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Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899.

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Staat.
Im Grenzenlosen sich zu finden,
Wird gern der Einzelne verschwinden,
Da lös't sich aller Überdruss;
Statt heissem Wünschen, wildem Wollen,
Statt läst'gem Fordern, strengem Sollen,
Sich aufzugeben ist Genuss.

Was wir nun von jenen nationenbildenden Germanen der früheren Jahr-
hunderte lernen können, ist, dass es einen höheren Genuss giebt als sich
aufzugeben, und zwar den, sich zu behaupten. Eine bewusste nationale
Politik, eine Wirtschaftsbewegung, eine Wissenschaft, eine Kunst -- das
Alles gab es damals kaum oder gar nicht; doch, was wir um das 13. Jahr-
hundert herum aufdämmern sehen, dieses frisch pulsierende Leben auf
allen Gebieten, diese schöpferische Kraft, dieses "läst'ge Fordern" indi-
vidueller Freiheit, war nicht vom Himmel gefallen, vielmehr war der
Same in den dunklen vorangegangenen Jahrhunderten gesäet worden:
das "wilde Wollen" hatte den Boden aufgeackert, das "heisse Wünschen"
die zarten Keime gepflegt. Unsere germanische Kultur ist eine Frucht
der Arbeit und des Schmerzes und des Glaubens -- nicht eines kirch-
lichen, wohl aber eines religiösen Glaubens. Blättern wir liebevoll in
jenen Annalen unserer Altvordern, die so wenig und doch so viel
berichten, nichts wird uns so auffallen wie das fast unglaublich
stark entwickelte Pflichtgefühl; für die schlechteste Sache, wie für die
beste, schenkt Jeder fraglos sein Leben. Von Karl dem Grossen an,
der nach überbeschäftigten Tagen die Nächte mit mühsamen Schreib-
übungen zubringt, bis zu jenem prächtigen Schmiedegesellen, der dem
Gegner Rom's keine Handschellen anschmieden wollte: überall das
"strenge Sollen". Haben diese Männer gewusst, was sie wollten?
Das glaube ich kaum. Sie haben aber gewusst, was sie nicht wollten,
und das ist der Anfang aller praktischen Weisheit.1) So z. B. hat Karl der

1) Ich kann mich nicht entbrechen, hier einen unendlich tiefen politischen
Ausspruch Richard Wagner's anzuführen: "Wir dürfen nur wissen, was wir nicht
wollen, so erreichen wir aus unwillkürlicher Naturnotwendigkeit ganz sicher das,
was wir wollen, das uns eben erst ganz deutlich und bewusst wird, wenn wir es
erreicht haben: denn der Zustand, in dem wir das, was wir nicht wollen, beseitigt
haben, ist eben derjenige, in welchem wir ankommen wollten. So handelt das
Volk, und deshalb handelt es einzig richtig. Ihr haltet es aber deshalb für un-
fähig, weil es nicht wisse, was es wolle: was wisset nun aber ihr? Könnt ihr
etwas anderes denken und begreifen, als das wirklich Vorhandene, also Erreichte?
Staat.
Im Grenzenlosen sich zu finden,
Wird gern der Einzelne verschwinden,
Da lös’t sich aller Überdruss;
Statt heissem Wünschen, wildem Wollen,
Statt läst’gem Fordern, strengem Sollen,
Sich aufzugeben ist Genuss.

Was wir nun von jenen nationenbildenden Germanen der früheren Jahr-
hunderte lernen können, ist, dass es einen höheren Genuss giebt als sich
aufzugeben, und zwar den, sich zu behaupten. Eine bewusste nationale
Politik, eine Wirtschaftsbewegung, eine Wissenschaft, eine Kunst — das
Alles gab es damals kaum oder gar nicht; doch, was wir um das 13. Jahr-
hundert herum aufdämmern sehen, dieses frisch pulsierende Leben auf
allen Gebieten, diese schöpferische Kraft, dieses »läst’ge Fordern« indi-
vidueller Freiheit, war nicht vom Himmel gefallen, vielmehr war der
Same in den dunklen vorangegangenen Jahrhunderten gesäet worden:
das »wilde Wollen« hatte den Boden aufgeackert, das »heisse Wünschen«
die zarten Keime gepflegt. Unsere germanische Kultur ist eine Frucht
der Arbeit und des Schmerzes und des Glaubens — nicht eines kirch-
lichen, wohl aber eines religiösen Glaubens. Blättern wir liebevoll in
jenen Annalen unserer Altvordern, die so wenig und doch so viel
berichten, nichts wird uns so auffallen wie das fast unglaublich
stark entwickelte Pflichtgefühl; für die schlechteste Sache, wie für die
beste, schenkt Jeder fraglos sein Leben. Von Karl dem Grossen an,
der nach überbeschäftigten Tagen die Nächte mit mühsamen Schreib-
übungen zubringt, bis zu jenem prächtigen Schmiedegesellen, der dem
Gegner Rom’s keine Handschellen anschmieden wollte: überall das
»strenge Sollen«. Haben diese Männer gewusst, was sie wollten?
Das glaube ich kaum. Sie haben aber gewusst, was sie nicht wollten,
und das ist der Anfang aller praktischen Weisheit.1) So z. B. hat Karl der

1) Ich kann mich nicht entbrechen, hier einen unendlich tiefen politischen
Ausspruch Richard Wagner’s anzuführen: »Wir dürfen nur wissen, was wir nicht
wollen, so erreichen wir aus unwillkürlicher Naturnotwendigkeit ganz sicher das,
was wir wollen, das uns eben erst ganz deutlich und bewusst wird, wenn wir es
erreicht haben: denn der Zustand, in dem wir das, was wir nicht wollen, beseitigt
haben, ist eben derjenige, in welchem wir ankommen wollten. So handelt das
Volk, und deshalb handelt es einzig richtig. Ihr haltet es aber deshalb für un-
fähig, weil es nicht wisse, was es wolle: was wisset nun aber ihr? Könnt ihr
etwas anderes denken und begreifen, als das wirklich Vorhandene, also Erreichte?
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[685/0164] Staat. Im Grenzenlosen sich zu finden, Wird gern der Einzelne verschwinden, Da lös’t sich aller Überdruss; Statt heissem Wünschen, wildem Wollen, Statt läst’gem Fordern, strengem Sollen, Sich aufzugeben ist Genuss. Was wir nun von jenen nationenbildenden Germanen der früheren Jahr- hunderte lernen können, ist, dass es einen höheren Genuss giebt als sich aufzugeben, und zwar den, sich zu behaupten. Eine bewusste nationale Politik, eine Wirtschaftsbewegung, eine Wissenschaft, eine Kunst — das Alles gab es damals kaum oder gar nicht; doch, was wir um das 13. Jahr- hundert herum aufdämmern sehen, dieses frisch pulsierende Leben auf allen Gebieten, diese schöpferische Kraft, dieses »läst’ge Fordern« indi- vidueller Freiheit, war nicht vom Himmel gefallen, vielmehr war der Same in den dunklen vorangegangenen Jahrhunderten gesäet worden: das »wilde Wollen« hatte den Boden aufgeackert, das »heisse Wünschen« die zarten Keime gepflegt. Unsere germanische Kultur ist eine Frucht der Arbeit und des Schmerzes und des Glaubens — nicht eines kirch- lichen, wohl aber eines religiösen Glaubens. Blättern wir liebevoll in jenen Annalen unserer Altvordern, die so wenig und doch so viel berichten, nichts wird uns so auffallen wie das fast unglaublich stark entwickelte Pflichtgefühl; für die schlechteste Sache, wie für die beste, schenkt Jeder fraglos sein Leben. Von Karl dem Grossen an, der nach überbeschäftigten Tagen die Nächte mit mühsamen Schreib- übungen zubringt, bis zu jenem prächtigen Schmiedegesellen, der dem Gegner Rom’s keine Handschellen anschmieden wollte: überall das »strenge Sollen«. Haben diese Männer gewusst, was sie wollten? Das glaube ich kaum. Sie haben aber gewusst, was sie nicht wollten, und das ist der Anfang aller praktischen Weisheit. 1) So z. B. hat Karl der 1) Ich kann mich nicht entbrechen, hier einen unendlich tiefen politischen Ausspruch Richard Wagner’s anzuführen: »Wir dürfen nur wissen, was wir nicht wollen, so erreichen wir aus unwillkürlicher Naturnotwendigkeit ganz sicher das, was wir wollen, das uns eben erst ganz deutlich und bewusst wird, wenn wir es erreicht haben: denn der Zustand, in dem wir das, was wir nicht wollen, beseitigt haben, ist eben derjenige, in welchem wir ankommen wollten. So handelt das Volk, und deshalb handelt es einzig richtig. Ihr haltet es aber deshalb für un- fähig, weil es nicht wisse, was es wolle: was wisset nun aber ihr? Könnt ihr etwas anderes denken und begreifen, als das wirklich Vorhandene, also Erreichte?

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Zitationshilfe: Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899, S. 685. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen02_1899/164>, abgerufen am 21.11.2024.