildungen, die auch heute Sprossen treiben und noch ferner treiben werden, solange es Leben giebt. Unter unseren Augen finden Verschiebungen des Nationalbewusstseins statt, und noch jetzt können wir das Nationalitäten bildende Prinzip überall am Werke betrachten, wo der sogenannte Partikularismus sich regt: wenn der Bayer den Preussen nicht leiden mag und der Schwabe mit einer gelinden Geringschätzung auf Beide herabblickt, wenn der Schotte von »seinen Landsleuten« spricht, um sie vom Engländer zu unterscheiden, und der Einwohner von Massachusetts den Yankee vom Staate New-York als ein nicht ganz so vollendetes Wesen wie er selber ist, betrachtet, wenn örtliche Sitte, örtlicher Brauch, unausrottbare, durch keine Gesetz- gebung ganz zu tilgende örtliche Rechtsgewohnheiten einen Gau vom anderen scheiden — — — so haben wir in allen diesen Dingen Symptome eines lebendigen Individualismus zu erblicken, Symptome der Fähigkeit eines Volkes, sich seiner Eigenart im Gegensatz zu der Anderer bewusst zu werden, der Fähigkeit zu organischer Neubildung. Schüfe der Gang der Geschichte die äusseren Bedingungen dazu, wir Germanen brächten noch ein Dutzend neue, charakteristisch unter- schiedene Nationen hervor. In Frankreich wurde inzwischen diese schöpferische Beanlagung durch die fortschreitende »Romanisierung« geschwächt, ausserdem durch den Fuss des rohen Korsen fast ganz zertreten; in Russland ist sie infolge des Vorwaltens untergeordneten, ungermanischen Blutes verschwunden, trotzdem früher unsere echten

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Zitationshilfe: Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899, S. 661. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen02_1899/140>, abgerufen am 21.11.2024.