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Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899.

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Staat.
blosser Spott, und doch musste er ihn so teuer bezahlen, dass heute,
am Schlusse des 19. Jahrhunderts, sein Nachfolger der einzige Monarch
Europa's ist, der nicht an der Spitze einer Nation, sondern eines un-
gestalteten Menschenhaufens steht. Wogegen der mächtigste moderne
Staat dort entstand, wo die antirömische Tendenz einen so unzwei-
deutigen Ausdruck gefunden hatte, dass man behaupten darf: "der
dynastische und der protestantische Gedanke durchdringen einander so,
dass sie kaum unterschieden werden können".1) Inzwischen war eben
die Losung ausgegeben worden, die da lautete: weder Kaiser noch
Papst, sondern Nationen.

In Wahrheit jedoch ist dieser Kampf noch heute nicht beendet;
denn wenn auch das Prinzip der Nationen siegte, die Macht, welche
das entgegengesetzte Prinzip vertritt, hat nie entwaffnet, ist heute
in gewissen Beziehungen stärker als je, verfügt über eine weit besser
disziplinierte, mehr bedingungslos unterworfene Beamtenschar als in
irgend einem früheren Jahrhundert, und wartet nur auf die Stunde,
wo sie rücksichtslos hervortreten kann. Ich habe nie verstanden,
warum gebildete Katholiken sich bemühen, die Thatsache zu leugnen,
oder hinweg zu deuten, dass die römische Kirche nicht allein eine
Religion, sondern auch ein weltliches Regierungssystem ist, und dass die
Kirche als Vertreterin Gottes auf Erden eo ipso in allen Dingen dieser
Welt unbeschränkte Herrschaft beanspruchen darf und allezeit bean-
sprucht hat. Wie kann man das glauben, was die römische Kirche
als Wahrheit lehrt und trotzdem von einer Selbstständigkeit der welt-
lichen Gewalt faseln -- wie das, um nur ein Beispiel aus beliebig
vielen zu nennen, Professor Phillips in seinem Lehrbuch des Kirchen-
rechts,
§ 297, thut, wo er doch in demselben Paragraphen auf der
vorangehenden Seite ausgeführt hat: "Es ist nicht Sache des Staates,
zu bestimmen, welche Rechte der Kirche zustehen, noch die Aus-
übung derselben von seiner Genehmigung abhängig zu machen"?
Wenn aber der Staat die Rechte der Kirche nicht bestimmt, so folgt
daraus mit unwidersprechlich logischer Notwendigkeit, dass die Kirche
die Rechte des Staates bestimmt. Und was hier mit einer verblüffenden
"wissenschaftlichen" Naivetät geschieht, wird in hundert anderen
Büchern und in immer erneuten Beteuerungen hochgestellter Prälaten
wiederholt und die Kirche als ein in staatlichen Dingen unwissendes,
unschuldiges Lamm hingestellt -- was ohne systematische Unterdrückung

1) Ranke: Genesis des preussischen Staates, Ausg. 1874, S. 174.

Staat.
blosser Spott, und doch musste er ihn so teuer bezahlen, dass heute,
am Schlusse des 19. Jahrhunderts, sein Nachfolger der einzige Monarch
Europa’s ist, der nicht an der Spitze einer Nation, sondern eines un-
gestalteten Menschenhaufens steht. Wogegen der mächtigste moderne
Staat dort entstand, wo die antirömische Tendenz einen so unzwei-
deutigen Ausdruck gefunden hatte, dass man behaupten darf: »der
dynastische und der protestantische Gedanke durchdringen einander so,
dass sie kaum unterschieden werden können«.1) Inzwischen war eben
die Losung ausgegeben worden, die da lautete: weder Kaiser noch
Papst, sondern Nationen.

In Wahrheit jedoch ist dieser Kampf noch heute nicht beendet;
denn wenn auch das Prinzip der Nationen siegte, die Macht, welche
das entgegengesetzte Prinzip vertritt, hat nie entwaffnet, ist heute
in gewissen Beziehungen stärker als je, verfügt über eine weit besser
disziplinierte, mehr bedingungslos unterworfene Beamtenschar als in
irgend einem früheren Jahrhundert, und wartet nur auf die Stunde,
wo sie rücksichtslos hervortreten kann. Ich habe nie verstanden,
warum gebildete Katholiken sich bemühen, die Thatsache zu leugnen,
oder hinweg zu deuten, dass die römische Kirche nicht allein eine
Religion, sondern auch ein weltliches Regierungssystem ist, und dass die
Kirche als Vertreterin Gottes auf Erden eo ipso in allen Dingen dieser
Welt unbeschränkte Herrschaft beanspruchen darf und allezeit bean-
sprucht hat. Wie kann man das glauben, was die römische Kirche
als Wahrheit lehrt und trotzdem von einer Selbstständigkeit der welt-
lichen Gewalt faseln — wie das, um nur ein Beispiel aus beliebig
vielen zu nennen, Professor Phillips in seinem Lehrbuch des Kirchen-
rechts,
§ 297, thut, wo er doch in demselben Paragraphen auf der
vorangehenden Seite ausgeführt hat: »Es ist nicht Sache des Staates,
zu bestimmen, welche Rechte der Kirche zustehen, noch die Aus-
übung derselben von seiner Genehmigung abhängig zu machen«?
Wenn aber der Staat die Rechte der Kirche nicht bestimmt, so folgt
daraus mit unwidersprechlich logischer Notwendigkeit, dass die Kirche
die Rechte des Staates bestimmt. Und was hier mit einer verblüffenden
»wissenschaftlichen« Naivetät geschieht, wird in hundert anderen
Büchern und in immer erneuten Beteuerungen hochgestellter Prälaten
wiederholt und die Kirche als ein in staatlichen Dingen unwissendes,
unschuldiges Lamm hingestellt — was ohne systematische Unterdrückung

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[669/0148] Staat. blosser Spott, und doch musste er ihn so teuer bezahlen, dass heute, am Schlusse des 19. Jahrhunderts, sein Nachfolger der einzige Monarch Europa’s ist, der nicht an der Spitze einer Nation, sondern eines un- gestalteten Menschenhaufens steht. Wogegen der mächtigste moderne Staat dort entstand, wo die antirömische Tendenz einen so unzwei- deutigen Ausdruck gefunden hatte, dass man behaupten darf: »der dynastische und der protestantische Gedanke durchdringen einander so, dass sie kaum unterschieden werden können«. 1) Inzwischen war eben die Losung ausgegeben worden, die da lautete: weder Kaiser noch Papst, sondern Nationen. In Wahrheit jedoch ist dieser Kampf noch heute nicht beendet; denn wenn auch das Prinzip der Nationen siegte, die Macht, welche das entgegengesetzte Prinzip vertritt, hat nie entwaffnet, ist heute in gewissen Beziehungen stärker als je, verfügt über eine weit besser disziplinierte, mehr bedingungslos unterworfene Beamtenschar als in irgend einem früheren Jahrhundert, und wartet nur auf die Stunde, wo sie rücksichtslos hervortreten kann. Ich habe nie verstanden, warum gebildete Katholiken sich bemühen, die Thatsache zu leugnen, oder hinweg zu deuten, dass die römische Kirche nicht allein eine Religion, sondern auch ein weltliches Regierungssystem ist, und dass die Kirche als Vertreterin Gottes auf Erden eo ipso in allen Dingen dieser Welt unbeschränkte Herrschaft beanspruchen darf und allezeit bean- sprucht hat. Wie kann man das glauben, was die römische Kirche als Wahrheit lehrt und trotzdem von einer Selbstständigkeit der welt- lichen Gewalt faseln — wie das, um nur ein Beispiel aus beliebig vielen zu nennen, Professor Phillips in seinem Lehrbuch des Kirchen- rechts, § 297, thut, wo er doch in demselben Paragraphen auf der vorangehenden Seite ausgeführt hat: »Es ist nicht Sache des Staates, zu bestimmen, welche Rechte der Kirche zustehen, noch die Aus- übung derselben von seiner Genehmigung abhängig zu machen«? Wenn aber der Staat die Rechte der Kirche nicht bestimmt, so folgt daraus mit unwidersprechlich logischer Notwendigkeit, dass die Kirche die Rechte des Staates bestimmt. Und was hier mit einer verblüffenden »wissenschaftlichen« Naivetät geschieht, wird in hundert anderen Büchern und in immer erneuten Beteuerungen hochgestellter Prälaten wiederholt und die Kirche als ein in staatlichen Dingen unwissendes, unschuldiges Lamm hingestellt — was ohne systematische Unterdrückung 1) Ranke: Genesis des preussischen Staates, Ausg. 1874, S. 174.

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Zitationshilfe: Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899, S. 669. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen02_1899/148>, abgerufen am 21.11.2024.