Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899.Der Kampf. der Kontrast zwischen der früheren reinen Anarchie und der ge-mässigten Anarchie unserer Zeit auffallend genug, um den prinzipiellen Unterschied scharf hervortreten zu lassen. Den Höhepunkt erreichte die politische Anarchie wohl im 9. Jahrhundert; man vergleiche mit ihm das 19., und man wird zugeben müssen: trotz unserer Revolutionen und blutigen Reaktionen, trotz Tyrannei und Königsmord, trotz des ununterbrochenen Gährens hier und dort, trotz der Verschiebungen des Besitzstandes verhielt sich unser Säculum zu jenem wie der Tag zur Nacht. In diesem Abschnitt handelt es sich um jene Zeit, wo es fast 1) Augustinus sah das recht wohl ein und gesteht ausdrücklich (De civitate Dei XVI, 9): wenn die Welt rund ist und Menschen leben an den Antipoden, "deren Füsse den unseren entgegengesetzt sind", Menschen, durch Oceane von uns getrennt, deren Entwickelung ausserhalb unserer Geschichte vor sich geht, dann hat die heilige Schrift "gelogen". Augustinus muss eben als wahrhaftiger Mann gestehen, dass dann der Heilsplan, wie ihn die Kirche lehrt, sich als durchaus unzureichend erweist und darum eilt er zu dem Schlusse: die Annahme solcher Antipoden und unbekannter Menschenrassen sei absurd, nimis absurdum est. Was hätte er erst bei der Feststellung des heliozentrischen Systems gesagt, sowie bei der Entdeckung, dass ungezählte Millionen von Welten sich im Raume bewegen? 2) So z. B. ist die arme Schweiz im Begriff, einer der reichsten Industrie-
staaten zu werden, da sie ihre ungeheure Menge Wasserkraft fast kostenlos in Elektricität umwandeln kann. Der Kampf. der Kontrast zwischen der früheren reinen Anarchie und der ge-mässigten Anarchie unserer Zeit auffallend genug, um den prinzipiellen Unterschied scharf hervortreten zu lassen. Den Höhepunkt erreichte die politische Anarchie wohl im 9. Jahrhundert; man vergleiche mit ihm das 19., und man wird zugeben müssen: trotz unserer Revolutionen und blutigen Reaktionen, trotz Tyrannei und Königsmord, trotz des ununterbrochenen Gährens hier und dort, trotz der Verschiebungen des Besitzstandes verhielt sich unser Säculum zu jenem wie der Tag zur Nacht. In diesem Abschnitt handelt es sich um jene Zeit, wo es fast 1) Augustinus sah das recht wohl ein und gesteht ausdrücklich (De civitate Dei XVI, 9): wenn die Welt rund ist und Menschen leben an den Antipoden, »deren Füsse den unseren entgegengesetzt sind«, Menschen, durch Oceane von uns getrennt, deren Entwickelung ausserhalb unserer Geschichte vor sich geht, dann hat die heilige Schrift »gelogen«. Augustinus muss eben als wahrhaftiger Mann gestehen, dass dann der Heilsplan, wie ihn die Kirche lehrt, sich als durchaus unzureichend erweist und darum eilt er zu dem Schlusse: die Annahme solcher Antipoden und unbekannter Menschenrassen sei absurd, nimis absurdum est. Was hätte er erst bei der Feststellung des heliozentrischen Systems gesagt, sowie bei der Entdeckung, dass ungezählte Millionen von Welten sich im Raume bewegen? 2) So z. B. ist die arme Schweiz im Begriff, einer der reichsten Industrie-
staaten zu werden, da sie ihre ungeheure Menge Wasserkraft fast kostenlos in Elektricität umwandeln kann. <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div type="preface" n="2"> <p><pb facs="#f0017" n="538"/><fw place="top" type="header">Der Kampf.</fw><lb/> der Kontrast zwischen der früheren reinen Anarchie und der ge-<lb/> mässigten Anarchie unserer Zeit auffallend genug, um den prinzipiellen<lb/> Unterschied scharf hervortreten zu lassen. Den Höhepunkt erreichte<lb/> die politische Anarchie wohl im 9. Jahrhundert; man vergleiche mit<lb/> ihm das 19., und man wird zugeben müssen: trotz unserer Revolutionen<lb/> und blutigen Reaktionen, trotz Tyrannei und Königsmord, trotz des<lb/> ununterbrochenen Gährens hier und dort, trotz der Verschiebungen<lb/> des Besitzstandes verhielt sich unser Säculum zu jenem wie der Tag<lb/> zur Nacht.</p><lb/> <p>In diesem Abschnitt handelt es sich um jene Zeit, wo es fast<lb/> einzig Kampf gab. Später, sobald nämlich Kultur dämmerte, findet<lb/> eine Verschiebung des Schwerpunktes statt; zwar dauert der äussere<lb/> Kampf noch fort und mancher brave Geschichtsforscher erblickt auch<lb/> ferner nur Päpste und Könige, Fürsten und Bischöfe, Adel und Innungen,<lb/> Schlachten und Verträge; doch steht fortan neben diesen eine neue,<lb/> unüberwindliche Gewalt, welche den Geist der Menschheit ummodelt,<lb/> ohne dass jene anarchische Kraft-Moral bei ihr zur Anwendung käme;<lb/> ohne zu kämpfen, siegt sie. Die Summe von Geistesarbeit, welche<lb/> zur Entdeckung des heliozentrischen Weltsystems führte, hat das<lb/> Fundament, auf welchem die kirchliche Theologie und damit zugleich<lb/> die kirchliche Gewalt ruhte, ein für allemal unterminiert — wie lang-<lb/> sam und allmählich sich das auch herausstellen mag;<note place="foot" n="1)">Augustinus sah das recht wohl ein und gesteht ausdrücklich <hi rendition="#i">(De civitate<lb/> Dei</hi> XVI, 9): wenn die Welt rund ist und Menschen leben an den Antipoden,<lb/> »deren Füsse den unseren entgegengesetzt sind«, Menschen, durch Oceane von uns<lb/> getrennt, deren Entwickelung ausserhalb unserer Geschichte vor sich geht, dann<lb/> hat die heilige Schrift »gelogen«. Augustinus muss eben als wahrhaftiger Mann<lb/> gestehen, dass dann der Heilsplan, wie ihn die Kirche lehrt, sich als durchaus<lb/> unzureichend erweist und darum eilt er zu dem Schlusse: die Annahme solcher<lb/> Antipoden und unbekannter Menschenrassen sei absurd, <hi rendition="#i">nimis absurdum est.</hi> Was<lb/> hätte er erst bei der Feststellung des heliozentrischen Systems gesagt, sowie bei<lb/> der Entdeckung, dass ungezählte Millionen von Welten sich im Raume bewegen?</note> die Einführung<lb/> des Papiers und die Erfindung des Druckes haben das Denken zu einer<lb/> Weltmacht erhoben; aus dem Schosse der reinen Wissenschaft gehen<lb/> jene Entdeckungen hervor, welche, wie Dampf und Elektricität, das<lb/> Leben der gesamten Menschheit und auch die rein materiellen Kraft-<lb/> verhältnisse der Völker vollkommen umwandeln;<note place="foot" n="2)">So z. B. ist die arme Schweiz im Begriff, einer der reichsten Industrie-<lb/> staaten zu werden, da sie ihre ungeheure Menge Wasserkraft fast kostenlos in<lb/> Elektricität umwandeln kann.</note> der Einfluss der<lb/></p> </div> </div> </body> </text> </TEI> [538/0017]
Der Kampf.
der Kontrast zwischen der früheren reinen Anarchie und der ge-
mässigten Anarchie unserer Zeit auffallend genug, um den prinzipiellen
Unterschied scharf hervortreten zu lassen. Den Höhepunkt erreichte
die politische Anarchie wohl im 9. Jahrhundert; man vergleiche mit
ihm das 19., und man wird zugeben müssen: trotz unserer Revolutionen
und blutigen Reaktionen, trotz Tyrannei und Königsmord, trotz des
ununterbrochenen Gährens hier und dort, trotz der Verschiebungen
des Besitzstandes verhielt sich unser Säculum zu jenem wie der Tag
zur Nacht.
In diesem Abschnitt handelt es sich um jene Zeit, wo es fast
einzig Kampf gab. Später, sobald nämlich Kultur dämmerte, findet
eine Verschiebung des Schwerpunktes statt; zwar dauert der äussere
Kampf noch fort und mancher brave Geschichtsforscher erblickt auch
ferner nur Päpste und Könige, Fürsten und Bischöfe, Adel und Innungen,
Schlachten und Verträge; doch steht fortan neben diesen eine neue,
unüberwindliche Gewalt, welche den Geist der Menschheit ummodelt,
ohne dass jene anarchische Kraft-Moral bei ihr zur Anwendung käme;
ohne zu kämpfen, siegt sie. Die Summe von Geistesarbeit, welche
zur Entdeckung des heliozentrischen Weltsystems führte, hat das
Fundament, auf welchem die kirchliche Theologie und damit zugleich
die kirchliche Gewalt ruhte, ein für allemal unterminiert — wie lang-
sam und allmählich sich das auch herausstellen mag; 1) die Einführung
des Papiers und die Erfindung des Druckes haben das Denken zu einer
Weltmacht erhoben; aus dem Schosse der reinen Wissenschaft gehen
jene Entdeckungen hervor, welche, wie Dampf und Elektricität, das
Leben der gesamten Menschheit und auch die rein materiellen Kraft-
verhältnisse der Völker vollkommen umwandeln; 2) der Einfluss der
1) Augustinus sah das recht wohl ein und gesteht ausdrücklich (De civitate
Dei XVI, 9): wenn die Welt rund ist und Menschen leben an den Antipoden,
»deren Füsse den unseren entgegengesetzt sind«, Menschen, durch Oceane von uns
getrennt, deren Entwickelung ausserhalb unserer Geschichte vor sich geht, dann
hat die heilige Schrift »gelogen«. Augustinus muss eben als wahrhaftiger Mann
gestehen, dass dann der Heilsplan, wie ihn die Kirche lehrt, sich als durchaus
unzureichend erweist und darum eilt er zu dem Schlusse: die Annahme solcher
Antipoden und unbekannter Menschenrassen sei absurd, nimis absurdum est. Was
hätte er erst bei der Feststellung des heliozentrischen Systems gesagt, sowie bei
der Entdeckung, dass ungezählte Millionen von Welten sich im Raume bewegen?
2) So z. B. ist die arme Schweiz im Begriff, einer der reichsten Industrie-
staaten zu werden, da sie ihre ungeheure Menge Wasserkraft fast kostenlos in
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